20. Kapitel

Die SMS von Hadley machte sie stinkwütend. Ein paar knappe, schroffe Sätze: Ob sie mit der extra inszenierten Razzia nicht Zeit und Mühe verschwendet hätten. Auf ihrem Bett, die Stahlkassette aus Warren Muirs Safe sicher neben sich, war Eva überzeugt, dass dem nicht so war, allerdings war sie nicht geneigt, das Hadley jetzt schon mitzuteilen. Stattdessen schickte sie eine sorgfältig formulierte, nichtssagende Nachricht zurück, in der von stetigen Fortschritten die Rede war. Unwillkürlich schaute sie rasch auf den Bildschirm des Laptops auf ihrem Tisch. Die Zahl stieg noch immer. Noch hatte es keinen Durchbruch gegeben, doch das war nur noch eine Frage der Zeit, dessen war sie sich sicher, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Die Unvermeidlichkeit der Zahlenverarbeitung, nahm sie an. Die Wahrheit lag immer in den Daten.

Dann sah sich Eva ihre anderen Nachrichten an. Als sie eine von einer Telefonnummer erblickte, die sie inzwischen auswendig wusste, hätte sie vor Aufregung beinahe nach Luft geschnappt. Grau Laska , stand auf dem Display. Aber seien Sie BITTE vorsichtig. Die freudige Erregung verflog fast augenblicklich und machte Verwirrung Platz. Was oder wer war Grau Laska? Eine Firma, ein Mensch, ein Ort? Eva seufzte und begann, ihrerseits Nachrichten zu schreiben.

Flynn, Newton und Chakrabati würden sie jetzt im Stillen verfluchen, dachte sie. Es würde eine lange Nacht werden.

Die drei saßen in perplexem Schweigen da, als Eva ihre Erlebnisse auf Berta Nicholsons Party schilderte.

»Sie haben also mehr oder weniger auf ’ner Orgie abgehangen«, stellte Flynn fest, als sie geendet hatte.

»Und uns nicht eingeladen«, beschwerte sich Newton.

Raj hob abwehrend die Hände. »Ich bin glücklich verheiratet. Das weiß ich, das sagt mir meine Frau nämlich andauernd. Die hätte Ohrringe aus meinen Eiern gemacht, wenn ich da hingegangen wäre.«

»Versucht mal, euch aufs Wesentliche zu konzentrieren«, brummte Eva, um zu überspielen, dass ihr das Ganze peinlich war. »Das Foto, das ist wichtig. Die Schatten.«

»Ist schwer, das zu verstehen, ohne das Bild zu sehen«, meinte Newton. »Sie haben kein Handyfoto davon gemacht?«

»Ich hatte mein Handy nicht zur Hand«, antwortete Eva und beließ es dabei. »Hört zu, es geht um die Schatten. Lily Yu lag genauso da, wie der Täter die Frauen hinlegt, aber es waren die Linien aus Licht und Schatten, die das Bild bemerkenswert gemacht haben. Sie lag unter einem Geländer oder Gitter. Das Foto ist in Marrakesch aufgenommen worden, hat sie gesagt. Die Kontraste waren echt scharf; die Sonne muss sehr hell geschienen haben. Die Schattenlinien sahen genauso aus wie die Schnitte an den Leichen.«

»Was war mit ihren Augen?«, wollte Flynn wissen.

Gute Frage. Eva überlegte. »Ich konnte sie nicht sehen. Ich meine, sie waren auf dem Foto nicht sichtbar wegen des Spiels von Licht und Schatten. Die Schatten sind genau über die Augen gefallen. Ja«, beschloss sie, »das stimmt. Man hätte denken können, sie hätte keine Augen, denn dieser Teil ihres Gesichts lag vollständig im Dunkeln.«

»Scheint mir ein Wahnsinnszufall zu sein«, bemerkte Newton.

»Nicht wahr?« Eva holte tief Luft. »Und das ist nicht alles.« Sie erzählte ihnen von der SMS , die sie bekommen hatte, bevor sie sie benachrichtigt hatte.

Raj klatschte entzückt in die Hände. »Da oben meint’s heute aber jemand gut mit uns. Und was ist Grau Laska?«

»Äh … keinen blassen Dunst.«

»Klingt wie ’ne Biersorte«, überlegte Flynn laut. Es klang fast sehnsüchtig. Eva zog eine Braue hoch.

Raj wandte sich seinem Computer zu. »Nicht sehr hilfreich«, verkündete er kurz darauf. »Zu dieser Kombination gibt es nichts, aber für jedes Wort allein jede Menge Treffer, von einer bestimmten Art Shirts bis hin zu einer Stadt irgendwo im Nirgendwo. Da werden wir ein bisschen suchen müssen.«

»Kriegen Sie das hin?«, erkundigte sich Eva.

Raj grinste. »Ich habe eine Aufgabe, einen Computer und eine Liste mit Lieferdiensten. Und meine Eier habe ich auch noch. Was will man mehr?«

Eva grinste zurück und wandte sich an Newton. »Macht’s Ihnen was aus, die Finanzen vom Chatham Centre zu übernehmen?«

Newton nickte. »Kein Problem. Raj kann mir ja helfen, wenn ich nicht weiterkomme. Aber ganz ehrlich, ich habe schon öfter Finanzberichte, Bankauszüge und Sachen vom Handelsregister gesichtet. Vielleicht treibe ich mich mal ein bisschen auf ein paar von den Broker-Seiten rum, um rauszufinden, ob irgendjemand Marktinformationen über die sammelt. Dafür müsste ich aber vielleicht ein paar Infos kaufen.«

»Fragen Sie mich vorher«, wies Eva ihn an. »DCI Sutton reißt mir den Arsch auf, wenn wir ihr Budget überziehen. Becks«, wandte sie sich an Flynn. »Sie nehmen sich Fredrick Huss und New Thought vor, das volle Programm. Beschaffen Sie sich alles über die Kirche, was Sie kriegen können, aber legen Sie den Fokus auf ihn.«

»Nur wegen einem einzigen Foto«, stellte Flynn fest.

»Man muss es gesehen haben«, erwiderte Eva. Dann zuckte sie die Schultern. »Sie wissen schon, was ich meine. Hätte ich ein Bild von dem Foto machen können, würden Sie’s verstehen, aber das ging einfach nicht. Und ich will nicht noch mal zu Berta Nicholson fahren, könnte ja sein, dass ihr das Angst macht und sie dann etwas ausplaudert. Ich meine, ich vertraue ihr, aber es gibt Grenzen.«

»Geht klar«, sagte Flynn. »Eine Tiefenrecherche zu Fredrick Huss, Pastor der Tranzendentalisten-Kirche New Thought, der einen irren Maler jahrelang ’ne Wand aufpeppen lässt.«

Eva ignorierte ihre Skepsis. »Mathew Harred ist ein interessanter Charakter. Er ist Künstler, aber anlegen möchte sich niemand mit ihm.« Sie beschrieb ihn Flynn.

»Vielleicht sollte ich mal hingehen und ihm selber Fragen stellen, Boss«, bemerkte Flynn.

Eva ignorierte ihren lüsternen Blick. »Tun Sie das, wenn’s nötig ist. Aber ich glaube nicht, dass er etwas damit zu tun hat. Besser, Sie konzentrieren sich auf Huss. Trotzdem gilt: Schließen Sie nichts aus.«

»Tu ich nie«, behauptete Flynn. Eva wusste, dass das gelogen war.

»Danke, Leute«, sagte sie, als sie die Besprechung beendete. »Wird Zeit für ein bisschen Parallelrecherche, also schauen wir mal, was wir rausfinden können, bevor’s zu spät wird.« Sie hielt kurz inne. »Ich muss mal für etwa eine Stunde weg, aber ich komme später wieder. Mein Handy ist lautlos gestellt; schickt mir eine SMS , wenn etwas Dringendes ist.«

»Alles in Ordnung?«, fragte Flynn. Ihre Sorge schien aufrichtig zu sein. Der Vorfall mit dem Laster hatte schon eine ganze Weile als Elefant in der Zimmerecke gestanden.

»Ja«, versicherte Eva. Rasch suchte sie nach einer Ausrede. »Ich muss nur mal eben was erledigen«, sagte sie und verließ den Raum.

Das war eine der Redewendungen ihres Großvaters, eine, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Die Worte brachten Erinnerungen an warme Sommertage im West Country zurück, ans Verstecken im hohen Gras und daran, sich sanfte Hügel hinunterrollen zu lassen. Der Satz konnte alles bedeuten, das hatte sie schon sehr früh verstanden; von einem Ausflug in den Pub bis zum Gang aufs Klo. Mal eben was erledigen. Zum Beispiel unangekündigt vor Jeffrey Cowans Tür aufkreuzen.

Er schien überrascht, sie zu sehen.

»Entschuldigung, passt es gerade nicht?«, fragte Eva, als er ihr nicht die Tür aufhielt.

Cowan wirkte ein wenig verstört. »Ich habe Familienbesuch«, erklärte er nach kurzem Zögern. »Ich versuche immer, Familie und Arbeit zu trennen.«

»Sie sind doch in Pension«, wandte Eva ein.

»Trotzdem.«

Sie holte tief Luft. »Es dauert auch nicht lange. Ich wollte Sie nur nach einem Fall fragen.«

Cowan machte ein gereiztes Gesicht, doch dann nickte er.

»Erinnern Sie sich an einen Restaurantbesitzer namens Philip Jennings?«

»Ist ja nicht so, als könnte man den vergessen«, erwiderte Cowan. »Das war ein Riesenfall, hat uns monatelang umgetrieben. Jennings hatte eine ganze Reihe Läden. Einer davon war an der London Road, eine Pizzeria, wenn ich mich richtig erinnere. Wir hatten Informationen, dass das eine Fassade für Geldwäsche war. Es hat eine Razzia gegeben, das Übliche eben.«

»Und was ist passiert?«

Cowan zuckte die Achseln. »Das Ganze hat sich als komplizierter erwiesen, als es zuerst den Anschein hatte. Unsere Leute waren überfordert. Irgendwas Komisches ist da in dem Restaurant gelaufen, aber Geldwäsche war’s nicht. Jennings hatte Steuern hinterzogen, aber als wir tiefer nachgebohrt haben, kam raus, dass all seine Unternehmen legal waren. Schwer durchschaubar, er hatte eine Reihe Restaurants in ganz Europa und hat die Inhaberschaft immer hin und her geschoben. Die Steuer- und die Zollbehörde waren sehr verstimmt, konnten aber nichts machen.«

Eva lächelte. »Wie sich herausgestellt hat, ist das nicht der Fall«, sagte sie.

Cowan verstand nicht. »Was?«

Sie zog ihr Handy hervor und hielt es ihm hin. Das Display zeigte ein Foto eines der Dokumente, die sie in Warren Muirs Stahlkassette gefunden hatte, in der, die er seine Rentenversicherung genannt hatte. Muir und die Schlägertypen, die in dem Pub im Allen-Estate herumlungerten, waren das Fußvolk von Razins hiesigem Netzwerk gewesen. Muir musste wissen, in welchen Kellern sämtliche Leichen lagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Eva wischte von einem Bild zum anderen. Noch mehr Dokumente. »Sie hatten Jennings fast. Er hat nicht nur Geld gewaschen, sondern auch eine der Hauptversorgungsrouten gemanagt, die Razins Organisation benutzt hat, um Drogen ins Land zu bringen und zu vertreiben. Jennings hat zwischen zwanzig und dreißig Millionen im Jahr umgesetzt und seine Restaurants dazu benutzt, die Einnahmen zu verschleiern. Er hatte sogar Lieferfahrer auf Mopeds, die das Zeug an den Mann gebracht haben. Das war eine große Nummer; wenn die aufgeflogen wäre, hätte das Razins Operation echt schaden können. Dann wären die weiteren Verbindungen offensichtlich gewesen. Aber jemand hat Jennings gewarnt. Razins Leute hatten Notfallpläne. Jennings Netzwerk wurde fast über Nacht abgewickelt, die Coverstory dafür war längst vorbereitet. Jemand hat Jennings wissen lassen, was kommt, jemand Ranghohes. Ich bin dicht dran herauszufinden, wer.«

Aus dem Haus hörte sie eine Stimme. »Daddy? Wer ist denn da?« Eine Frauenstimme, Eva kam sie zittrig und ein bisschen weinerlich vor.

»Ist nicht weiter wichtig, Schatz!«, rief Cowan zurück. »Bin gleich wieder da.« Er wandte sich noch einmal an Eva. Der verstörte Gesichtsausdruck war nicht verschwunden, sah sie, ganz im Gegenteil. »Um Gottes willen, Eva«, flüsterte er. »Seien Sie vorsichtig. Die haben schon mal versucht, Sie umzubringen. Wenn die erfahren, dass Sie das da haben, werden sie’s wieder tun. Diese Leute sind die gefährlichsten Typen, denen Sie jemals begegnet sind. Vergessen Sie Colin Lynch, verglichen mit denen war er ein Amateur.«

Eva zuckte mit keiner Wimper. »Das weiß ich.«

Cowan schien den Blick, mit dem sie ihn bedachte, nicht zu bemerken. Er schaute immer wieder rasch ins Haus. »Ich weiß, dass Sie mich etwas fragen wollen, aber ich kann jetzt nicht antworten. Kommen Sie in ein paar Tagen wieder.« Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Einen Moment lang starrte sie den Türklopfer an – ein verzierter Messingklumpen in Form eines sinnbildlichen Fisches. Sie hätte ihn einfach anheben und fallen lassen können, und dann noch einmal und noch einmal, um Cowan zu zwingen zurückzukommen. Wie viel Probleme würde das Cowans Tochter bereiten? Wie würde sie reagieren? Eva stand noch ein paar Sekunden da und betrachtete den Klopfer. Dann drehte sie sich um und ging.

Es war an diesem Abend, als sie im Supermarkt stand und versuchte herauszufinden, welches Fertiggericht am kürzesten in die Mikrowelle musste. Neonlicht erhellte den riesigen Raum und vertrieb die Schatten. Kalte Luft trieb aus den Kühlregalen heran und ließ sie schaudern. Irgendwo zwischen Lasagne und Spaghetti Carbonara hatte Eva plötzlich das überwältigende Gefühl, dass ihr jemand folgte.

Sie schaute den Gang hinauf und hinunter, doch sie war allein. Als sie zu den Regalen mit Bier, Wein und Spirituosen ging, sah sie nicht mehr als ein Dutzend anderer Kunden mit Körben dort herumlungern. Sie blieb vor einem orangeroten Sonderpreis-Schild stehen und sah sich verstohlen um. Das Gefühl wollte einfach nicht weggehen.

Was hatte sie gesehen? Etwas aus dem Augenwinkel, eine Gestalt, die einmal zu oft in ihre Nähe gekommen war? Mustererkennung, rief sie sich ins Gedächtnis, die stärkste kognitive Fähigkeit des Menschen. Eine unserer Gehirnfunktionen, die sich entwickelt hat, um Raubtiere im Unterholz und Beutetiere in der Savanne zu erkennen. Sie hielt weiter Ausschau für den Fall, dass ihr jemand auffiel, eine Silhouette oder ein Profil, ein Umriss, der ihr bekannt vorkam. Doch sie entdeckte nichts. Kunden füllten ihre Einkaufskörbe. Das Fertiggericht und ein paar Flaschen Importbier waren alles, was sie wollte. Eva sah sich weiter um, während sie zur Expresskasse ging, blickte beim Scannen der Barcodes immer wieder auf. Nichts, dachte sie, als sie den Supermarkt verließ, nichts und niemand. Trotzdem ging das Gefühl nicht weg.

Als sie in dieser Nacht im Bett lag, stellte sie sich vor, dass ein Schwert über ihr hing, nur von einem dünnen Faden gehalten. Noch eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Eva fragte sich, wieso diese Erinnerungen jetzt häufiger auftauchten. Ein Schwert, das an einem Faden hing, und es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Faden riss. Nur eine Frage der Zeit, bis Razins Leute noch einmal versuchten, sie umzubringen.

Hadley wusste das bestimmt auch, dachte sie. Er musste es wissen, dann Hadley hatte alles eingefädelt. Ihre vorzeitige Beförderung, ihre Versetzung, den Kontakt zu Cowan. Alles ging auf ihn zurück. Hadley war kein richtiger Polizist, er war etwas anderes; sie wusste nicht genau, was. Ein Geheimdienstler, hatte Cowan gesagt, doch Eva war klar, dass das bei Weitem nicht alles war. Eine Art Puppenspieler. Ein Manipulator mit einer Vielzahl von Kontakten, der tun würde, was er sagte, nämlich, sie nach Belieben benutzen und wegwerfen, denn schließlich wusste Alastair Hadley Bescheid.

Über dich werde ich auch bald Bescheid wissen, dachte Eva und starrte die Zimmerdecke an. Nebenan zählte der Prozessor der Unendlichkeit entgegen. Ich besorge mir die Beweise, ich weiß, wo sie sind. Sie rollte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen.

Sie sind so nahe, dass ich sie fast berühren kann.

Etwas weckte sie gegen zwei Uhr morgens. Sie wusste nicht, was. Alles, was sie wusste, augenblicklich und intuitiv, war, dass sich etwas verändert hatte. Sie setzte sich im Bett auf, schlagartig hellwach, und lauschte, doch nur der ferne Verkehr war zu hören, der noch immer durch die Nacht brummte. Eva stieg aus dem Bett und tappte barfuß durch die Wohnung. Unten auf der Straße sah sie einen Lastwagen darauf warten, dass die Ampel umsprang. Als das geschah, rollte er an und wurde von einem Lieferwagen überholt. Gelegentlich kam ein Auto unter ihrem Fenster vorbei, sonst nichts.

Eva ging ins Wohnzimmer. Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen; die Mühe machte sie sich nur selten. Ihre Wohnung lag im fünften Stock, und kein Gebäude in der Nähe war höher. In der Ferne sah sie die Lichter eines einsamen Flugzeugs, das zur Landung in Heathrow ansetzte.

Etwas hatte sie geweckt, irgendetwas hatte ihren Schlaf gestört. Ein Albtraum? Sie konnte sich an keinen bösen Traum erinnern. Aus reiner Gewohnheit ging Eva zum Tisch und stupste die Maus an, die an den Laptop angeschlossen war. Als der Bildschirm hell wurde, begriff sie etliche Sekunden lang nicht, was sie da vor sich sah. Als es ihr klar wurde, musste sie sich einen Freudenschrei verkneifen. Anstelle des Zählwerks zeigte der Bildschirm eine Nachricht:

FuckU2hell!?

Der Grafikprozessor hatte das Passwort geknackt. Sie zählte die Zeichen; insgesamt zwölf, zwei Großbuchstaben, eine Ziffer und zwei Sonderzeichen. Kein schlechtes Passwort, das musste sie zugeben. Kein Wunder, dass der Prozessor so lange gebraucht hatte. Aber es war typisch für ihn, ein Stück hasserfüllte Böswilligkeit, die die Schwärze widerspiegelte, die seine Seele gewesen war. Fuck you to hell, dachte sie und starrte auf den Bildschirm. Genau das habe ich getan. Und das weißt du auch, nicht wahr?

Als sie das Fenster minimierte und sich die Statistiken ansah, stellte sie fest, dass das Programm, das der Prozessor verwendet hatte, tatsächlich kaum zwanzig Minuten nachdem sie ins Bett gegangen war, angehalten hatte. Es war kein Audio-Alarm programmiert, also war es nicht das Ende des Suchprozesses gewesen, das sie aufgeweckt hatte. Aber etwas hatte sie geweckt. Ihre Kehle war plötzlich trocken. Eva ging wieder ins Schlafzimmer und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das auf ihrem Nachttisch stand. Sie schluckte und atmete dann tief durch, bereit, sich den Laptop vorzunehmen. Und hustete. Hustete noch einmal. Merkte, dass sie nicht aufhören konnte zu husten.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie machte überall Licht. Ein dünner grauer Nebel hing dicht vor der Tür des Wohnzimmers, vor der, die in den Wohnungsflur führte. Eva ging hin und öffnete sie.

Der Flur war voller Rauch.

Sie knallte die Tür zu, rannte zum Fenster und streckte den Kopf hinaus, doch sie konnte nichts sehen. Keinen wabernden Rauch, keine orangerot flackernden Flammen. Brannte es nur in ihrer Wohnung? Panik begann tief in ihrem Bauch zu rumoren; sie rannte ins Bad, schnappte sich ein Handtuch und tränkte es mit Wasser. Dann wickelte sie es sich ums Gesicht, holte Luft und öffnete die Tür zum Flur.

Rauch wallte herein. Eva kauerte sich hin und kroch auf allen vieren auf die Wohnungstür zu. Als sie sie erreichte, berührte sie sie mit dem Handrücken. Sofort riss sie die Hand weg.

Sengende Hitze. Ein Feuer draußen im Hausflur. Warum war der Feueralarm nicht losgegangen? Blöde Frage, wies sie sich selbst zurecht. Der Feueralarm war nicht losgegangen, weil daran herumhantiert worden war. Jemand versuchte wieder, sie umzubringen, und denen war es egal, wer noch dabei draufging. Ein jäher Gestank. Stechend, ihre Augen tränten. Jemand hatte die Tür mit brennbarer Flüssigkeit präpariert.

Das Erste, was Eva tat, war, die Wohnzimmertür zuzuknallen und das Handtuch in den Spalt zwischen Türblatt und Fußboden zu stopfen. Dann suchte sie ihr Handy und wählte den Notruf. Als sich die Zentrale meldete, nannte sie ihren Namen, Dienstgrad, Dienststelle und Dienstnummer. »Das hier könnte sich zu einer schweren Notlage entwickeln«, erklärte sie. »Ich kann Brandbeschleuniger riechen.«

»Wollen Sie damit sagen, es handelt sich um Brandstiftung?«

Sie hörte die Zweifel in der Stimme des Mannes. »Ich sag Ihnen mal was«, fauchte sie, »kommen Sie doch her und schnuppern Sie selbst. Schauen Sie doch mal, ob Sie das riechen können, was ich rieche. Entweder das, oder Sie schicken die Polizei und die Feuerwehr her, und zwar sofort.«

»Die sind schon unterwegs«, versicherte der Mann eilig. »Die Türen sollten halten. Wie ist die Luft im Zimmer?«

Sie konnte Rauch unter der Wohnzimmertür hervorkriechen sehen. Der Mann hatte recht, doch die Wohnungstür geriet anscheinend schneller in Brand, als sie eigentlich sollte. »Nicht gut, ich glaube, die haben irgendwas über meine Tür gekippt. Ich hoffe, nur über meine.«

»Drei Löschfahrzeuge und vier Rettungswagen sind in ein paar Minuten bei Ihnen«, sagte der Mann. »Können Sie den Feueralarm auslösen?«

»Ich glaube, der Alarm ist manipuliert worden.« Die Luft wurde allmählich dicker, als rolle ein schwarzer Nebel herein. Eva fing wieder an zu husten

»Die Türen werden halten«, versicherte ihr der Mann hartnäckig. »Bleiben Sie ruhig.« Plötzlich leckten Flammenzungen an den Rändern der Tür zum Flur.

Eva gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Schrei und einem Fluch lag. »Fünfter Stock!«, brüllte sie den Mann an. »Und, nein, die Türen werden nicht halten, wenn irgendein Arschloch da Azeton drüber gekippt hat.« Die Wohnzimmertür fing Feuer.

»Die Einsatzkräfte sind in drei Minuten vor Ort«, sagte der Mann. »Halten Sie sich dicht am Boden, und bedecken Sie Ihren Mund …«

Sie musste das Telefon fallen lassen. Jähe Hitze; eine schwarze Rauchwolke quoll ins Zimmer. Eva wusste, wie schnell Feuer war. Sie verstand Feuer; sie hatte während der Ausbildung Lernvideos gesehen. Erfahrung aus erster Hand war etwas ganz anderes.

Sie musste hier raus. Die Türen würden nicht halten. Der Rauch würde sie umbringen, bevor die Löschfahrzeuge eintrafen und die Feuerwehrleute es bis in ihr Stockwerk schafften. Vielleicht konnte sie vom Balkon aus in die Wohnung unter ihr klettern. Rasch schaute sie zum Fenster. Sie musste es versuchen. Eva rannte zu der Tür, die auf den winzigen Balkon hinausging, dann jedoch hielt sie inne. Der Rauch bildete bereits eine dichte Schicht unter der Decke. Das wollen die doch.

Sie kauerte sich auf den Boden und versuchte nachzudenken. Wenn sie die Balkontür öffnete, würde der plötzliche Luftschwall das Feuer noch mehr anfachen. Sie würde auf den Balkon hinausgetrieben werden. Vielleicht würde es ihr gelingen, von da aus hinunterzuklettern, doch selbst wenn, würde der Inhalt ihrer Wohnung in Flammen aufgehen. Genau das war es, was die wollten. Vielleicht würde sie überleben, vielleicht würde sie umkommen. So oder so, die Beweise würden vernichtet sein.

Von wegen! Sie eilte in die Ecke des Zimmers, die am weitesten von der Tür entfernt war, und kauerte sich abermals hin. Der Rauch brannte in ihrer Lunge, doch sie schaffte ein Dutzend tiefe Atemzüge. Dann rannte sie ins Schlafzimmer, tauchte unters Bett und zog die Kassette hervor. Ihre Augen schmerzten. Von dem stechenden Brandbeschleuniger tränten sie so sehr, dass sie nicht sehen konnte, wo sie hintrat. Wieder runter auf den Boden. Kriechen. Die Kassette mitzerren. Zum Fenster. Noch einmal.

Sie rannte zurück ins Wohnzimmer und riss den Laptop von seiner Ladestation. Wieder in die Zimmerecke. Noch ein Schritt, dachte Eva, während die schwarze Rauchschicht, die sich unter der gesamten Zimmerdecke ausgebreitet hatte, auf sie herabsank. Sie riss die Balkontür auf.

Hinter ihr ein Flammenstoß, als das Feuer neue Nahrung bekam. Eva rannte auf den Balkon, gerade als eine Flammenzunge ganz kurz herausleckte, und spürte die Rauchgasentzündung, als Frischluft ins Zimmer gesaugt wurde. Die Fensterscheiben sprangen. Selbst auf der anderen Seite des Raums wurde die Hitze allmählich schlimm.

Dichte schwarze Rauchwolken wallten durch die offene Balkontür. Von irgendwoher hörte sie einen Aufschrei und dann Gebrüll. Unten auf der Straße kamen Löschfahrzeuge schleudernd zum Stehen. Sie sah ein Dutzend Feuerwehrleute aus den Wagen auf das Gebäude zustürmen. In ihrer Wohnung brannten die Möbel. Der Balkon war kein sicherer Hafen. Das Feuer würde auch ihn in den nächsten paar Minuten verschlingen.

Sie musste hinunterklettern.

Eva wollte das nicht tun, barfuß und nur in Slip und T-Shirt. Der Weg nach unten machte ihr eine Heidenangst, doch sie wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb. So schwer ist das doch nicht, versuchte sie, sich einzureden. Du schaffst das. Sie zog die Kassette und den Laptop näher an das Metallgeländer des Balkons. Dann schwang sie ein Bein darauf und kletterte hinüber.

Festhalten! Als ob sie sich das noch extra sagen müsste. Fünf Stockwerke. Senkrecht hinunter auf einen Betongehsteig, der wunderschöne Flecken abkriegen würde, wenn ihr Schädel darauf barst. Eva ließ sich immer weiter hinab, bis sie am Geländer hing wie ein Kind an einem Klettergerüst, und bemühte sich verzweifelt, den Balkon unter ihr mit dem Fuß zu ertasten. Ganz kurz pendelte sie hinaus ins Leere, und ihr Bein strampelte in der Luft. Ihre Hände rutschten am glatten Metall des Geländers. Sie sackte ein paar Zentimeter tiefer, und ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Dann stieß ihr Fuß gegen etwas Kaltes, Hartes. Jäh fand sie sich zwischen zwei Balkonen wieder, die Füße auf dem einen Geländer, während sich ihre Hände an die unterste Stange des anderen klammerten. Sie wusste nicht weiter.

Eine Rauchwolke sank herab. Die Geschwindigkeit des Feuers war furchterregend. Einen Moment lang drückte sie das Kinn an die Brust, holte Luft und schaute dann über den Rand des Steinbodens auf den Balkon über ihr. An die Kassette konnte sie herankommen. Eva streckte einen Arm unter dem Geländer hindurch, packte sie und zerrte sie zu sich heraus. Sie auf den unteren Balkon fallen zu lassen, war nicht sehr schwer.

Mit dem Laptop würde es nicht so einfach sein. Tiefe Atemzüge; die Hitze wurde unerträglich, doch wenigstens war sie jetzt über ihr und stieg nach oben. Sie griff unter dem Gitter hindurch nach dem Laptop, doch die Hitze versengte ihr den Arm, und sie ließ den Computer fallen. Noch mal, befahl sie sich. Sie blickte hoch, über den Balkonboden hinweg, stieß den Arm durch die Lücke unter dem Geländer und packte den Laptop mit einer einzigen fließenden Bewegung. Zog ihn hindurch. Schwang ihn gerade auf den unteren Balkon zu, als das Fenster über ihr schließlich zerbarst. Dünne Glassplitter flogen über sie hinweg, schimmernd und funkelnd im Schein der Flammen. Plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen, als noch etwas zu Bruch ging, vielleicht ein Metallrohr, etwas, das der Hitze nicht mehr gewachsen war. Der Knall war so laut, dass sie zusammenfuhr.

Der Laptop rutschte ihr aus den Fingern.

Sie schaute nach unten, als er den Balkon streifte und dann ins Leere wirbelte. Fast hätte sie versucht, danach zu greifen, doch dann überwältigte sie heißkalte Furcht vor dem Fallen, und sie konnte nur zusehen, wie er auf den Gehsteig zustürzte. 9,81 Meter pro Sekunde zum Quadrat, meldete sich irgendetwas in ihrem Hinterkopf. Der Laptop zerschellte wie ein gläserner Kelch, als er auf dem Gehsteig aufschlug.

Furcht, Zorn, Wut, Todesangst, sie konnte sich nicht entscheiden, welches Gefühl am stärksten war. Die Hitze von oben war jetzt unerträglich. Es fühlte sich an, als stünden ihre Hände am Metall des Geländers in Flammen. Sie musste loslassen, doch ihre Füße balancierten noch immer auf dem Geländer des Balkons unter ihr. Eine Fifty-fifty-Chance. Entweder würde sie auf den Balkon fallen oder auf den harten Beton des Gehsteigs. Das Metall über ihr war zu heiß, um sich daran festzuhalten. Eva machte sich bereit, ein letztes Risiko einzugehen. Wieder ein Krachen. Die Tür zum unteren Balkon wurde aufgerissen. Ein Mann in hellbrauner Montur stürmte hindurch und packte sie um die Taille. Sie fühlte, wie sie von Armen heruntergezerrt wurde, gegen die sie sich nicht zur Wehr zu setzen gedachte. Wie sie wie ein Sack Kartoffeln herumgewuchtet, fast auf den Boden geschmissen und dann an einen zweiten Feuerwehrmann weitergereicht wurde. »Alles okay, Miss?«, brüllte der.

Ihre Hände schmerzten. Eva betrachtete sie, doch sie waren nicht verbrannt. Sie nickte, als die beiden Männer sie wegzerrten. Das Letzte, was sie sah, als sie über das Balkongeländer schaute, waren die Überreste ihres Laptops, die unten auf dem Gehsteig verstreut waren.