»Ich glaube nicht, dass es einer von Ihnen ist«, sagte Sutton und zog die Tür der Einsatzzentrale zu. »Ich muss es nur von Ihnen hören.«
»Natürlich nicht«, beteuerte Jamie Newton fast schon greinend. Schon der Gedanke empörte ihn, stellte Eva fest.
»Von uns redet keiner mit der Presse«, ergänzte Flynn. »Ist ja nicht so, als könnten wir die besonders gut leiden oder so.«
Sutton hob beschwichtigend die Hände. »Okay, ich weiß. Die von oben haben sich gemeldet; ich hab denen gesagt, dass es keiner von Ihnen war. Die Antwort war: ›Haben Sie sie denn gefragt?‹ Was ich hiermit erledigt habe, und jetzt kann ich die abblitzen lassen.« Sie lehnte sich an einen Schreibtisch und legte ihre Krücke darauf. »Also, wer zum Teufel war’s dann?«
»Es ist keiner von Moresbys Leuten«, erwiderte Raj. »Nicht einmal stockbesoffen. Das würden sie ihm nicht antun, und außerdem, können Sie sich vorstellen, dass ein Journalist versucht, einen von denen unter den Tisch zu trinken?«
»Da stehen ganz schön viele Details drin«, bemerkte Eva. »Sogar Un Chien Andalou wird erwähnt.«
»Das ist nicht alles, was die erwähnen«, gab Flynn zurück. »Was heißt denn: ›DI Harris, bekannt für ihre Verbindung zu einem bedeutenden und gewalttätigen Drogendealer in South East England‹?«
Eva ging darüber hinweg. »Das war bloß ein Einsatz. Schnee von gestern.«
Flynn schien nicht überzeugt, beließ es jedoch dabei.
Raj dagegen nicht. »Woher kenne ich den Namen Colin Lynch?«
Sie ging dorthin, wo er vor seinem Computer saß. Ihre Kopfhaut prickelte. Hatte Raj den Namen wirklich laut ausgesprochen? »Da steht was über ihn drin? Habe ich gar nicht gesehen.«
»Das ist ein Update«, antwortete Raj. »Die Website baut die Story immer weiter aus. Ist das üblich?«
Ungläubig starrte Eva auf den Bildschirm, als hätte Raj sich das nur ausgedacht. Hatte er aber nicht. Da stand es in der Online-Ausgabe der Zeitung, eindeutig: des bedeutenden Drogendealers Colin Lynch .
Sutton kam ebenfalls zu ihnen herübergehumpelt. »Ich dachte, Lynchs Name hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen«, flüsterte sie Eva ins Ohr.
»Hat er auch nicht«, erwiderte Eva. »Er ist Teil einer laufenden Ermittlung, das ist sicherheitsrelevant. Ich habe keine Ahnung, wie die da drangekommen sind.«
Als Sutton die Einsatzzentrale verlassen hatte, setzte Eva sich hin und las den Bericht noch einmal. Raj hatte recht. Er war aktualisiert worden, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Die Ermittlungen werden von DI Harris geleitet , stand da jetzt, die vor zwei Jahren bei einem Vorfall schwer verletzt wurde, an dem die Gang des bedeutenden Drogendealers Colin Lynch beteiligt war. Lynch galt als einer der mächtigsten Drogenhändler des Landes . Als Eva die letzte Ergänzung sah, schnappte sie nach Luft.
Lynch , führte der Artikel weiter aus, der später bei einem Zwischenfall mit einer rivalisierenden Gang ums Leben kam, konnte sich der Festnahme sein Leben lang entziehen. Die mangelnden polizeilichen Erfolge warfen ernsthafte Fragen hinsichtlich der Integrität etlicher mit dem Fall befasster Beamter auf, die bis heute unbeantwortet geblieben sind.
Wie erstarrt saß Eva da, unfähig, den Blick vom Bildschirm loszureißen. Zwei Gedanken gingen ihr durch den Kopf, schossen wie Meteore von irgendwo über ihr auf sie herab. Der erste war, dass dies eine Warnung sein musste. Irgendjemand wusste von den Ermittlungen gegen Semjon Razins Kontaktperson und schickte ihr eine Botschaft, indem er den Medien Informationen zuspielte. Der zweite war, dass Alastair Hadley Zustände kriegen würde.
Mit dem zweiten lag sie nicht falsch. Kaum eine Minute später brummte ihr Handy. Fünf Worte standen auf dem Display.
Rufen Sie mich sofort an.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Eva, noch ehe Hadley etwas sagen konnte. Sie stand in ihrem winzigen Büro und starrte auf die Straße hinunter. »Aber es war niemand von meinem Team. Das muss von Ihrer Seite gekommen sein, Sir.«
»Sie glauben, meine Leute sind nicht vertrauenswürdig?«, fauchte er sie an.
»Das habe ich nicht gesagt, Sir«, beharrte Eva, »aber hier wissen sie gar nichts über Lynch, es kann also keiner von ihnen gewesen sein.« Noch während sie das sagte, regte sich ein Zweifel in ihr. Raj hatte gesagt, dass ihm der Name vertraut vorkam. Oder war das nur ein Irrtum gewesen? Doch das war nichts, was sie Hadley mitteilen wollte. Sie musste ihm eine Rückzugsmöglichkeit anbieten, damit er sie nicht durch den Wolf drehte. »Sir, wäre es möglich, dass irgendeine dritte Partei von Lynch weiß? Eine, auf die wir bisher noch nicht gestoßen sind?«
Hadley schwieg sehr viel länger, als ihr lieb war. Kurz überlegte sie, ob er aufgelegt hatte, doch laut ihrem Handy waren sie immer noch verbunden. »Sind Sie sicher, dass das Ganze nichts mit Ihnen zu tun hat?«, blaffte er schließlich.
Du verschissener Drecksack, dachte Eva, immer musst du jemand anderem die Schuld geben. Doch ihr war klar, dass sie nichts zu ihm sagen konnte, das dem auch nur nahekam. »Das würde mir doch nichts nützen, Sir. Allerdings glaube ich, dass es eine Warnung ist. Jemand weiß, dass wir Razins Kontakt auf den Pelz rücken, und will, dass wir uns zurückhalten.«
»Tja, das könnte ja stimmen, wenn Sie wirklich weiterkommen würden«, grollte Hadley. »Aber so, wie ich das sehe, vergeuden Sie lediglich Zeit. Ich will Fortschritte sehen, Harris«, setzte er noch hinzu. »Und wenn es nicht bald welche gibt, dann finden Sie raus, wie es einem als Ex-Cop im Knast ergeht.«
Der nächste Anruf kam am Abend darauf um Viertel nach acht.
Eva beugte sich gerade über Jamie Newtons Schulter und ging die Berichte seiner Datenbankrecherche durch. Flynn saß an ihrem Schreibtisch und tippte Notizen in ihren Computer, und Raj Chakrabati ging einen Stapel Aussagen durch – das Resultat einer Befragung der Anwohner der beiden Tatorte. Eva war klar, dass sie sich dringend Martin Ward vornehmen musste, den letzten unzweifelhaft kriminellen Verdächtigen auf der Liste von damals. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob allein die Tatsache, dass Ward ein Drogendealer war, sich irgendwie vorteilhaft auf ihren Fall auswirken würde, doch ganz gleich, was dabei herauskam, sie musste diesen spezifischen Ansatz so bald wie möglich abschließen.
Sie blickte auf und sah, dass Rebecca Flynn sie wieder einmal beobachtete. Als Eva ihren Blick auffing, schaute sie rasch weg. Das machte sie schon den ganzen Tag so; Eva hatte keine Ahnung, wieso. Vielleicht hatte es etwas mit dem Artikel in der Online-Ausgabe der Lokalnachrichten zu tun. Was auch immer der Grund dafür war, allmählich ging es ihr auf die Nerven.
Das Telefon ganz vorn in der Einsatzzentrale klingelte. Sie empfand es als willkommene Ablenkung. Eva ging hin und nahm ab. Es war Moresby.
»Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen«, knurrte er. »Aber wir gehen in die dritte Runde.«
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen. Als sie verstand, musste sie sich auf den Schreibtisch stützen. »Was und wo?«
»Wir sind in Stoke d’Abernon«, antwortete Moresby. »Das ist gleich auf der anderen Seite von Cobham, ungefähr zehn Minuten Fahrt die Straße runter von da, wo Irina Stepanow umgebracht worden ist.«
»Wer ist das Opfer?« Flynn, Chakrabati und Newton blickten auf, als sie das sagte.
Eva hörte, wie Moresby tief Luft holte. »Macht’s Ihnen was aus, herzukommen, bevor wir darüber reden? Ich glaube, dieses Opfer hier sollten Sie sich zuerst selbst anschauen, ohne vorgefasste Meinung.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Inzwischen war ihr klar, dass Moresby auf gar keinen Fall irgendwelche Spielchen mit ihr spielen würde, es sei denn, er hielt es für absolut notwendig. Eva versuchte es mit einer anderen Frage. »Ist es genauso schlimm wie bei den beiden anderen?«
»O ja«, antwortete Moresby. »Ja, es ist genauso schlimm.«
Ein Dutzend Streifenwagen drängte sich an den offen stehenden Toren der Auffahrt; Blaulicht blitzte in der stillen Nachtluft. Wieder ein teures Haus, dachte Eva, als sie neben ihnen hielt, und vermutlich wieder ein reiches Opfer. Die Straße war mehrere Kilometer lang. Schmal und gewunden, begann sie vor dem Zentrum von Cobham und verlief größtenteils parallel zu der Straße, die schließlich nach Leatherhead hineinführte. Genau wie in St Jude’s Hill waren die Häuser hier alle neu und groß. In den meisten Auffahrten sah sie Sportwagen und SUV s.
»Wir sind hier im Fußballer-Land«, erklärte Jamie Newton. »Chelseas Trainingsgelände ist gleich die Straße runter, und viele von den Spielern wohnen in der Gegend.« Newton saß neben ihr; Flynn und Chakrabati waren ihr in Flynns Auto gefolgt. »Aber ich weiß nicht, wieso Moresby so kryptisch war«, fuhr Newton fort. »Das passt gar nicht zu ihm.«
Es hörte sich fast so an, als verteidigte er den Sergeant, dachte Eva. Das war doch gar nicht nötig. Eins war ihr über Will Moresby klar geworden, und zwar, dass er stets einen guten Grund für das hatte, was er tat. Der Gedanke deprimierte sie. Was immer er diesmal für einen Grund hatte, sie bezweifelte, dass er ihr gefallen würde.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, den Grund rauszufinden«, sagte sie zu Newton und stieg aus. Sie duckten sich unter dem Absperrband hindurch, das über die Auffahrt gespannt war. Flynn und Raj holten sie an der Haustür ein, wo Moresby persönlich Wache stand.
»In der Küche«, sagte er. »Judy Wren ist gerade gekommen, und die von der Spurensicherung sind noch am Aufbauen, also passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
»Geben Sie uns einen Hinweis, Will?«, erkundigte sich Flynn.
»Nö.« Moresbys Miene verriet ihnen, dass er das nicht zum Spaß sagte.
Eva ging voraus. Wren und ihr Spurensicherungsteam machten sich im Flur vor der Küche einsatzbereit. »Handschuhe und Überschuhe anziehen«, wies sie Eva und die anderen an, als diese näher traten. »Und ich muss Ihnen doch nicht sagen, dass Sie nichts anfassen sollen, oder? Und auch nicht an die Wände oder die Möbel kommen.«
Sie taten wie ihnen geheißen. Eva betrat die Küche und sah die Leiche. Nackt und an einen Stuhl gefesselt, fast genauso wie Irina Stepanow. Der offenkundige Unterschied war, dachte Eva, während sie langsam um den Leichnam herumging, dass es ein Mann war.
»Scheiße!«, keuchte Flynn, als sie hinter Eva eintrat. »Damit hab ich nicht gerechnet.«
Eva auch nicht. Der Mann sah aus, als wäre er etwa fünfzig. Grau meliertes, schütteres Haar, ein mäßiger Rettungsring um die Taille, bleiche, fast weiße Haut und Löcher, wo seine Augen hätten sein müssen.
»Der Name des Opfers ist Paul Markham«, verkündete Moresby von der Küchentür her. »Seine Frau hat ihn gefunden. Die Rettungshelfer haben sie sofort in die Notaufnahme gebracht. Das war kein Schock mehr, sie war schon eher katatonisch.«
»Wundert mich nicht«, meinte Flynn. Sie blickte kurz zu Eva hinüber, die nur dastehen und starren konnte.
Was bedeutete das für sie? Bei all den anderen Morden war ein sexuelles Motiv zumindest möglich gewesen, ganz gleich, wie bizarr und pervers das Ganze gewirkt hatte. Drei junge Mädchen, vor Jahren mit Schnitten verstümmelt, dann Stepanow und Swain, beide Mitte vierzig, aber beide nichtsdestotrotz attraktive Frauen. Wieder einmal versuchte sie, sich in ihren imaginären Trophäensammler hineinzuversetzen. Was die anderen Opfer betraf, gelang ihr das beinahe. Die hatten zumindest einen ästhetischen Aspekt gemeinsam, waren groß und schlank gewesen. Keine Riesenunterschiede, was Aussehen und Kleidung anging. Aber Markham? Markham war doch weit von allem entfernt, was ihrer Vorstellung nach für den vermummten Mörder attraktiv wäre, den sie in St Jude’s Hill gesehen hatte.
»Ich brauche alles, was wir über diesen Mann in Erfahrung bringen können«, sagte sie zu den anderen. »Bankauszüge, Immobilienbesitz, Aufsichtsratsposten, Namen der Angehörigen, Club-Mitgliedschaften, Online-Chatrooms, in denen er aktiv war, Pornoseiten, auf denen er gesurft hat, das volle Programm. Und dann dasselbe für Stepanow und Swain. Da muss es eine Verbindung geben«, fuhr sie fort, während sie den Leichnam anstarrte. »Irgendwo muss einfach eine sein.«