17. Kapitel

Am folgenden Morgen trug sich Eva in die Besucherliste des Archivs ein. Sie hatte eine auf ein Stück Papier gekritzelte Liste und eine geöffnete Notiz auf dem Handydisplay dabei. »Ich suche nach Unterlagen aus der Zeit der damaligen Fälle«, erklärte sie dem diensthabenden Officer, der vor der verschlossenen Tür saß.

Der Mann, über fünfzig, mit beginnender Glatze und übergewichtig, runzelte die Stirn. »Ich dachte, Ihr Team hätte schon alles abgeholt?«

»Sie haben alles abgeholt, was direkt damit zu tun hat«, erwiderte Eva in ihrem ruhigsten, professionellsten Tonfall. »Aber ich interessiere mich für alles, was um die Zeit passiert ist. Im Moment möchte ich nichts ausschließen.«

Er hatte keinen Grund, Einspruch zu erheben, und selbst wenn er es getan hätte, hätte Eva darauf keine Rücksicht nehmen müssen. Doch sie musste plausibel klingen; sie wollte es nicht an die große Glocke hängen, dass sie in den Akten stöberte. Das Ganze musste wie reine Routine aussehen. Tat es anscheinend auch, denn der Officer nickte und öffnete die Tür.

Sie trat in einen gleichmäßig erleuchteten Raum ohne Fenster. Das leise Brummen einer älteren Klimaanlage erfüllte die Luft. Regale, in denen sich Aktenboxen stapelten, ragten vom Boden bis zur Decke, mit schmalen Gängen dazwischen. Meistens reichten die Akten sieben Jahre zurück; diese Zeitspanne hatte sich als am nützlichsten erwiesen. Sie wusste, dass Akten, die noch älter waren, anderswo gelagert waren, in einem sicheren Lagerraum eines Subunternehmens namens Iron Cave, das auch magnetische Aufzeichnungen für Wirtschaftsunternehmen und andere Behörden verwahrte. Wenn sie etwas brauchte, das älter als sieben Jahre war, konnte sie eine Datenbank durchsuchen, eine Anfrage an Iron Cave schicken, und die Akten würden innerhalb eines halben Tages per Kurier bei ihr eintreffen, das wusste Eva.

Sie schaute auf ihr Handy und begann zu suchen. Hadley hatte schließlich eine Liste mit Fällen herausgerückt, deren Ausgang er für verdächtig hielt, und auf den ersten Blick musste sie ihm widerstrebend zustimmen. Weniger widerstrebend als früher. Die Drohung, die Razin darstellte, war durchaus real, das wusste sie jetzt ganz sicher.

Auf ihrem Zettel hatte sie sich elf Fälle notiert. Bei fast allen ging es um Drogen, bei einigen jedoch waren Schutzgelder, Gewalt und Prostitution im Spiel. Sie ging die Unterlagen zu den einzelnen Fällen chronologisch durch, begann mit einem Drogenfall, der fast fünf Jahre zurücklag. Anders als Ward war der Verdächtige damals ein großer Fisch gewesen, jemand, der seine Ware über internationale Kanäle bezog und vertrieb. Ein hiesiger DI , der nicht länger in der Dienststelle war, hatte Monate damit verbracht, Informationen zu sammeln und Gründe für eine Razzia bei dem Betreffenden zusammenzutragen. Evas Augenbrauen hoben sich ein wenig, als sie die Adresse des Verdächtigen sah. Ein Haus in St Jude’s Hill. Ein Durchsuchungsbeschluss war erwirkt und ein Team zusammengestellt worden, und sie hatten sich im Morgengrauen vor dem Grundstück versammelt. Doch als die Tür mit der Ramme aufgebrochen worden war und Polizisten ins Haus strömten, hatten sie es leer vorgefunden. Sogar die Möbel waren weg gewesen, sah Eva; sie waren am Abend zuvor in Möbelwagen geladen und davongekarrt worden.

Wie zum Teufel bewerkstelligte jemand so etwas, ohne dass er lange im Voraus gewarnt und die Observation manipuliert worden war? Sie überprüfte die Namen derer, die direkt mit diesem Fall zu tun gehabt hatten, doch aller Wahrscheinlichkeit nach hatte jemand von außerhalb die Operation sabotiert. Eva glich die Namen der ranghohen Polizeibeamten mit denen auf Hadleys Verdächtigen-Liste ab. Tatsächlich, es gab ein halbes Dutzend Übereinstimmungen. Aber nicht Sutton, stellte sie fest, als sie sich den nächsten Fall vornahm. Sutton war damals noch nicht hier gewesen.

Anderthalb Stunden später saß sie neben einem Stapel Aktenkisten auf dem Boden und lehnte sich an die Wand des Archivraums. Irgendwann war sie noch einmal zu ihrem Schreibtisch geeilt, um sich einen Notizblock und einen Stift zu holen. Jetzt hatte sie seitenweise Diagramme und gekritzelte Listen, die nur für sie verständlich waren.

Ein Diagramm machte ihr ganz besonders zu schaffen. Es bestand aus einem Zeitstrahl und einer Art Entscheidungsbaum und umfasste ein grobes Netzwerk aus Verbindungen, das sie hastig zu Papier gebracht hatte. Es war der Versuch, Verknüpfungen zwischen drei separaten Fällen mit weiteren gescheiterten Drogenrazzien zu verstehen. Bei jedem Fall war es das Informationslevel von Razins Leuten, das auffiel. Entweder waren Infos ganz kurz vor dem eigentlichen Polizeieinsatz weitergegeben worden, oder jemand sehr Ranghohes hatte sie von spezifischen Ermittlungen wissen lassen, noch bevor die jeweiligen Teams angefangen hatten, die Einsätze zu planen. Kein Wunder, dass seine Leute nie geschnappt werden, dachte sie, während sie ihre fast unleserlichen Kritzeleien anstarrte. Er weiß, dass wir kommen, noch bevor wir’s selbst wissen.

Was bedeutete das für sie? Hatte ein Officer auf dem Revier jemanden geschickt, um sie zu töten, ober hatte der oder die Betreffende nur Informationen an Razins Organisation hier in der Gegend weitergegeben? Sie dachte an die Gesichter, denen sie jeden Tag begegnete, auf den Fluren und in der Kantine. Wollte einer von denen wirklich ihren Tod?

Hier war nicht genug zu holen, entschied Eva nach einer weiteren halben Stunde, jedenfalls nicht genug, um einen Schluss daraus ziehen oder mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, aber das hatte sie eigentlich auch gar nicht erwartet. Sie hatte eine Tabelle auf ihrem Handy. Eine Datei mit den Namen von fünfzehn Personen, die sie und Hadley für potenziell verdächtig hielten. Eine davon könnte Razins Informant sein, dachte sie, als sie sich die Liste ansah. Mit dem Daumen verschob sie die Namen, ordnete sie dem Rang nach, dann markierte sie die zuunterst stehenden Namen und färbte sie blau ein. Cool, sollte das heißen, unwahrscheinlich wegen des niedrigen Dienstgrades. Dann kam Gelb und darüber Rot.

Ihre rote Hotlist enthielt nunmehr sieben Namen. Sie schauderte, als sie an den Schaden dachte, den jede dieser ranghohen Personen anrichten könnte, wenn er oder sie in Razins Diensten stand.

Wenn er oder sie es wirklich darauf anlegte.

Hadley schickte ihr an diesem Nachmittag eine Nachricht von einem E-Mail-Konto. Was diese Location angeht, hatten Sie recht , schrieb er. Eine eindeutige Verbindung , fügte er kryptisch hinzu, doch sie wusste genau, was er meinte. Ich habe für heute Abend einen Besuch organisiert. Eva runzelte die Stirn. Sie hatte nichts davon gehört, dass irgendwelche Einsätze geplant waren. Niemand aus Kingston , schrieb Hadley. Ich will vermeiden, dass sie gewarnt sind. Ich habe ein anderes Team am Start. Seien Sie um 18:00 zur Vorbesprechung an dieser Adresse. Es folgte die genaue Ortsangabe.

Eva sah auf die Uhr ihres Handys; das war in gut zwei Stunden. Sie hatte noch jede Menge Zeit.

»Gehen Sie nach Hause, und ziehen Sie sich um«, wies Hadley sie an. »Jeans, T-Shirt, etwas Bequemes, falls es rundgeht, aber auffällig.«

Wieder legte sie die Stirn in Falten. »Warum?«, schrieb sie zurück.

Er antwortete sofort. »Sie sind der Köder.«

Um zehn Uhr fiel an diesem Abend ein leichter Nieselregen von einem einheitlich dunkelvioletten Himmel. Sie parkte ihren Ersatzwagen außer Sichtweite und ging zwischen Betontürmen hindurch zu einem Pub mit einem merkwürdigen Namen und einer Fassade im Pseudo-Tudorstil am Rand der Wohnsiedlung. »The Cross and Dragon«, verkündete das Schild über der Tür in gotischen Lettern rund um ein seltsames Bild des heiligen Georg herum, der tatsächlich auf einem fliegenden Drachen ritt. Der Laden sah verdammt zwielichtig aus, dachte Eva, als sie auf die Tür zuschlenderte, aber das lag wohl daran, dass er zwielichtig war.

Doch Hadley hatte seine Hausaufgaben gemacht. Ein Sergeant namens Walker leitete das Team. Bei der Einsatzbesprechung in einer Sporthalle in der Nähe hatte Walker die Überwachungsergebnisse präsentiert, die Hadleys andere Kontakte angeblich gesammelt hatten. Hadley war nirgends zu entdecken, doch Eva wusste, dass er zusehen würde. Beim Zuhören spürte sie, wie sich ihre Kopfhaut zusammenzog. Das meiste war Bockmist. Vieles war erfunden oder reine Spekulation, und alles zielte darauf ab, die Razzia zu rechtfertigen. Doch irgendwo im Hintergrund hatte Hadley tatsächlich die grundlegenden Fakten verifiziert. Razins Leute benutzten den Pub. Der Laden wurde geschützt und verdiente es, auf den Kopf gestellt zu werden. Wie er das zu tun geplant hatte, bestärkte sie lediglich in ihrer Einschätzung, dass er kein Mensch war, mit dem man sich leichtfertig anlegen sollte, sosehr sie ihn auch hassen mochte.

Neben der Eingangstür hingen Poster, die jemand entworfen und dann in Schwarz und ein paar Neonfarben gedruckt hatte, um die Kosten zu deckeln. Die hatte Eva bereits an ein paar anderen Stellen in der Stadt gesehen. Die meisten kündigten Poledance-Shows und Metal-Bands an, ein paar auch Stand-up-Comedians mit »Humor für Erwachsene«. Schauen wir doch mal, ob wir heute Abend den einen oder anderen Lacher kriegen, dachte Eva und stieß die Tür auf.

Das Erste, was sie hörte, war eine E-Gitarre, die jemand zu erwürgen versuchte. An einem Ende des Raums, in dem ungefähr hundert Tische standen, rockte eine Tribute-Band auf einer niedrigen Bühne. Vier Männer, alle mit langen Bärten, Sonnenbrillen, langem grauem Haar und nietenbesetzten Lederjacken, hämmerten ein Medley aus beliebten Rocksongs des letzten Jahrhunderts herunter. Die einzelnen Songs waren gerade eben noch wiederzuerkennen. Neben ihnen wetteiferten zwei Pole-Tänzerinnen nur mit Pailletten-Stringtangas bekleidet um die Aufmerksamkeit des Publikums. Ohne Erfolg, stellte Eva fest.

An den meisten Tischen hockten betrunkene Grüppchen, die mehr Interesse daran hatten, noch ein Bier zu kippen, als daran zuzusehen, wie zwei fast nackte Frauen miteinander herumhampelten. Gerade schob eine der Frauen die Hand vorn in den Tanga der anderen. Eva überlegte, was wohl beschämender war. Sich so auf der Bühne zu entblößen, während man simulierte, die andere zu befriedigen, oder dabei glatt ignoriert zu werden. Während sie dem Treiben zusah, kam eine stark übergewichtige Frau durch eine Tür an der Rückseite des Pubs gestürmt und zwängte sich zu einem Tisch durch, wo sie drei sturzbetrunkenen Kerlen und einer wachsamen Frau große Tüten mit frisch frittierten Pommes hinstellte. Gejohle ertönte. Fritten waren wohl ein Grund zum Feiern.

Eva ging auf die Bar zu. Köder, hatte Hadley gesagt, und jetzt verstand sie, was er damit gemeint hatte. Sie hatte sich für enge Jeans und ein bauchfreies T-Shirt unter einem langen, offenen Mantel entschieden. Nicht direkt Femme fatale, dachte sie, während sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, aber sie zog ein paar interessierte Blicke auf sich. Wenigstens hatte Hadley sie vorgewarnt. Unwillkürlich fragte sie sich, ob irgendeiner der Handvoll Leute, die sie anglotzten, sie wohl wiedererkannte. Rasch sah sie sich im Raum um. Vielleicht war er ja hier, der Mann, der den Lastwagen gefahren und versucht hatte, sie umzubringen. Die Wahrscheinlichkeit lag bei über fünfzig Prozent, entschied sie.

An der Bar bestellte sie sich einen Wodka Tonic bei einem dürren jungen Mann mit Aknenarben und bezahlte bar, während ein anderer Mann – übergewichtig, struppiger Bart und zum Pferdeschwanz nach hinten gezurrtes graues Haar – am Tresen saß, den Pub beobachtete und an einem Bier nippte. Der Betreiber, wusste Eva, ein Mann namens Warren Muir. Wenn Hadley richtiglag, organisierte Muir Razins hiesige Ganoven, das Fußvolk und die Schläger, die er gelegentlich fürs Grobe brauchte. Zum Beispiel, um Polizeibeamte von der Straße zu drängen. Dir steht ein Wahnsinnsabend bevor, dachte Eva im Stillen und schlenderte von der Bar weg.

Sie spürte ein Vibrieren in der Tasche; ihr Telefon hatte eine SMS empfangen. Hat Sie jemand erkannt? Von Hadley.

Noch nicht , schrieb Eva zurück. Ich zeige mich mal ein bisschen.

Eine Zeit lang stand sie vor der Bühne und sah zu, wie die Band im Viervierteltakt mit den Köpfen ruckte. Ein paar weitere Betrunkene hingen ebenfalls hier herum und scherten sich nicht um die stümperhaften Überleitungen zwischen den Songs. Sie nippte an ihrem Drink und ließ den Blick durch den Raum wandern. Niemand schien sie zu beobachten; niemand schien besonderes Interesse an ihr zu haben. Du musst dir mehr Mühe geben, befahl sich Eva.

Ein Gefühl der Vorfreude wuchs in ihr, als sie sich im Pub umsah. Es fühlte sich toll an, gestand sie sich ein, während sie zwischen den Tischen herumwanderte. Ausnahmsweise würde sie mal nicht das Opfer sein. Auch wenn dies ja eigentlich Alastair Hadleys Veranstaltung war, würde sie heute Abend mal auf der Seite stehen, die austeilte. Razins Leute würden diesen Abend nicht vergessen, da war sie sich sicher.

Die Band hörte auf zu spielen, und die Tänzerinnen beendeten ihre Darbietung. Eva traute ihren Augen kaum, als die beiden fast nackten Frauen von der Bühne stiegen und anfingen, von Tisch zu Tisch zu gehen und in Biergläsern Trinkgeld einzusammeln. Die Aufmerksamkeit – die wenige, die vorhanden gewesen war – war nicht mehr auf die Bühne gerichtet, also stellte Eva ihr kaum angerührtes Glas auf einem Tisch ab und ging zurück zur Bar.

»Willst du ’n Drink?« Als sie sich umdrehte, sah sie eins der Bandmitglieder hinter sich stehen, ein dümmliches Grinsen im Gesicht. »Ich hab dich vorn an der Bühne gesehen«, sagte er. »Ich bin Terry; ich spiel Leadgitarre, aber das hast du ja wohl gemerkt.« Erschreckenderweise war dem so. »Du bist heut Abend wohl in Stimmung für’n bisschen Rock ’n Roll, wie?«

Eva schaffte es, sich ein interessiertes Lächeln abzuringen. Sie musste ein Gespräch anknüpfen, und wenigstens hatte er sie angesprochen. »Ich steh auf Metal«, sagte sie. »Und, ja, ich würd gern was trinken. Ich bin übrigens Eva«, setzte sie hinzu und ließ sich von einem grauhaarigen Rocker, der fast doppelt so alt war wie sie, an die Bar abschleppen.

Terry machte einiges Gewese darum, ihr einen auszugeben. Eva nahm noch einen Wodka Tonic, während Terry darauf wartete, dass sich der Schaum auf seinem Guinness setzte. »Macht ganz schön durstig«, ließ er sie wissen und kippte das halbe Glas in einem Zug runter.

»Spielt ihr oft hier?« Sie behielt die Bar und den Rest des Pubs im Auge. Ein paar Leute hatten flüchtig zu ihr herübergeblickt. Vielleicht würde jemand sie ja irgendwann als Polizistin vom Revier in Kingston wiedererkennen.

»Alle paar Monate. Wir sind viel auf Tournee, reisen im Land rum.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Is’ ganz schön einsam auf der Straße.«

Das soll doch wohl ein Witz sein, dachte Eva. Du bist alt genug, um mein Großvater zu sein. Du baggerst mich doch nicht etwa allen Ernstes an, oder? Doch sie zwang sich zu einem mitfühlenden Stirnrunzeln.

»Und was is’ mit dir?« Terry grinste lüstern. »Ich find deine Frisur voll klasse.«

Sie fuhr sich mit der flachen Hand über den Kopf und lehnte sich mit dem Rücken an die Bar. »Mir gefällt’s so. Ist schön frisch.« Sie sah, dass Warren Muir ein bisschen näher gerückt war. Jetzt, da die Musik aufgehört hatte, konnte er ihre Unterhaltung mithören.

Terry feixte. Er sah hocherfreut aus. Na klar freut er sich, dachte Eva. Ich komme bestimmt rüber, als sei ich leicht zu haben.

»Wie jetzt, hast du eines Tages einfach beschlossen, alles abzuschneiden?«

Ein paar andere Männer kamen allmählich zur Bar geschlendert. Sie bemerkte, dass Muir mit dem einen oder anderen Blicke wechselte. Muir war misstrauisch, das konnte sie sehen. Misstrauisch zu sein war sein Geschäft. Razins Leute würden sie ihm gezeigt oder sie zumindest erwähnt haben, nahm sie an, und wenn nur als die Neue hier. Jemand, den er vielleicht wiederzuerkennen glaubte, war jetzt in seinem Pub aufgetaucht, und wenn sie die Situation richtig deutete, bat er gerade ein paar seiner eigenen Leute, sie sich mal näher anzuschauen. Sie merkte sich die Gesichter. Dann beschloss sie, dass es Zeit wurde, einen Zahn zuzulegen.

»Nein«, sagte sie zu Terry. »Es ist nur, vor ein paar Jahren war ich im Krankenhaus. Da mussten sie mir den Kopf rasieren, um ein paar Tests zu machen, und mir hat’s gefallen, wie sich mein Haar angefühlt hat.«

Terry blinzelte. »Tests?«

»Ja.« Eva nippte an ihrem Drink. »Die dachten, ich hätte einen Hirnschaden. Jemand hat versucht, mich umzubringen, verstehst du?«

Eva konnte sehen, wie sich die Zweifel, die ihm allmählich kamen, auf seinem Gesicht abzeichneten. »Wieso soll dich denn jemand umbringen wollen? Bist du so lästig?«

Sie lachte laut und rau und legte ihm dann ganz kurz die Hand auf den Arm, als wäre der Spruch tatsächlich witzig gewesen. »Nein, natürlich nicht. Wobei, vielleicht doch. Das war ein Drogendealer. Ich hab ihn observiert, und er hat versucht, mich mit einem Laster in einem Graben zu versenken.«

Terrys Lächeln geriet ins Rutschen. Vier Männer kamen allmählich näher, während Warren Muir zusah. »Observiert?«

Eva lachte abermals. »Entschuldige, das hätte ich dir sagen sollen.« Sie zog ihren Dienstausweis hervor und sorgte dafür, dass ihn wirklich jeder sehen konnte. »Detective Inspector Eva Harris, Surrey Police. Aber keine Angst, ich bin nur hier, um in Ruhe was zu trinken und mich ein bisschen zu entspannen. Oh, es sei denn«, sie nippte an ihrem Drink und stellte ihn auf die Bar, »es sei denn, ich finde das Arschloch, das gestern versucht hat, mich mit einem Laster voller Gerüstteile um die Ecke zu bringen. In diesem Fall habe ich vor, mir ein paar krasse polizeiliche Übergriffe zu erlauben.«

Einer der Männer, die sich an die Bar herangeschoben hatten, meldete sich zu Wort. »Ich denke, wir hätten’s gern, wenn Sie jetzt gehen«, ließ er sie wissen.

Eva wandte sich um, um ihn anzulächeln, richtete ihre Worte jedoch an Muir. »Warren, ist das eines von Ihren abgerichteten Äffchen oder der, nach dessen Pfeife Sie tanzen? Erzählen Sie mir doch mal, wie das bei Semjon Razin so läuft, das möchte ich nämlich unheimlich gern wissen.« Irgendwann würde sie sich mit dieser »Sarkastische Zicke«-Tour eins in die Visage oder Schlimmeres einhandeln, das wusste sie.

Muir und die vier Männer, die auf sie zugekommen waren, begriffen, dass etwas nicht stimmte, auch wenn ihnen nicht klar war, was.

»Wer ist Razin?«, fragte Muir.

Eva drehte den Kopf und schlug einen anderen Ton an. »Das kommt jetzt nicht sehr überzeugend, Warren. Inzwischen muss Ihnen doch klar sein, dass wir diesen Laden elektronisch überwachen. Wir wissen, dass Sie für Razin arbeiten und irgendjemand hier einen Autofahrer auf der A3 auf dem Gewissen hat. Die Frage ist: Was treiben Sie sonst noch so? Wir machen uns ein bisschen Sorgen wegen Ihnen, Warren. Wenn’s nur Drogen und ein bisschen Schutzgeld wären, dann würden wir das wahrscheinlich übersehen, das lohnt sich für uns einfach nicht. Aber wenn’s mehr ist als das, dann wird’s ein Problem.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Muir. »Und ich will, dass Sie meinen Pub verlassen, sofort.«

Einer der Männer packte sie am Arm, doch Eva machte sich los. Muir und vier andere standen um sie herum. Das schienen mehr als genug zu sein. »Bevor Sie irgendwelche Dummheiten machen, denken Sie mal über Folgendes nach.« Sie holte ein kleines, durchsichtiges Plastikkästchen aus der Manteltasche, stellte es auf den Tresen und öffnete es. »Semjon Razin ist kein einfacher Drogendealer mehr«, erklärte sie. In dem Kästchen waren zwei gelbe Dinger, die wie etwas größere Pillen aussahen. Eva nahm sie heraus, klemmte je eines zwischen Daumen und Zeigefinger und fing an, sie zu rollen. »Seine Operationen haben eine Größe erreicht, die ihn zu einem größeren Problem macht.« Als die Dinger weich genug waren, stopfte sie sich eins in jedes Ohr. »Sie haben ein Ausmaß angenommen, das sie als wirtschaftliche Bedrohung klassifiziert. Verstehen Sie, was das heißt?« Einer von Sergeant Walkers Leuten hatte ihr die Ohrstöpsel gegeben. Als sie die Sporthalle betreten und gesehen hatte, wie die Männer ihre Waffen luden, war ihr klar geworden, wie gefährlich Hadley wirklich war. Walkers Leute waren keine normalen Polizisten; das war eine Antiterroreinheit, in schwarzer Körperpanzerung und mit Sturmgewehren. Hadley hatte Beweise manipuliert, um die Operation als Antiterroreinsatz darzustellen.

Sie vergewisserte sich, dass die Ohrstöpsel tief genug saßen, und holte dann noch etwas aus der Manteltasche. Einen kleinen Metallzylinder mit einem Knopf am oberen Ende. Die Männer um sie herum glotzten sie an, als wäre sie blöd oder einfach nur geisteskrank, doch Eva wollte dieses Gefühl wachsender Vorfreude auskosten, nur einen Moment lang. Ich weiß, was als Nächstes kommt, ihr Sackgesichter, dachte sie. Ihr habt ja keine Ahnung, was hier gleich für eine Scheiße abgehen wird.

»Also, Warren«, sagte sie und konnte ihre eigenen Worte kaum hören, »ich habe zwei Fragen an Sie. Erstens, wie sollte die Polizei Ihrer Ansicht nach auf Bedrohungen der nationalen Sicherheit reagieren? Und zweitens«, setzte sie hinzu und drückte auf den Knopf des Zylinders, »glauben Sie etwa, ich bin allein hier?«

Etwas kam in den Schankraum gerollt. Die Tür zum Pub hatte sich ein paar Zentimeter weit geöffnet, und mehrere Gegenstände klackerten über den Boden. G-60-Blendgranaten, hatte Walker ihr erklärt, Standardausrüstung des CTC , des Counter Terrorism Command.

Sie schloss die Augen. Obwohl sie, als sie auf den Knopf gedrückt hatte, gewusst hatte, was kommen würde, fuhr sie zusammen. Multiple Detonationen. Grelle Lichtblitze, die sie durch die geschlossenen Lider sah. Der Lärm zu Boden stürzender, schreiender Menschen. Niemand würde verletzt werden, das wusste sie, doch keiner der Anwesenden dürfte auch nur den blassesten Schimmer haben, was zum Teufel los war. Als sie die Augen öffnete, hatten sich die Männer um sie herum geduckt. Schock und Grauen spiegelten sich in ihren Gesichtern. »Sie haben sich mit dem falschen Bullen angelegt, Warren«, erklärte Eva Muir fröhlich, obgleich sie wusste, dass er sie nicht hören konnte, weil das Krachen der Blendgranaten ihm noch in den Ohren dröhnte.

Drei Sekunden später stürmten zwanzig von Walkers Männern aus vollem Hals brüllend in den Pub und richteten die Maschinengewehre auf jeden, der sich bewegte. Leuchtpunktvisiere malten rote Laserlinien in den Rauch der Granaten, der sich allmählich lichtete. Menschen stolperten umher. Walkers Männer rissen sie zu Boden. Sie sah, wie ein Betrunkener Anstalten machte, auf einen von ihnen loszugehen, doch ein Stiefel in den Bauch schickte ihn auf die Bretter, bevor er etwas letal Dämliches anstellen konnte. Zwei der Männer kamen sofort zu Eva herüber. Als der Typ, der versucht hatte, sie am Arm zu packen, Einspruch erheben wollte, landete auch er auf dem Boden. Die anderen drei schmissen sich aus freien Stücken hin, als sie sahen, wie die roten Leuchtpunkte der Sturmgewehre Striche auf ihre Gesichter zeichneten. Eva drehte sich um und wollte sehen, wie Warren Muir reagierte, doch Muir war verschwunden.

Sie fluchte, pulte sich die Stöpsel aus den Ohren und griff über die Bar hinweg. Packte den jungen Mann, der sie bedient hatte, am Kragen und zerrte ihn zu sich heran. Brüllte ihm ins Gesicht. »Wo ist er? Wo ist er, verdammte Scheiße?« In diesem bizarren Moment wollte sie, dass er sie fürchtete. Und in seinen Augen sah sie, dass er genau das tat.

Der Junge antwortete nicht. Stattdessen schaute er zu einer Tür hinter der Bar hinüber.

Eva schlug einem der Counter Terrorism Officers auf die Schulter und schrie: »Mitkommen!«

Nach oben. Sie rannte eine schmale Holztreppe hinauf, die seit einer Generation nicht mehr gestrichen worden war. Noch immer klebte Nikotin an den Wänden. Hinter sich hörte sie die Stiefel des Mannes aus Walkers Team poltern. Muir musste hier irgendwo sein, dachte sie, als sie in einem Flur im ersten Stock herauskam.

Sie rannte von Zimmer zu Zimmer. Alle sahen aus wie Veranstaltungsräume, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Muir war nicht hier.

»DI Harris!«, bellte einer der CTO s.

Als sie zu ihm hinschaute, sah sie, dass er auf eine zweite enge Treppe zeigte. Zweiter Stock. Diesmal rannten die Männer mit erhobenen Waffen voraus. Es sah aus wie ein Apartment, dachte Eva. Vielleicht verschwendete Muir ja hier seine Lebenszeit.

In einem schäbigen Schlafzimmer mit einem schmalen Kleiderschrank fanden sie Warren Muir bei dem Versuch vor, ein Feuer zu entfachen. Er hockte auf dem Boden, den Inhalt einer Metallkassette vor sich und ein Feuerzeug in der Hand. Das Ding funktionierte nicht, sah Eva. Einer der Männer trat zu ihm und nahm es ihm weg. Da zwei Gewehre auf ihn gerichtet waren, versuchte Muir gar nicht erst, Widerstand zu leisten.

Er sackte zusammen. Kniete auf dem Boden vor dem Schrank und sah aus wie ein Mann, der akzeptiert hatte, dass er zum Tode verurteilt worden war. Und das sollte er auch.

Eva zitterte fast vor freudiger Erwartung, als sie den Haufen aus Schnipseln und Papieren vor ihm anstarrte. Wenn das da das ist, was ich glaube, dachte sie, dann finden Razins Leute dich, egal, wo du bist.

Sie trat an ihm vorbei, raffte den Inhalt der Kassette zusammen, hob sie auf und legte alles wieder hinein. »Wissen Sie, wir können Ihnen einen Deal anbieten«, sagte sie zu Muir.

Er lachte. »Träumen Sie weiter«, spie er ihr entgegen. Er sagte ihr nur das, was ihr ohnehin schon klar war. »Glauben Sie etwa, ich bleibe noch lange am Leben, wenn die rausfinden, dass ich das Zeug da aufbewahrt habe?«

»Und was ist das?«, wollte sie wissen, obgleich sie auch das bereits wusste.

»Meine Rentenversicherung«, zischte Muir. Er starrte zu Boden, als einer von Walkers Männern ihn auf die Beine zerrte. Mit dem Kopf deutete er auf die Metallkassette. »Passen Sie gut darauf auf«, sagte er. »Die lassen das Ding aus Ihrem Revier verschwinden, bevor Sie auch nur blinzeln können.« Aus seiner Miene sprachen Furcht und absoluter Hass auf sie.

Egal. Eva nickte.

»Ich weiß«, sagte sie zu Muir, als die Männer ihn abführten. »Dann ist es ja gut, dass es da nicht hinkommt.«