Katarzyna Lieges Grundstück lag dem der Stepanows fast genau gegenüber am anderen Ende von St Jude’s Hill, stellte Eva fest. Dahinter verlief eine Straße außerhalb der Villenanlage, und obgleich der Zaun, der es von ihr trennte, hoch und das Gelände hinter dem Haus dicht bewaldet war, wäre es nicht allzu schwer, auf das Grundstück zu gelangen. Diesmal war der Mörder durch eine nicht abgeschlossene Terrassentür ins Haus gekommen.
Eva ging zu Moresby, der vor dem Haus stand und eine Liste in seinem Notizbuch studierte, während die Leute von der Spurensicherung das Grundstück durchkämmten. »Wer hat die Leiche gefunden?«
»Eine Fahrerin von ›Essen auf Rädern‹, ist das zu fassen? Anscheinend gibt’s hier drei oder vier Häuser, die die manchmal beliefern, natürlich ältere Bewohner. Dabei geht’s nicht um Geld, sondern um Kontakt. Mrs Liege hat allein gelebt.«
Eva zog eine Braue hoch. »Und die Fahrerin hat sie gefunden?«
»Äh, nein«, antwortete Moresby. »Nicht direkt, ’tschuldigung. Es hat sich niemand gemeldet, als sie geklingelt hat, also hat sie in der Tagespflegestätte hier in der Nähe angerufen. Die haben uns verständigt, und wir haben eine Streife hergeschickt. DS Flynn und DS Newton sind gleich nach denen aufgekreuzt und haben darauf bestanden, dass sich die Kollegen Zutritt zum Haus verschaffen. War nicht weiter schwer, die Terrassentür war nämlich schon offen.«
Als Eva Judy Wren fand, wirkte die Pathologin ungewohnt bedrückt. »So eine verdammte Schande«, verkündete sie, als Eva mit Überschuhen und Handschuhen ausgestattet zu der Leiche trat.
»Was genau?«
Katarzyna Liege lag rücklings auf dem Esszimmertisch. Die Augenlider waren abgetrennt und ihre Augäpfel entfernt worden. Anders als bei den anderen Leichen waren die Wunden mit Blut verschmiert. Wie Tränen aus Wein war es ihr die Wangen hinuntergelaufen und hatte eine Lache um ihren Hinterkopf gebildet. Sie trug einen dunkelblauen Morgenmantel, und ihr Haar war zu einem adretten Dutt geschlungen, der jetzt tiefrot gefärbt war. Ihre Arme lagen ordentlich neben dem Körper.
Obgleich Wren immer vorsichtig mit den Opfern war, schien sie bei Katarzyna Liege besonders behutsam vorzugehen. »Das alles hier«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Heute ist er ein bisschen von seinem Muster abgewichen. Ich kann mir denken, warum.«
»Ach ja?«
»Angefangen hat er genauso wie bei den anderen. Er ist eingebrochen, hat sich an sie herangeschlichen und sie getasert. Das Problem war nur, Mrs Liege war zweiundsiebzig Jahre alt und ihr Herz nicht gerade bestens in Schuss. Ich glaube, sie hatte einen Herzstillstand und ist gestorben, bevor er Gelegenheit hatte, sie zu sedieren.«
»Also hat er ihr ohne Exsanguination die Augen rausgeschnitten?«
»Was macht ein bisschen Blut schon aus«, meinte Wren, »wenn man gerade jemanden so Begabtes wie Katarzyna Liege ermordet hat?« Sie trat von dem Leichnam weg und führte Eva in ein anderes, sehr viel kleineres Zimmer.
Etliche Plakate hingen an den Wänden, ein paar Erinnerungsstücke standen auf einem Tischchen aus Kirschholz. »Sie war Tänzerin«, erklärte Wren. »Hat beim polnischen Staatsballett getanzt, vor vielen Jahren natürlich. Wissen Sie, ich glaube, ich habe sie sogar mal gesehen.«
Eva hörte den Unterton in Wrens Stimme und begriff. Aus irgendeinem Grund hatte dieser eine unter all den Morden sie persönlich getroffen.
»Das muss jetzt fast vierzig Jahre her sein; da wäre ich so etwa fünfzehn gewesen. Damals war sie beim Kirow-Ballett, wenn ich mich richtig erinnere, die haben in London Spartacus aufgeführt. Großer Gott, wenn man gedacht hätte, beim Ballett geht’s nur darum, dass da irgendwelche Leute in Tutus rumhopsen, dann hätte diese Vorstellung ausgereicht, um einen für alle Zeiten eines Besseren zu belehren. Die Männer hatten die vollkommensten Körper, die man sich nur vorstellen kann, und sie haben barfuß getanzt. Ich hab ganz dicht vor der Bühne gesessen; ich konnte das Blut an ihren Füßen sehen. Und die Frauen waren so elegant, umwerfend und schamlos erotisch. Es war unbeschreiblich. Liege war im Corps de Ballet; keine große Rolle, ich musste sie googeln.«
»Judy?«
Wren umfasste eine kleine Bronzestatue einer Tänzerin mit der Hand und packte so fest zu, dass ihre Knöchel weiß wurden. »Ich will diesen Arsch kriegen«, verkündete sie Eva. »Ich will diesen Arsch so dringend drankriegen, dass es wehtut.«
Flynn und Newton saßen in einem anderen Zimmer des Hauses, das nach vorne hinausging. Das Wohnzimmer, nahm Eva an. Vom Fenster sah man auf eine gepflegte Rasenfläche, die jetzt mit Herbstlaub bedeckt war. Flynn und Newton saßen auf Sofas und hatten Laptops vor sich.
»Es ist eine Liste«, sagte Flynn, ohne aufzublicken. »Ganz bestimmt. Diese Leute sind alle im Chatham Centre operiert worden, im Abstand von wenigen Wochen.«
Eva schaute ihr über die Schulter. Katarzyna Lieges Name stand tatsächlich auf der Liste. »Sieht so aus«, sagte sie zu Flynn, »aber noch wissen wir nicht, wo die Liste anfängt und wo sie aufhört. Diese Patienten«, sie deutete auf einige Zellen der Tabelle, »sind nicht überfallen worden. Woher wissen wir, ob die auf der Liste stehen oder nicht?« Als Flynn Einspruch erheben wollte, hob Eva die Hand. »Ich sage ja nicht, dass Sie nicht recht haben, ich sage nur, wir sehen noch nicht das ganze Bild. Wird der hier das nächste Opfer sein?« Sie tippte mit dem Finger auf eine Zelle. »Oder der hier? Eine Information fehlt uns immer noch.« Sie legte Flynn die Hand auf die Schulter.
Flynn blickte auf und lächelte.
»Trotzdem, gut gemacht. Wir haben’s fast.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Ma’am«, bemerkte Newton. »Erinnern Sie sich noch an das SQL , das Sie mir gezeigt haben? Ich dachte, ich schau mich mal in den Dateien um, die uns das Chatham Centre geschickt hat.«
Eva ging zu Newton hinüber und stellte sich hinter ihn. Es stimmte. Er hatte eine der Dateien geöffnet und überprüfte die interne Struktur der Datenbanktabellen. Beinahe hätte sie ihn umarmt.
»Bedeutet das hier das, was ich denke?«
Eva schaute genauer hin. Sie sah auf dem Bildschirm nur ein paar Kommas, zwischen denen nichts stand. »Wenn Sie meinen, da sind ein paar Felder gelöscht worden, ja, das stimmt. Das wird uns zwar nicht helfen, zu verstehen, wer auf der Opferliste steht und wer nicht«, erklärte sie Newton und Flynn, »aber es verrät uns, dass diese Daten manipuliert worden sind.« Sie sah die beiden an. »Ihr seid echt der Hammer. Wenn wir das nächste Mal an ’nem Pub vorbeikommen, geht das Bier auf mich.«
Flynn blickte wieder auf ihren Bildschirm. »Was Neues von Ihrer anonymen Quelle, Ma’am?«
»Nein, aber ich versuch’s weiter. Ich glaube, die benutzt ihre SIM -Karte abwechselnd in einem Arbeits- und einem Privathandy. Nachrichten kriegt sie also nur, wenn die Karte gerade im richtigen Handy steckt. Aber ich rechne damit, dass sie antwortet«, sagte Eva ebenso zu sich selbst wie zu den beiden. »Ich kann’s fühlen.«
»Sollen wir Katarzyna Lieges Finanzen überprüfen, Ma’am?«, erkundigte sich Jamie Newton.
Eva zog ihre Nase kraus. »Nein, nein. Fahren Sie jetzt zurück auf unser Revier, und helfen Sie Raj bei den Hintergrundrecherchen zum Chatham Centre. Das alles hier«, sie wies mit dem Finger auf die beiden Bildschirme vor sich, »bedeutet, dass wir der Lösung Schritt für Schritt näher kommen.«
Als sie darüber nachdachte, worauf sie sich da eingelassen hatte, stellte Eva fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie reagieren würde. Einerseits schien es gegen alles zu verstoßen, woran sie glaubte. Nicholson hatte zugegeben, dass die Partys im Grunde eine Gelegenheit waren, sich Partner für ein paar Stunden zu suchen, und angedeutet, dass illegale Betäubungsmittel zu haben sein würden. Andererseits hatte Nicholson auch klargestellt, dass es sich bei allen Beteiligten um verantwortungsbewusste Erwachsene handeln würde, die ihr Recht auf freie Selbstentfaltung wahrnahmen. Inwiefern war das schlimmer, als samstagabends auszugehen, sich in einem Club fast ins Koma zu saufen und dann einen One-Night-Stand abzuschleppen? Ihr war klar, dass sie sich aufs Wesentliche konzentrieren musste. Vielleicht würde ein verschwendeter Nachmittag dabei herauskommen, doch zumindest bestand die Möglichkeit, eine Verbindung von jemandem zu Kelly Gibson, Olivia Russell und Grace Lloyd zu finden. Man musste diese Möglichkeit überprüfen, doch Eva hatte absolut keinerlei juristische Grundlage, um gegen Berta Nicholson vorzugehen. So brauchte sie keine; Nicholson hätte nicht hilfsbereiter sein können. Hätte sie Druck gemacht, das wusste Eva, so hätte Nicholson eine unüberwindliche Mauer aus Anwälten hochgezogen. Aber indem sie ihr auf halbem Weg entgegengekommen war, hatte Eva wenigstens bis zu einem gewissen Grad ihr Vertrauen gewonnen.
Sie bog in die Einfahrt von Nicholsons Prachtvilla in Virginia Water ein und parkte ihren Wagen inmitten einer Horde deutscher und italienischer Markenmodelle. Von ihrem Platz hinter dem Lenkrad aus beobachtete sie, wie ein großes, elegantes Paar an der Haustür klingelte. Er war Mitte vierzig, sie sah aus, als wäre sie nur halb so alt. Jemand öffnete die Tür und begrüßte die beiden mit Wangenküsschen. Eine Frau, sah Eva, doch sie kam ihr nicht bekannt vor. Bringen wir’s hinter uns, dachte sie und stieß die Wagentür auf.
Dieselbe Frau öffnete ihr, als sie klingelte. Ihre Miene drückte herzliches, fast schon entzücktes Willkommen aus. »Sie müssen Eva sein«, sagte sie, während sie ihr die Tür aufhielt. »Berta hat so gehofft, dass Sie es schaffen. Sie waren noch nie auf einer von ihren Partys? Na, nur keine Angst«, fuhr sie fort, ehe Eva antworten konnte. »Ist alles sehr entspannt und formlos. Und es ist egal, ob Sie nur zuschauen oder mitmachen wollen, niemand wird sich daran stören. Das Wichtigste ist, dass Sie Spaß haben. Ich bin übrigens Elisabeth«, fügte sie hinzu, als sie Eva ins Haus lotste. »Wir genehmigen uns gerade ein paar Drinks am Pool. Wollen Sie sich umziehen? Sie können eins von den Schlafzimmern benutzen, das dritte links im ersten Stock ist wahrscheinlich frei. Ich bin hier, wenn Sie runterkommen, und bringe Sie dann zu Berta. Sie wird sich ja so freuen, Sie zu sehen.«
Eine breite Treppe wand sich an den Wänden der Eingangshalle entlang. Eva ging hinauf. Von irgendwoher hörte sie die Geräusche einer beginnenden Party. Menschen begrüßten einander und lachten über schlechte Witze. Das Ploppen eines Korkens, ein Platschen, als jemand in einen Swimmingpool sprang. Ich werde hier auffallen wie ein bunter Hund, dachte sie, als sie im ersten Stock stand. Vielleicht bleibe ich ja nur eine Stunde.
Eine Frau kam aus der Tür, die sie ansteuerte; die Blondine, die sie eben ins Haus hatte gehen sehen. Sie trug einen Badeanzug und hochhackige Schuhe. Als sie Eva erblickte, strahlte sie sie an. »Kommen sie auch zur Party? Sie werden’s toll finden. Berta ist die Größte. Wir sehen uns unten«, bemerkte sie im Vorbeigehen.
Eva trat in das Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Fünf ordentliche Kleiderstapel lagen auf einem langen niedrigen Tisch am Fenster. Ein großes Doppelbett stand in der Mitte des Raums. Eva ließ ihre Tasche aufs Bett fallen und holte den Badeanzug heraus, den sie erst heute Morgen im Stadtzentrum gekauft hatte. Er war schwarz und schlicht; hoffentlich würde sie damit nicht allzu großes Aufsehen erregen. Sie zwang sich dazu, sich umzuziehen.
Elisabeth holte sie am Fuß der Treppe ab. Sie gab sich alle Mühe, nicht zu glotzen, doch Eva sah, dass sie unwillkürlich die Narbe anstarrte, die sich von ihrem Knie fast bis zum Schritt emporzog. »Ich hatte einen Autounfall«, sagte sie, bevor das Ganze für Elisabeth peinlich werden konnte. »Und ich habe aufgehört zu versuchen, das da zu verstecken. Glauben Sie, das stört hier jemanden?«
»So eine Party ist das nicht«, versicherte Elisabeth, die plötzlich sehr ernst geworden war. »Sie werden sehen, die Leute hier sind sehr tolerant.« Rasch sah sie Eva von der Seite an. »Ich hoffe, Sie sehen das genauso.«
Nicholson begrüßte sie wie eine lang verschollene Cousine, als sie in den großen Raum mit dem Pool trat, der etwa zwanzig Meter lang war. Sie umarmte sie innig und reichte ihr eine Champagnerflöte. Die war aus Plastik, stellte Eva fest, was bei einer Poolparty wahrscheinlich durchaus sinnvoll war. Der Champagner jedoch schmeckte teuer, nicht wie Billigschampus. Eva nippte an dem Glas, während Nicholson sie herumführte.
»Speis und Trank«, verkündete sie und wedelte mit der Hand in Richtung einer Tischreihe neben dem Pool; allerdings ignorierte sie dabei demonstrativ die anderen Substanzen. Neben den alkoholischen Getränken stand ein halbes Dutzend Silbertabletts. Auf einem lagen Tütchen mit Kokain, auf einem anderen bereits gerollte Joints, und auf einem weiteren waren Pillen wie Pralinen zu einem kleinen Berg arrangiert. Es gab auch noch andere Drogen. Auf den ersten Blick schätzte Eva, dass auf den Tabletts Narkotika im Wert von etwa tausend Pfund angerichtet waren. Nicholson starrte sie an, doch Eva hielt ihr Versprechen und zuckte lediglich die Achseln.
»Nur damit Sie Bescheid wissen«, flüsterte Nicholson, »hier ist alles und jeder zu haben, außer«, damit nahm sie Eva am Ellenbogen und drehte sie herum, »Simon.« Mit dem Kopf deutete sie auf einen Mann in Badehose und orangerotem T-Shirt am anderen Ende des Pools. Ein Rettungsschwimmer, begriff Eva. »Nach der Arbeit ist er freigegeben, aber jetzt sorgt er erst mal dafür, dass niemand im Pool in Schwierigkeiten gerät.«
Eva zog eine Braue hoch. »Ein Rettungsschwimmer?«
Nicholson nahm sie abermals am Ellenbogen. »Wir sind hier, um uns zu amüsieren. Dass jemandem etwas zustößt, ist nicht meine Vorstellung von Spaß.«
Der scheinbare Widerspruch, den Berta Nicholson darstellte, verwirrte sie. Harte Drogen und unverbindlicher Sex schienen völlig in Ordnung zu sein, solange alle beaufsichtigt wurden. Als sie zum Pool zurückblickte, sah sie, dass ein halbes Dutzend Leute beschlossen hatte, sich dort hineinzustürzen. Als sie noch einmal hinschaute, sah sie, dass alle nackt waren.
»Es könnte sein, dass ich versehentlich etwas Falsches gesagt habe«, meinte Nicholson, während sie mit ihr eine gemächliche Runde um den Pool drehte. »Ich glaube, mindestens zwei von den Mädchen, von denen Sie gesprochen haben, waren hier auf den Partys. Ich habe herumgefragt«, erklärte sie rasch. »Olivia Russell ist mit Marcus und Danielle gekommen; die hatten sie bei New Thought kennengelernt, als sie Mathew Modell gestanden hat. Kelly Gibson könnte auch hier gewesen sein, aber wenn, dann hat sie sich nur mit ihrem Vornamen vorgestellt.«
»Kommt Mathew Harred manchmal auch zu diesen Partys?«
Nicholson lachte. »Schön wär’s. Ich habe nicht geschwindelt, als ich behauptet habe, Mathew lebt in seiner Obsession mit seinem Gemälde beinahe wie ein Mönch. Verstehen Sie mich nicht falsch, es freut mich sehr, dass er das alles so ernst nimmt, aber es wäre nett, wenn er hin und wieder hier auftauchen und sich ein bisschen gehen lassen würde.«
Im Pool trieben einzelne Personen und Paare anscheinend allmählich aufeinander zu. »Wo haben Sie ihn denn gefunden?«
»Er hat uns gefunden. Mathew kam vor ungefähr fünf Jahren zu New Thought. Wie viele andere wollte er mehr über uns erfahren. Fredrick Huss hat entdeckt, dass er Künstler ist. Fredrick interessiert sich sehr für Fotografie, also haben die beiden sich auf Anhieb verstanden. Als Fredrick seine Arbeiten gesehen hat, hat er mich sofort angerufen. Ich liebe die Präraffaeliten, und Sie haben ja gesehen, wie Mathew malt. Damals hatte er kein rechtes Ziel, hat versucht, Aufträge an Land zu ziehen. Er war seit ein paar Monaten regelmäßig zu New Thought gekommen, als Fredrick die Idee mit dem Fresko hatte. Ich war natürlich Feuer und Flamme; Mathew war ein bisschen zurückhaltender. Aber als Fredrick gesagt hat, er könne die ganze Nordwand dafür haben, na ja, ich meine, wie konnte er da widerstehen? Es ist eine Riesenaufgabe, aber andererseits ist es für ihn auch eine Riesenchance. Das Gemälde wird seinen Ruf begründen. Danach wird er überall malen können, und zwar alles, was er will, und das weiß er auch. Es ist also nicht weiter überraschend, dass er so fokussiert ist. So eine Gelegenheit kommt nur einmal im Leben.«
Die Gruppe im Pool hatte es anscheinend aufgegeben, Zurückhaltung vorzutäuschen. Eva konnte nicht anders, als ungläubig zuzusehen, wie die Frau, der sie im ersten Stock begegnet war, die Beine um die Taille eines Mannes schlang, während sie einen zweiten lange und heftig küsste, der von hinten ihre Brüste massierte. Ein kleines Stück entfernt waren ein Mann und zwei Frauen ebenfalls ineinander verschlungen. Am Tisch öffnete ein Paar Kokaintütchen, schnupfte gemeinsam den Inhalt und begann dann, sich langsam gegenseitig auszuziehen. Eva war, als schaue sie aus der Ferne zu, was ja in gewisser Weise auch der Fall war. Nicholson sah, wie sie starrte, und lächelte, sagte jedoch nichts.
»Und Lily Yu?« Eva wusste, dass sie gerade rot wurde.
»Lily ist hier irgendwo. Soll ich sie suchen?«
»Das meine ich nicht«, versicherte Eva hastig. »Ich habe nur überlegt, wie sie in dieses Bild passt.«
»Lily lebt mit mir zusammen. Sie ist meine Partnerin, aber wir erheben keinen Exklusivanspruch aufeinander. Wo bliebe denn da der Spaß?«
»Ich habe gemeint, in Bezug auf die drei Frauen.«
»Nun mal nicht so schüchtern, Eva«, antwortete Nicholson. »Sie wollen wissen, ob sie mit ihnen gevögelt hat?« Sie zuckte die Achseln. »Tja, möglicherweise. Spielt das eine Rolle?«
»Wahrscheinlich nicht.« Immer mehr Leute strebten auf den Pool zu und ließen dabei die Hüllen fallen. Wahrscheinlich waren an die vierzig Gäste im ganzen Haus verteilt, die sich betranken, zudröhnten oder flachlegen ließen. Alle außer ihr. Einen Moment lang verspürte sie ein unerwartetes Aufwallen von Neid.
»Also«, sagte Nicholson schließlich, »wenn Sie mich jetzt entschuldigen; ich habe das Gefühl, dass ich eine schlechte Gastgeberin bin. Ich sollte mich ein bisschen um meine anderen Gäste kümmern«, lachte sie und warf dabei einen raschen Blick zum Pool hinüber. »Die haben’s weiß Gott nötig.« Bevor Eva Gelegenheit hatte, irgendetwas zu erwidern, streifte Nicholson ihren Badeanzug ab, kippte ihren Wein hinunter und sprang ins Wasser. Als sie wieder hochkam, drehte sie sich zu ihr um. »Kommen Sie doch auch rein«, rief sie. »Was haben Sie schon zu verlieren?«
Einen Moment lang geriet sie beinahe in Versuchung. Dann schwammen zwei Männer und eine Frau auf Nicholson zu und packten sie. Sie kreischte vor Lachen, und alle vier kamen fast augenblicklich zur Sache. Vom Rand des Pools aus konnte Eva nicht genau erkennen, wer mit wem Sex hatte, wobei sich das auch ständig änderte. Jetzt waren fast zwei Dutzend Personen im Pool; alle in Gruppen. Sie stöhnten und wanden sich, während sie immer wieder die Partner wechselten. Es war wirklich alles erlaubt, sah Eva. Niemand erhob gegen irgendetwas Einspruch. Sie schüttelte den Kopf; sie wusste nicht, ob sie dazu bereit war. Es erschien ihr überwältigend. Obwohl sie mit dem Auto da war, beschloss sie, sich noch ein Glas Champagner zu holen.
Dann wanderte sie durch den Rest des Hauses. In einem Wintergarten, der an den Garten angrenzte, fand sie Lily Yu. Yu war stoned, das sah Eva, aber nicht völlig zugedröhnt. Ihr fiel wieder ein, was Nicholson über Vertrauen und Kontrolle gesagt hatte. Yu gehörte eindeutig zu einer anderen Gruppe, die auf den Rasen hinausgetrudelt war.
»Detective Inspector«, begrüßte Yu sie etwas undeutlich, während sie Evas Badeanzug anstarrte. »Sie haben eindeutig zu viel an.« Yu war ebenfalls nackt.
»Ist alles ein bisschen viel«, gestand Eva.
Yu lachte und nahm sie am Arm. »Ist schon okay. Normalerweise braucht man ein paar Partys, bis man wirklich Lust aufs Mitmachen bekommt. Ist kein Problem. Trinken Sie ein bisschen Wein, rauchen Sie einen Joint, sehen Sie sich die Show an, und amüsieren Sie sich. Tun Sie, wonach Ihnen gerade ist.« Yus Augen wurden groß. »Oh, Sie sind doch auf Mathews Bild abgefahren, nicht wahr? Ich wette, dann würde Ihnen Bertas Sammlung auch gefallen.«
»Berta hat eine Sammlung?« Ganz schwach war sich Eva der Tatsache bewusst, dass sie von einer Frau, die splitternackt war und unter Drogen stand, durch ein Haus gezerrt wurde. Bizarrerweise machte ihr das nichts mehr aus, wenn sie recht darüber nachdachte.
Dass Nicholson eine eigene Kunstsammlung besaß, überraschte sie ebenfalls nicht. Durch einige oberflächliche Finanzrecherchen wusste sie, dass Nicholsons Vermögen von ihrer Familie stammte, die irgendetwas mit einem Wald irgendwo im Osten Russlands zu tun gehabt hatte. Ein Wald war ihr nicht gerade wie eine sprudelnde Einkommensquelle vorgekommen, bis sie diesen Wald auf einer Landkarte gesehen und den Bericht eines Gutachters dazu gelesen hatte. Um neun Uhr morgens war er mit anderen in einem Hubschrauber losgeflogen, um den Wald zu Versicherungszwecken in Augenschein zu nehmen. Am selben Nachmittag um drei Uhr waren sie immer noch darüber geflogen.
In einem Flur, von dem aus man in den Garten sehen konnte, kamen sie an einer Frau vorbei, die an eine Wand gelehnt Sex hatte. Genau wie Yu hatte sie langes dunkles Haar. Sie hatte ein Bein um den Mann geschlungen, der sie gegen die Wand drückte. Mit den Nägeln der einen Hand fuhr sie ihm über den Rücken, in der anderen hielt sie eine Champagnerflöte. Als die Frau sie erblickte, nippte sie daran und bot das Glas dann Yu an. Yu ließ Evas Ellenbogen los, nahm das Glas, trank einen Schluck und reichte es der Frau zurück. Die liebkoste das Hinterteil des Mannes, während er wieder und wieder in sie hineinstieß. Dabei ließ er eine Hand von der Brust der Frau rutschen und griff Yu zwischen die Beine. Die kicherte. »Später, Schatz.«
Die Frau keuchte, als Yu abermals Evas Arm nahm und sie den Flur hinunterführte.
»Es braucht Ihnen nicht peinlich zu sein«, versicherte Yu im Gehen. »Das gehört einfach zu dem, was wir tun. Wir machen auch Kunst«, fuhr sie fort, als sie eine Tür aufstieß. Noch ein Wohnzimmer, groß und dem Licht nach Richtung Norden gelegen, schätzte Eva. Die weißen Wände hingen voller Fotos und Gemälde.
Es mussten vierzig oder fünfzig Bilder sein. Rund um das Zimmer herum sah Eva auf Tischen eine Handvoll Bronzeskulpturen stehen, doch es war die Kunst an der Wand, die ihre Aufmerksamkeit fesselte. Einige Zeichnungen in dem Stil, in dem Mathew Harred malte. Unter einer war eine Plakette. Jane Morris , stand darauf, und: Dante Gabriel Rossetti . Auch ein Datum konnte sie lesen. Doch ihr Blick blieb an einem anderen Werk hängen. »Das ist ja ein Picasso!«, entfuhr es ihr.
Yu kicherte von Neuem.
Eva fragte sich, wie sie sich wohl fühlen würde, wenn sie von diesem High wieder herunterkam.
»Ich weiß. Toll, nicht?«
Eva betrachtete ein paar der anderen Werke aus etlichen unterschiedlichen Kunstperioden und in unterschiedlichen Stilen. Die meisten war figürlich, auf einem Großteil der Bilder waren menschliche Gestalten zu sehen. Es war keine Überraschung für sie, dass Nicholson sich hauptsächlich für Menschen interessierte.
Auch eine ganze Anzahl Fotografien hing an den Wänden. Mehrere Aufnahmen von Annie Leibovitz, deren Bilder ebenfalls etwas Präraffaelitisches hatten. Zwei Fotos waren der Beschriftung nach von Diane Arbus. Vor einem anderen blieb Eva stehen. Sie musste zweimal hinsehen. »Sind Sie das?«
»Ja!« Lily Yu kreischte beinahe vor Begeisterung. »Ich war schon gespannt, ob Sie mich erkennen!« Das Foto war schlicht, schwarz-weiß mit warmen grauen Mitteltönen. Es zeigte Yu, die, wieder splitternackt, irgendwo draußen lag, wo es ungeheuer heiß gewesen sein musste. Lange Schatten fielen über sie. Eva starrte die Aufnahme an. Starrte immer weiter. Yu trat dichter an sie heran. Eva bemerkte es kaum.
»Wer hat das Foto gemacht?«, wollte sie schließlich wissen.
»Würden Sie’s glauben, wenn ich Ihnen sage, dass das von Fredrick Huss ist?«, flüsterte Yu Eva ins Ohr. »Das war in Marrakesch vor ungefähr fünf Jahren. Fredrick ist klammheimlich ein toller Fotograf. Er ist kein Profi, aber ab und zu bringt er etwas echt Bemerkenswertes zustande, sagt Berta.« Das Bild brannte sich fast auf Evas Netzhaut ein. Jetzt konnte sie Yus Atem auf ihrer Schulter spüren.
»Sind Sie sicher, dass Sie Ihren Badeanzug anbehalten wollen?«
Sie wollte weg, doch vorher musste sie verstehen, was sie da vor sich sah. Kurz darauf wandte sie sich Yu zu. »Ich muss gehen.«
Yu machte ein tief betrübtes Gesicht. »O Eva, es tut mir leid«, begann sie, doch Eva schüttelte den Kopf.
»Das hier ist nicht mein Ding. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich fühle mich geschmeichelt, aber das ist auch nicht der Grund. Ich muss wirklich gehen«, sagte sie, während sie sich umdrehte und sich anschickte, den Raum zu verlassen. Yu sah so geknickt aus, dass Eva sie flüchtig auf die Wange küsste. »Passen Sie gut auf sich auf, Lily.« Sogar sie selbst konnte die Polizistin in ihrer Stimme hören. »Und sagen Sie Berta, ich glaube, ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.«