16. Kapitel

Licht explodierte hinter ihren Augen, als ihr Kopf gegen das Lenkrad knallte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, doch dann drang der Schmerz zu ihr durch, und sie hob den Kopf, sah, was auf sie zukam, und schrie abermals auf. Ein Auto hatte sie gerammt; jetzt blockierte es die äußerste Spur. Durch das geborstene Fenster des anderen Wagens konnte sie das Licht von Scheinwerfern sehen, die nicht schnell genug langsamer wurden.

Noch ein Aufprall. Das andere Auto krachte abermals gegen ihres. Ihr Kopf wurde durch die Wucht nach hinten gerissen, doch ehe sich ihre Halswirbelsäule verdrehen konnte, knallte er gegen die Kopfstütze. Eine Wand aus Scheinwerfern kam schlitternd zum Stehen. Autos kreuz und quer auf der Straße. Und einen Moment lang Stille.

Eva versuchte zu fokussieren. Sie konnte wenigstens zwei andere Fahrzeuge sehen, die miteinander kollidiert waren; eines war fast genauso ramponiert wie ihres. Etwas brannte in ihren Augen. Sie spürte ein Ziehen ganz tief unten im Bauch, als sie den Geruch wiedererkannte. Aus einem der Wagen lief Benzin aus.

Ihre Tür ließ sich nicht öffnen. Sie stemmte sich dagegen, doch sie gab nicht nach. Aber als sie auf den Knopf drückte, löste sich ihr Sicherheitsgurt. Sie kroch über den Beifahrersitz und fiel aus dem Autowrack auf die Straße.

Mühsam kam Eva auf die Beine. Die Welt drehte sich um sie, doch sie schaffte es, sich aufrecht zu halten. Jetzt konnte sie außer ihrem noch drei weitere ineinander verkeilte Autos sehen. Der Fahrer des mittleren hatte aussteigen können. »Fuck, was ist denn passiert?«, wollte er wissen.

Sie sind bei Nebel zu scheißschnell gefahren, hätte sie ihn am liebsten angebrüllt. Stattdessen log sie. »Ein Laster einer Gerüstbaufirma hat seine Ladung verloren.«

»Großer Gott«, stieß der Mann hervor. Und dann: »Ich rieche Benzin.«

Es kam von dem ersten Wagen, der sie gerammt hatte. Der Airbag war aufgegangen, doch der Fahrer rührte sich nicht. Eva taumelte auf ihn zu. Als sie den Wagen erreichte, sah sie einen Mann Mitte fünfzig, das Gesicht blutverschmiert. Eva zog an der Tür, doch sie ging nicht auf. »Helfen Sie mir!«, schrie sie den Mann aus dem mittleren Wagen an. Er zögerte, also brüllte sie noch einmal: »Sofort!«

Zusammen zerrten sie an der Tür, doch sie gab nicht nach. Eva beugte sich durch das kaputte Fenster und versuchte, den Sicherheitsgurt des Fahrers zu öffnen, doch sie kam nicht an die Schließe ran.

»Lassen Sie mich mal«, sagte der Mann, doch der teilweise erschlaffte Airbag behinderte ihn zu sehr. »Moment, ich hab ein Messer im Auto.« Er rannte zu seinem Fahrzeug zurück.

Warum?, überlegte Eva, doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt für diese Frage. Anscheinend versuchte der Mann, das Handschuhfach seines demolierten Wagens zu öffnen. Er zerrte und zog immer wieder daran.

Zuerst erkannte sie das Geräusch nicht. Es dauerte noch einen Moment, bevor ihr Verstand ein blassorangegelbes Flackern registrierte. Der Mann aus dem mittleren Auto hatte es vor ihr bemerkt. Sie sah, wie er ihr durch die Trümmer vor ihr wild zuwinkte. Er lebt noch, dachte sie, als in der Nähe des Tanks Flammen aufloderten. Er darf nicht sterben. Er hat den Aufprall überlebt. Er lebt noch.

Wieder versuchte sie, an die Gurtschließe heranzukommen. Jetzt konnte sie die Hitze fühlen. Der Rücksitz begann zu brennen. Beißender Rauch drang ihr in Augen und Kehle. Jemand brüllte, sie konnte nicht verstehen, was.

Eva bekam den Gurt nicht auf. Sie streckte sich über die Brust des Mannes und griff nach unten, doch etwas war ihrer Hand noch immer im Weg. Der Rauch erstickte sie fast. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, doch die Hitze der Flammen wurde allmählich schmerzhaft. Plötzlich fühlte sie einen Arm um ihre Taille, der an ihr zog. Sie versuchte zu verhindern, dass sie aus dem Fenster herausgezerrt wurde, doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie musste den Türrahmen loslassen. Als sie das tat, sah sie, wie der Mann auf dem Fahrersitz die Augen öffnete.

Der Fahrer des mittleren Wagens schleifte sie weg, doch sie hätte die Hitze auch nicht länger aushalten können. Gemeinsam sackten sie gegen die verbogene Leitplanke und sahen zu, wie Flammen das Autowrack verzehrten, beide die Hände fest auf die Ohren gepresst.

Corrine Sutton kam auf sie zugehumpelt. Ihre entsetzte Miene sagte alles. »Was zum Teufel ist passiert?«, verlangte sie zu wissen.

»Ich hatte einen Autounfall, Ma’am«, sagte Eva. Sie saß auf einer Trage in einer Kabine der Notaufnahme und zog ein Krankenhausnachthemd eng um sich. »Ich bin okay. Ein paar Beulen und blaue Flecke, aber wenn man’s recht bedenkt, bin ich noch ganz gut weggekommen.«

Sutton starrte sie an. »Sind Sie sicher, dass es ein Unfall war?«

Es gab Zeugen. Lügen hatte keinen Sinn. »Nein.«

»Also hat jemand versucht, Sie umzubringen?«

So viel war doch wohl scheißklar, dachte Eva. »Es scheint so.« Sutton wusste nichts davon, dass sie Razins Helfershelfer auf der Spur war, und sie durfte auch nichts davon wissen. Eva hatte keine Ahnung, wie sie die Quadratur dieses spezifischen Kreises bewerkstelligen sollte, doch zum Glück übernahm Sutton das selbst.

»Hat das was mit Colin Lynch zu tun?«

Es fühlte sich an, als sei ihr eine kleine Last von den Schultern genommen worden. »Ganz sicher kann ich’s nicht sagen«, log Eva. »Aber wahrscheinlich, ich nehme es an.«

Sutton starrte sie weiter an. »Dann sind seine Leute also immer noch hinter Ihnen her?«

Eva konnte nur die Schultern zucken.

Kurz darauf tauchten Flynn, Newton und Chakrabati am Vorhang der Kabine auf, alle mit schreckensbleichen Gesichtern. Newton machte Anstalten, etwas zu sagen, doch es war Flynn, die sie überraschte. Sie trat in die Kabine, schlang die Arme um Evas Hals und drückte sie so fest, dass Eva sie nach ungefähr einer Minute bitten musste aufzuhören.

»’tschuldigung«, nuschelte Flynn nach einer Weile, machte abrupt kehrt und verschwand. Eva, Newton und Chakrabati starrten einander in verblüfftem Schweigen an.

Sogar Alastair Hadley wirkte betroffen, als er ihr von blauen Flecken verunstaltetes Gesicht sah. »Hat der Arzt Sie gesundgeschrieben?«

Immer schön den eigenen Arsch absichern, dachte Eva im Stillen. »Ich weiß nicht, Sir, ich bin auf eigene Verantwortung gegangen. Komisch, irgendwie habe ich das Interesse an Krankenhäusern verloren.«

Sie hatten sich wieder auf dem Bahnhof getroffen, in der Nähe der üblichen Stelle. Der Nebel hielt sich noch immer. Nicht mehr so dicht, doch die Autoscheinwerfer bildeten noch blasse Lichtschemen, die sie wie Bugwellen vor sich herschoben. Straßenlaternen erwachten flackernd zum Leben und warfen ihr Licht auf eine weitere Dunstschicht, die in diffusen Schleiern über den vom Regen glänzenden Gehsteigen hing.

Hadley stutzte, als er ihren Tonfall hörte, doch ausnahmsweise verpasste er ihr keine verbale Abreibung. »Ich nehme an, es besteht kein Zweifel daran, dass das ein Anschlag auf Ihr Leben war?«

Eva zuckte mit keiner Wimper. »Nicht der geringste, Sir.«

Hadley setzte eine finstere Miene auf. »Ich akzeptiere ja, dass Sie aufgebracht sind.«

Sie gab sich alle Mühe, ihm nicht ins Gesicht zu brüllen. »Ich bin nicht aufgebracht, Sir. Ich bin scheißwütend!« Sein Gesicht verzerrte sich zornig, doch ehe er etwas sagen konnte, fuhr Eva fort: »Informationen über mich an Nachrichten-Websites durchzustechen, na schön, das hat mir natürlich nicht gefallen, aber es schien eine legitime Strategie zu sein. Ein Ablenkungsmanöver, irgendwie innerhalb der Einsatzregeln, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn der Typ einfach nur versucht hätte, mir auf der Schnellstraße Angst einzujagen, okay, das wäre wieder eine strategische Maßnahme gewesen, und damit hätte ich mich abfinden müssen. Hat er aber nicht. Stattdessen hat er irgendeinen leichtsinnigen Flachwichser geschickt, damit der versucht, mich plattzumachen, und hat dabei einen Mann verbrennen lassen, der zwei Kinder im Teenageralter hatte und dessen einziges Verbrechen darin bestand, ein mittelmäßiger Autofahrer zu sein. Ich muss also ehrlich zu Ihnen sein, Sir«, fauchte sie. »Bis jetzt hat mich dieser Fall nur interessiert, weil Sie mir im Nacken gesessen, mir Mordsdruck gemacht und mir gedroht haben. Aber jetzt ist das etwas Scheißpersönliches. Ab jetzt lasse ich es jederzeit drauf ankommen. Ich weiß, was das für ein Spiel ist und wie man es spielt. Aber dieses arme Schwein, das da schreiend krepiert ist, der hat einfach nur wegen des Nebels früher Feierabend gemacht. Darauf steht für mich nicht die Todesstrafe. Für so etwas muss man nicht sterben.«

»Sachte, Harris«, sagte Hadley. Einen Moment lang klang er fast mitfühlend.

»Bei allem Respekt, Sir, nein, Sir!«, brüllte Eva. »Die Zeit für sachte ist vorbei. Wir müssen Razin eine Botschaft schicken. Der muss richtig eins vor den Koffer kriegen. Wir müssen unsere Autorität in dieser verschissenen Grafschaft wiederherstellen. Wie schlagen wir zurück, Sir?«, verlangte sie zu wissen. »Wie mischen wir dieses Arschloch auf?«

Hadley starrte sie an. Einen Moment lang war er sprachlos. Sie rechnete damit, dass er auf sie losgehen würde, und war trotz ihrer Wut verblüfft, als er es nicht tat. »Sie könnten tatsächlich recht haben«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Razin agiert völlig ungestraft, und das muss aufhören. Er muss wissen, dass es Konsequenzen gibt. Wie machen wir das?«

Ihre Gedanken rasten. Sie hatte nicht zu glauben gewagt, dass er ihr zuhören würde, doch jetzt hatte es den Anschein, als wolle Hadley tatsächlich einen Vorschlag von ihr hören. »Es gibt da einen Pub in der einen Wohnsiedlung, der hat einen ganz miesen Ruf«, sagte sie. »Der Betreiber ist mutmaßlich in allen möglichen Scheiß involviert, aber komischerweise hat ihm nie jemand etwas nachweisen können. Kommt Ihnen das bekannt vor, Sir?«

»Bekannt und so, als ob es zum Profil passt«, stimmte Hadley ihr zu. »Denken Sie darüber nach, da mal vorbeizuschauen?«

»Ich würde gern mehr Beweise für eine Verbindung mit Razin finden, ja. Ich bräuchte einen Anlass dafür, den Laden auseinanderzunehmen. Ein Dutzend Kollegen in Uniform, die da in der Bar rumtrampeln, ich denke, das sollte eine klare Botschaft sein.«

Den Ausdruck, der jetzt auf seinem Gesicht lag, hatte sie noch nie gesehen. Hadley wirkte beinahe nachdenklich. »Was belastbare Beweise für eine Beziehung zu Razin betrifft, bin ich mit Ihnen einer Meinung, wir wollen diese Gelegenheit ja nicht vergeuden. Aber überlassen Sie das ruhig mir. Es gibt Leute, mit denen ich das besprechen kann.« Er meinte bestimmt Telefonwanzen und alle möglichen anderen elektronischen Überwachungstechniken. Fast hätte Eva geschaudert. Cowan hatte recht gehabt; Hadley war kein gewöhnlicher Polizeibeamter.

»Und die Razzia, Sir?«

»Damit bin ich prinzipiell auch einverstanden«, antwortete Hadley. »Wir müssen Razins Leute aufmischen, und zwar, ohne sie vorher zu warnen.« Ein Zug fuhr ein. Er wandte sich in Richtung Bahnsteig.

»Sir?«

»Überlassen Sie das mir«, sagte er. »Und natürlich zu niemandem ein Wort.«

»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Sie scheiße aussehen«, bemerkte Judy Wren mit deutlich mehr Schadenfreude, als Eva angebracht fand.

Finster blickte sie Wren an. »Sie haben wirklich ein gutes Herz.«

Wren lächelte. »Freut mich zu sehen, dass Sie sich davon nicht runterziehen lassen«, bemerkte sie vielsagend.

Eva legte den Kopf an die Lehne des Stuhls in Wrens Büro. »Jemand ist ums Leben gekommen. Ich weiß, es ist nicht meine Schuld, das weiß ich wirklich, aber jetzt ist jemand tot, weil jemand anderes versucht hat, mich umzubringen. Das ist in so vieler Hinsicht falsch, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«

»Ja«, meinte Wren. »Sutton denkt, es waren Lynchs Leute.«

»Scheint zu passen«, log Eva. Sie wollte Wren gern vertrauen, verdammt, sie vertraute Wren ja auch, doch ihr die Wahrheit zu sagen, wäre, als würde man die Beweiskette kompromittieren. Sie brauchte einen gleichen Wissensstand, innerhalb des Reviers und bei denen, die regelmäßig mit der Dienststelle zusammenarbeiteten, sonst könnte die Anklage gegen Razins Maulwurf vor Gericht scheitern, wenn es schließlich zum Prozess kam.

»Und wie fühlen Sie sich dabei?«, fragte Wren leise.

»Judy«, sagte Eva, »Sie schneiden Tote auf, Sie sind keine Psychiaterin. Wenn ich jemals zu Ihnen komme, um eine Psychoanalyse zu machen, dann habe ich definitiv ein heftiges Problem.«

Wren lachte ein leises dunkles Lachen und drehte einen Bildschirm zu ihr herum. Darauf war ein Autopsiebericht zu sehen. »Robert Isherwood«, verkündete sie.

»Robert Isherwood«, wiederholte Eva.

»Unglücklicherweise wollte die Familie des verblichenen Mr Isherwood eine Feuerbestattung, sonst würde ich sofort eine Exhumierung beantragen. Um es zusammenzufassen: Robert Isherwood hat auf der M3 irgendwo zwischen den Anschlussstellen M25 und Sunbury in seinem Mercedes-AMG GT Roadster mit an die hundertdreißig Sachen eine ziemlich spektakuläre Flugshow abgeliefert. Und das bei fast perfektem Wetter, ohne dass er telefoniert, unter Drogen- oder Alkoholeinfluss gestanden oder irgendwelche bekannten psychischen Erkrankungen gehabt hätte. Augenzeugen sagen, Isherwood hätte anscheinend ganz plötzlich die Kontrolle über den Wagen verloren, wäre in die Mittelleitplanke gekracht und durch die Luft geflogen, hätte sich überschlagen und wäre dann auf der Gegenfahrbahn unter einen Lastwagen geraten.«

Die Beschreibung kam ihr nach den kürzlichen Ereignissen beklemmend vertraut vor. Eva schauderte. Dann sah sie Wrens schlagartig forensischen Blick. »Alles gut«, versicherte sie ihr. »Weiter.«

»Eine schwierige Autopsie«, fuhr Wren fort, nachdem sie Eva einen Moment betrachtet hatte, »weil das Auto richtig zerquetscht war. Angekokelt war’s auch, aber nur ein bisschen. Das Benzin aus dem Tank hat sich auf der ganzen Autobahn verteilt und ist ziemlich schnell verbrannt. Isherwood war auf der Stelle tot, es hätte ihm also nichts ausgemacht.«

»Gott sei Dank!«

»Der Lastwagenfahrer war ziemlich schwer verletzt, hat sich aber wieder erholt. Jedenfalls, nachdem Drogen, Ablenkung und Depression ausgeschlossen waren, hat man sich auf technisches Versagen konzentriert, aber der Wagen war neu, mit Topausstattung und nach allem, was sich aus den Trümmern ersehen ließ, bestens in Schuss. Trotz des Aufpralls und der darauffolgenden Schäden war immer noch Luft auf den Reifen, und das Profil war vom Feinsten, ein Reifenplatzer war es also auch nicht. Um genau zu sein«, Wren zog eine Akte aus einem Stapel und klatschte sie vor Eva auf den Tisch, »wenn man dem Autopsie- und dem Werkstattbericht glauben kann, war es gar nichts. Offiziell hieß es: Fahrerfehler ohne ersichtlichen Grund.«

Eva musterte sie eingehend. »Aber Sie glauben das nicht?«

Wren demonstrierte mit aufgeblasenen Backen Ungläubigkeit. »Das wäre ein echt grober Fahrerfehler. Okay, er ist hundertdreißig gefahren, aber auf dieser Strecke fahren jede Menge Leute hundertdreißig. Da ist oft ziemlich wenig Verkehr, eigentlich erstaunlich, so nahe bei der M25. Ein langes, gerades Straßenstück. Aber plötzlich einfach so in die Leitplanke steuern? Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass Isherwood irgendeine Art Schock erlitten hat.«

Sie versuchte, sich die Situation vorzustellen. Dass sie hinter dem Lenkrad saß, dass irgendetwas sie aus der Fassung brachte und sie deshalb die Mittelleitplanke rammte. »Das müsste aber ein verdammt heftiger Schock gewesen sein. Ein Insektenstich? War er gegen irgendwas allergisch?«

»In der Akte seines Hausarztes steht nichts davon. Einen anaphylaktischen Schock hätte man anhand der toxikologischen Untersuchung feststellen können, und außerdem ist so etwas eine Sache von Minuten, nicht von Sekunden. Er hätte es noch bis auf den Seitenstreifen geschafft.«

Eva wedelte mit den Händen. »Was dann?«

Wren schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ihres delikaten Zustandes wegen erspare ich Ihnen die Details, aber es genügt wohl zu sagen, dass Robert Isherwood den Lastwagen mit solcher Wucht geknutscht hat, dass es da nicht mehr viele Anhaltspunkte gab. Allerdings ist dem Pathologen trotz der massiven Schädelverletzungen etwas aufgefallen, was ihm ein bisschen ungewöhnlich erschien. Er hat Plastikfragmente in Isherwoods Augen gefunden.«

Eva überlegte einen Moment lang. »Seine intraokulären Linsen sind bei dem Aufprall zersplittert?«

»Das scheint am wahrscheinlichsten zu sein, nicht wahr?«, meinte Wren. »Es war ja auch eine Mordskollision. Wenn er harte Kontaktlinsen getragen hätte, wäre wahrscheinlich dasselbe passiert.« Sie zuckte leicht die Achseln. »Viele Studien gibt’s zu dieser speziellen Verletzungskombination nicht gerade.«

Eva blickte ins Leere und versuchte abermals, sich die Situation vorzustellen. »Und wenn nun etwas mit seinen Augen war und er plötzlich nichts mehr sehen konnte? Würde das ausreichen, um die Kontrolle über das Auto zu verlieren?«

»Wie, so als ob einem bei hundertdreißig Sachen eine Kontaktlinse rausfällt? Ich kenne ein paar Leute, die beim Autofahren eine Linse verloren haben. Die sind alle noch am Leben und können sich darüber echauffieren.«

»Also hätte es etwas viel, viel Schlimmeres sein müssen.«

Wren drehte den Bildschirm wieder zu sich herum. »Wahrscheinlich werden wir’s nie erfahren«, gab sie zu.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Eva. »Jemand hat mir seinen Namen aufs Handy geschickt. Ich glaube, jemand weiß bereits, was Robert Isherwood zugestoßen ist, wahrscheinlich jemand vom Chatham Centre. Wir müssen herausfinden, wer das ist und wieso Isherwood ums Leben gekommen ist. Und wenn wir das wissen«, fügte sie hinzu, während sie sich erhob, um zu gehen, »wissen wir wohl auch, warum Stepanow, Swain und Markham ermordet worden sind.«

Eva stand vor dem Whiteboard in der Einsatzzentrale, auf dem immer noch der blaue Strich zu sehen war, den sie damals gezeichnet hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Entlang der Linie hatten Flynn, Newton und Chakrabati ihre eigenen Notizen gekritzelt. Finanzielles Motiv , las sie, verlassener Geliebter , Eifersucht , Rache und ein halbes Dutzend weiterer potenzieller Motive. Eva betrachtete sie eine Zeit lang, dann wischte sie alles weg, bis nur noch die beiden Enden des Strichs übrig waren. Sie malte Kreise um die Wörter »Psychopath« und »rationales Motiv«. Unter »Psychopath« schrieb sie: Khan, Gibson, Russell, Lloyd , und unter »rationales Motiv«: Stepanow, Swain, Markham .

Eva trat von dem Whiteboard zurück und starrte es eine Weile an. Dann schrieb sie unter Markhams Namen: Robert Isherwood?

In ihrem Büro klappte sie ihren Laptop auf und sah sich eine Liste an, die zu einer anderen Untersuchung gehörte. Namen von Individuen, die am wenigsten dafür infrage kamen, Informationen an Semjon Razin weiterzugeben. Es war keine vollständige Liste, und sie hatte sie allein per Elimination erstellt. Die Leichtigkeit, mit der Martin Ward auf Kaution freigekommen war, hatte sie überzeugt, dass Hadley richtiglag. Irgendjemand zog hier Fäden. Wahrscheinlich mehr als eine Person.

Eva saß vor ihrem Laptop und trommelte langsam mit den Fingern auf den Schreibtisch, während der graue Himmel draußen vor dem Fenster allmählich schwarz wurde. Wenn ich Razins Mann wäre, dachte sie und hielt dann inne. Cowan hatte recht. Die Versuchung, dabei an Gangster und Dealer aus der Gegend zu denken, war unbestreitbar da, doch Razin war um Größenordnungen anspruchsvoller. Wenn ich Razins Operationen hier leiten würde, dachte sie und starrte dabei auf die Liste, wenn ich für dieses Franchise verantwortlich wäre, welche Spielfiguren würde ich auf dem Brett haben wollen? Ein ranghoher Polizeibeamter wäre von Vorteil. Sie hatte mehrere Kandidaten zur Auswahl, doch mehr als Indizienbeweise verband keinen von ihnen mit der Organisation. Und ein paar Leute aus der mittleren Führungsebene. Moresby wäre ein fantastischer Kandidat, aber Moresby schien unbestechlich zu sein. Außerdem hatte sie nachweisen können, dass er sich bei einer ganzen Anzahl signifikanter Vorfälle nicht in der Grafschaft aufgehalten hatte. Intuitiv glaubte sie nicht, dass es Moresby sein könnte, und auch ihre Indizienbeweise deuteten darauf hin, dass er nichts damit zu tun hatte.

Und niederes Fußvolk, dachte sie, wie Arbeiterameisen. Labortechniker, Constables, Officers, die in der Asservatenkammer arbeiten. Eine Handvoll Leute, hier und dort verstreut, in jeder Position, die irgendetwas mit Beweisprozessen und Beweisverwahrung zu tun hat.

Es würde eine Struktur geben, eine Hierarchie. Vielleicht wie in Spionagezellen im Kalten Krieg oder wie bei einer Undercover-Einheit und noch enger miteinander verwoben. So oder so, Razin konnte sich so die Polizei auf Armlänge vom Leib halten und munter seinen Geschäften nachgehen.

Aber du hast einen Fehler gemacht, dachte Eva. Du hättest jemanden schicken sollen, der mich warnt, aber stattdessen hat jemand versucht, mich umzubringen. War das Absicht? Hast du das befohlen oder einfach nur irgendeinen Vollpfosten mit dem Job betraut? Die Antwort war nicht wichtig. Was wichtig war, war der Tote in dem ausgebrannten Auto und eine trauernde Familie – und ein Bedürfnis nach Vergeltung, das wie ein Tumor in ihrem Innern wuchs. Sie verachtete Hadley. Sie verabscheute ihn mit jeder Zelle ihres Körpers, weil sie wusste, dass er ein rachsüchtiger Dreckskerl war. Aber diesmal, dachte Eva, während sie das Fenster mit der Liste auf dem Bildschirm schloss, kann ich mir das zunutze machen.

Sie wusste nicht, was Hadley plante. Doch sie war verdammt sicher, dass es Razins Leute aufhorchen lassen würde.

Um elf war sie wieder in ihrer Wohnung, ein Fertiggericht aus der Mikrowelle in der einen und eine Flasche Bier in der anderen Hand. Ein anderer Bildschirm. Diesmal der Laptop, an den der Grafikprozessor angeschlossen war. Die Zahl auf diesem Bildschirm war im zehnstelligen Milliardenbereich angelangt. Die Anzahl der Permutationen möglicher Passwörter, die der Computer bis jetzt durchprobiert hatte. Sie wusste, dass es noch Milliarden weitere geben würde, doch allmählich bekam sie ein Gefühl für die Größe und Form des Codes, nach dem sie suchte. Der Prozessor würde ihn knacken, dessen war sie sich jetzt sicher. Es war nur eine Frage der Zeit.

Das ist für dich, Dom, dachte sie, als sie dem Bildschirm mit dem Bier zuprostete. Ich kriege ihn dran, für dich. Das Bild von Dominic Bradley blitzte in ihrem Kopf auf. Vielleicht war es das Bier, vielleicht der verspätete Schock, doch in diesem Moment wurde ihr von Neuem klar, dass sie vollkommen allein war.

Eva stellte die Flasche weg, krümmte sich mitten im Wohnzimmer in Embryonalhaltung zusammen und weinte sich in den Schlaf.