21. Kapitel

Einer von Moresbys Männern stellte ihr Fragen. Sein Name war Daniels, so viel wusste sie noch. Er stand neben dem Rettungswagen und wirkte nervös. »Ich sollte ihn aufwecken, Ma’am«, sagte er und wusste nicht recht, wo er hinschauen sollte. Er meinte Moresby.

Eva hatte sich eine Rettungsdecke aus Metallfolie um die Schultern geschlungen, doch sie hatte nichts, womit sie ihre Beine bedecken konnte. Egal. Es kümmerte sie einen Scheiß. Jemand hatte versucht, sie umzubringen, schon wieder. Diesmal jedoch hatte sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Es war nur ein Name, ein Zufall bei einer alten polizeilichen Untersuchung, von dem Warren Muir geglaubt hatte, damit für seinen Platz an der Sonne zahlen zu können oder für seinen Pub im West Country oder vielleicht auch für seinen Scheiß- Altenheimplatz. Eva kochte vor Wut. Nicht nur hatten die sie umbringen wollen, sie hatten auch alle anderen in ihrem Wohnblock in Gefahr gebracht, und dabei kannte sie ihre Nachbarn noch nicht einmal. Razins Schuld, Hadleys Schuld – und auch ihre Schuld, gestand sie sich im Stillen ein. Am liebsten hätte sie auf etwas eingedroschen, auf irgendetwas, doch sie wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, aus der Rolle zu fallen. »Lassen Sie ihn schlafen«, war alles, was sie zu Daniels sagte. »Er erfährt’s ja noch früh genug.«

Die Rettungshelferin stemmte die Hände in die Hüften. »Ich würde Sie wirklich gern ins Krankenhaus bringen, damit Sie richtig untersucht werden können. Es könnte ja doch etwas kaputt sein.«

»Es ist nichts kaputt«, erklärte Eva ihr. »Und daraus wird nichts. Ich rühre mich hier nicht weg, bis mir die Leute von der Feuerwehr bestätigen, dass sie alle anderen rausgeholt haben.« Sie wandte sich an Moresbys Constable. »Sie könnten wohl nicht mal schauen, ob irgendjemand auf dem Revier etwas zum Anziehen für mich besorgen kann? Ich glaube nicht, dass mein Kleiderschrank das überlebt hat.«

Daniels begann zu telefonieren.

»Und ein Handy«, fügte sie hinzu, als er sich abwandte. »Ein Handy brauche ich noch dringender als Klamotten.«

Hinterher fuhr Eva aufs Revier. Sie hatte nicht auf Daniels gewartet. Noch immer in T-Shirt, Slip und einer silbernen Rettungsdecke, achtete sie nicht auf das Glotzen des Officer am Empfang, sondern tappte hinauf in die Einsatzzentrale und begrub die Metallkassette, die sie aus ihrem Schlafzimmer gerettet hatte, in einem Schrank unter Akten. Dann versteckte sie den Schlüssel zu dem Aktenschrank in ihrem Schreibtisch. Das würde genügen müssen, beschloss sie. Besser bekam sie es im Moment nicht hin. Mit ein bisschen Glück würden der oder die Brandstifter denken, die Kassette sei verbrannt, vorausgesetzt, die hatten überhaupt erraten, dass sie das Ding in ihrer Wohnung versteckt hatte. Vielleicht hatten sie sie ja einfach nur umbringen wollen. Vielleicht hätte ihnen das gereicht.

Eva saß an ihrem Schreibtisch und starrte die Wand an. Fuck. Noch eine Minute länger, und der Rauch hätte ihr den Rest gegeben. Wäre sie nicht genau in diesem Moment aufgewacht, wäre sie erstickt. Wenigstens hatte der Einsatzleiter der Feuerwehr bestätigt, dass es keine Toten gegeben hatte. Die Rettungswagen hatten ein paar Bewohner des Hauses mit Verdacht auf Rauchvergiftung ins Krankenhaus gebracht, aber niemand war ernsthaft verletzt worden. Sie hatte sich von einem Streifenwagen aufs Revier mitnehmen lassen, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes nirgendwo sonst hinkonnte. Alles, was sie besaß, war vernichtet worden, und jetzt war der Laptop auch noch hinüber.

Das Bild, wie er auf dem Gehsteig zerschellte, kam zurück. Doch vielleicht spielte das gar keine Rolle, dachte sie und richtete den Blick auf das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Auf dem Laptop war ein Disk Image der Festplatte eines anderen Computers gewesen, und dieser Computer lag noch immer in einem Asservatenschließfach. Wenn sie sich eine neue Kopie besorgen konnte, konnte sie bei der das Passwort anwenden. Das Problem dabei war, dachte sie, während sie mit der Idee spielte, den Hörer abzuheben, dass sich dafür jemand unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Zugang zu einem bewachten Schließfach in der Asservatenkammer verschaffen musste. Möglich war das, das wusste sie; das hatte nämlich schon einmal jemand für sie getan. Doch die Vorstellung, eine Freundin bitten zu müssen, noch einmal ein solches Risiko für sie einzugehen, wog so schwer, dass es sich anfühlte, als würde sie sie zermalmen. Als sie jedoch über die Alternativen nachdachte, wurde Eva klar, dass sie keine Wahl hatte. Sie griff nach dem Hörer und wählte eine Nummer, die sie auswendig wusste. Beim ersten Mal sprang nach sechs Klingeltönen am anderen Ende die Mailbox an, also legte sie auf und versuchte es noch einmal. Dasselbe geschah beim zweiten Mal, also versuchte sie es wieder. Nach vier Klingeltönen meldete sich jemand.

»Wenn das jetzt so’n verdammter Werbeanruf ist …«

»Tisha«, zischte sie. »Hier ist Eva.«

Nuscheln. »Eva? Was’n los?« Leticia North schien verwirrt, aber um halb fünf Uhr morgens würde auch jeder verwirrt wirken. Aber der Klang ihrer Stimme. Es tat gut, wieder eine echte Freundin zu hören. Eva kannte Tisha seit ihrem allerersten Tag bei der MPCCU . Sie hatte ebenfalls Informatik studiert, und sie und Eva hatten sich auf Anhieb verstanden. Tisha, ihre Cornrows und das ständige Gejammer, das Eva jedes Mal hatte ertragen müssen, wenn sie die hatte straffen lassen. Tisha kannte sie. Sie wusste sogar den größten Teil der Wahrheit über Colin Lynch. Von allen Menschen wollte Eva Tisha am allerwenigsten ihre Probleme aufhalsen, weil sie wusste, dass Tisha tun würde, was immer sie konnte, um ihr zu helfen. Und doch tat sie jetzt genau das.

»Ich habe Ärger«, gestand sie und erzählte Tisha von dem Brand.

Sie hörte, wie Tisha nach Luft schnappte. »Großer Gott, Eva, bist du okay? Waren das Lynchs Leute?«

»Nein«, antwortete sie, doch dann wurde ihr klar, dass ihre Antwort nicht eindeutig war. »Ich meine, ja, ich bin okay, aber nein, mit Lynch hatte das nichts zu tun.« Sie wollte das mit Semjon Razin nicht erklären, dies war nicht der richtige Zeitpunkt. »Das ist ein anderer Fall, und Hadley mischt dabei mit. Tisha«, sagte sie und wagte kaum, es auszusprechen, »der Grafikprozessor hat funktioniert. Ich hab das Passwort.«

»Sollte er verdammt noch mal auch«, knurrte Tisha. »Das Ding war getunt bis zum Anschlag. Ich hab ihn selber gepimpt.«

»Aber der Laptop hat’s nicht geschafft. Der ist mir runtergefallen, als ich über den Balkon ein Stockwerk tiefer geklettert bin.«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet, dass Tisha das Problem erkannt hatte. Eva wartete auf ihre Antwort.

»Ich muss dir ein neues Disk Image machen.« Es klang nicht so, als hielte Tisha das für eine Frage.

Sie hatte gewusst, dass ihre Freundin sofort verstehen würde. »Ist das möglich?«

»Möglich ist alles«, begann Tisha.

Eva beendete den Satz für sie. »Aber ob’s machbar ist, das ist eine ganz andere Frage.« Ein alter Witz, über den sie früher oft gelacht hatten. Es kam ihr vor, als kehre er jetzt zurück, um sie zu peinigen. Sie wartete weiter.

»Dafür muss ich noch mal an das Asservatenschließfach ran«, meinte Tisha. »Einen Laptop kann ich da nicht mit reinnehmen, das lässt die Wache nicht zu. Die Hälfte von dem Zeug in der Asservatenkammer sollte eigentlich versiegelt und verplombt sein.«

»Ist verdammt viel verlangt, ich weiß.«

»Das ist es gar nicht«, erwiderte Tisha. »Es geht nur um die praktischen Aspekte. Aber ein Handy und einen USB -Stick könnte ich da schon reinschmuggeln«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Irgendeine Ausrede fällt mir bestimmt ein. Du willst nicht, dass ich einfach das Passwort bei dem Originalcomputer anwende?«

»Großer Gott, nein«, wehrte Eva ab. »Ich will auf keinen Fall, dass du an diese Daten rangehst, die sind scheißtoxisch.« Sie zögerte kurz. »Wenn du’s schaffst, kannst du mir den Stick mit der Post schicken?«

»Wohin denn? Ich dachte, dir ist gerade die Bude abgefackelt worden?«

»Aufs Revier«, antwortete Eva.

»Ist das eine gute Idee?«

Eva leckte sich die Lippen. »Hast du noch welche von diesen Briefumschlägen?« Sie meinte die Umschläge, die die Abteilung für Cyberverbrechen vor ein paar Jahren bei einer Drogenrazzia beschlagnahmt hatte. So genial seitens des Dealers, dass die ganze Einheit über diese Dreistigkeit gestaunt hatte.

Tisha lachte. »Wie, die mit dem gefälschten Logo vom Finanzamt und dem Aufdruck ›persönlich – vertraulich‹ drauf? An die komme ich ran. Du hast recht, niemand, der bei klarem Verstand ist, fasst einen Brief vom Finanzamt an.« Wieder lachte sie. »Du fehlst mir, du Idiotin.« Eva konnte die nächste Frage kommen hören. »Bist du sicher, dass du okay bist?«

Jäh sackten ihre Schultern herab. Eva stützte den Kopf auf die Hand und umklammerte den Telefonhörer. »Überhaupt nicht«, gab sie zu. »Ich sollte überhaupt nicht hier sein. Das bin ich doch gar nicht. Ich bin als DI für Cybercrime gepusht worden, für einen Tech-Job. Gegen die Einsätze in den anderen Abteilungen hatte ich nichts; ich wusste ja, dass die nur ein paar Monate dauern würden. Aber dann ist Lynch aufgetaucht, und jetzt hat Hadley mich am Arsch.«

»Du musst da raus.«

»Ich kann nicht«, stieß Eva hervor. »Hadley benutzt mich. Er weiß, dass er mich in der Hand hat. Ich kann nicht raus, solange ich ihn am Hals habe. Und jetzt werden hier tatsächlich Menschen ermordet, und ich soll dafür sorgen, dass das aufhört. Wie mache ich das, verdammte Scheiße? Ich bin doch gar kein richtiger DI . Okay, ich habe die Prüfungen bestanden, aber das schafft doch jeder, der ein Gehirn hat. Richtige DI s bringen jahrelange Berufserfahrung mit, nicht ein paar Jahre als DS und ein Informatik-Diplom«, wütete sie. »Irgendjemand versucht, mich umzubringen, und Hadley ist das scheißegal. Du weißt ja, wie der ist. Wenn ich heute Nacht verbrannt wäre, hätte er sich einfach das Revers abgeklopft und weitergemacht wie immer.«

»Er ist ein fieser Drecksack«, pflichtete Tisha ihr bei. Dann holte sie tief Luft. »Aber mit Hadley wirst du fertig.«

»Vielleicht«, brummte Eva.

»O doch«, beharrte Tisha, »und das weißt du auch. Harris, du bist der gnadenlos logischste Mensch, dem ich je begegnet bin. Dutzende Male hab ich dich schon erlebt, wenn du ein Problem hattest, und du lässt es nie gut sein. Du bist dogmatisch, eine Nervensäge und mäßig bis total durchgeknallt, aber du gibst niemals auf. Trial and error . Was anderes gibt es nicht, es gibt keinen besseren Lösungsansatz. Man versucht es immer wieder, man macht immer wieder Fehler, man fällt auf den Arsch, aber man steht sofort wieder auf, und schließlich kriegt man’s hin. Hör mir zu.«

Eva starrte den Telefonhörer an. Aus irgendeinem Grund schien er zu verschwimmen. Sie hatte wohl immer noch Rauch in den Augen, denn sie musste sie heftig reiben.

»Ich kann dir ein neues Disk Image besorgen«, fuhr Tisha fort. »Und das werde ich auch tun, ich versprech’s. Was ist mit dem Arschloch, das deine Wohnung in Brand gesteckt hat?«

»Mach dir um den keine Sorgen«, flüsterte Eva. »Den kriege ich noch früh genug.«

»Siehst du? Scheißerbarmungslos. Damit hättest du also schon zwei von deiner Liste gestrichen. Und dieser andere Mörder?«

»Diese anderen Mörder«, korrigierte Eva.

»Bist du dicht an denen dran?«

»Ich komme ihnen allmählich näher.«

»Siehst du, was ich meine? Du hast vielleicht keine jahrelange Berufserfahrung, aber du bist klug und hartnäckig. Ich weiß, dass du einstecken kannst, das wissen wir alle. Wir haben’s ja weiß Gott gesehen.« Tisha hielt kurz inne. »Aber, Eva? Es wird Zeit, auch mal auszuteilen. Hör zu, vergiss das mit dem Umschlag. Ich richte einen Link zu einem sicheren Server außerhalb der EU ein, dann kannst du dir das Disk Image von da runterladen. Da brauche ich was Illegales, damit die Traceroute nicht gefunden wird, aber das ist kein Problem. Du kriegst den Link im Laufe des Vormittags, ich versprech’s dir. Aber du musst diesen Arsch fertigmachen. Du kannst doch nicht zulassen, dass er dir den Rest deines Lebens im Nacken sitzt. Würg ihm eine rein, da, wo’s wehtut«, wies Tisha sie an. »Fackel ihn ab. Er hat’s verdient. Du weißt, dass du das schaffen kannst.«

Eva packte den Hörer noch fester. »Geht klar. Danke, Tisha«, fügte sie hinzu. »Und du hast recht. Zwei sind schon fast erledigt. Bleiben noch zwei.«

»Weißt du schon, was du als Nächstes machst?«

»O ja«, antwortete Eva. »Ich weiß genau, was ich als Nächstes mache.«

Flynn kam um kurz vor sechs in ihr Büro geplatzt. Sie trug einen Jogginganzug und keinerlei Make-up, und sie starrte Eva an. »Sie wissen schon, dass das langsam mal aufhören muss? Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Boss, aber das läuft hier allmählich aus dem Scheißruder. Was haben Sie denn mit diesem Lynch gemacht, dass der so sauer auf Sie ist?«

»Ich habe ihn kaltmachen lassen«, antwortete Eva, bevor sie nachdenken konnte. Tishas Stimme zu hören hatte sie unvorsichtig gemacht.

Flynn sah perplex aus. »Na ja, das hat wahrscheinlich gereicht. Los, kommen Sie«, fuhr sie fort und hielt die Tür auf. »Ich habe ein Gästezimmer und was zum Anziehen für Sie. Sie können ein paar Stunden schlafen, und ich erkläre solange Sutton, warum die Dienststelle Ihnen neue Klamotten schuldet.«

Müdigkeit und Schock drohten sie zu überwältigen. »Sind Sie sicher, dass Ihnen das nichts ausmacht? Ich könnte wirklich ein bisschen Schlaf gebrauchen, aber ich gehe Ihnen bestimmt nicht lange auf die Nerven.«

Flynn machte eine wegwerfende Geste. »Bleiben Sie, so lange Sie wollen. Im Moment habe ich keinen Freund, es ist also nicht so, als würden Sie bei irgendwas stören.« Sie furchte die Stirn. »Aber das braucht Sutton nicht zu wissen.«

Eva fiel absolut kein Grund ein, warum sich DCI Sutton für DS Flynns Bettgeschichten interessieren sollte, doch sie fragte trotzdem. »Warum?«

»Ich hatte was mit dem Gewerkschaftsvertreter.« Flynn grinste. »Ich glaube, Sutton weiß, dass es mehr Ärger als Vorteile einbringen kann, wenn man da reinpfuscht«

Um kurz nach zwölf war sie wieder auf dem Revier. Flynn hatte Wort gehalten. Während Eva geschlafen hatte, hatte sie bei DCI Sutton ein Budget ausgehandelt, und nachdem sie aufgewacht war, waren sie im Stadtzentrum shoppen gegangen. Am späten Vormittag hatte sie etwas zum Anziehen und Taschen gehabt, in denen sie ihre neuen Sachen verstauen konnte. Haute Couture war es nicht gerade, dachte Eva, als sie sich im Kaufhaus im Spiegel betrachtete, aber doch wenigstens etwas.

Auf dem Revier schob sie eine SIM -Karte in ihr neues Handy und loggte sich dann in einen Cloud-Server ein, um ihre Daten herunterzuladen. Als sie ihren Posteingang überprüfte, sah sie einen Haufen E-Mails, darunter eine, die aussah wie Spam von einer Filesharing-Firma in Mauretanien. Tisha, dachte Eva und versteckte die Mail in einem Archivordner. Wieder einmal hatte sie sie nicht enttäuscht.

»Ich brauche einen neuen Computer«, erklärte sie Sutton.

Ihre Vorgesetzte schien nicht über so etwas reden zu wollen. »Harris«, begann sie.

Eva schüttelte den Kopf. »Können wir das bitte erst mal lassen? Ich bin wirklich nicht in Stimmung dafür. Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, drehe ich durch, also muss ich mit den Problemen weitermachen, die ich lösen kann. Ich muss arbeiten können. Mein Laptop war in der Wohnung.«

Sutton sah sie unverwandt an. Eva schaute nicht weg.

»Ich kann der IT -Abteilung Bescheid sagen, dass das Priorität hat«, sagte Sutton schließlich.

»Ich mach’s lieber selbst, Ma’am«, wehrte Eva ab. »Die von der IT -Abteilung werden echt sauer auf mich sein, aber ich will ein paar MPCCU -Tools installieren. Tut mir leid, dass ich so krass klinge, aber im Moment gibt es nur eins, was ich von Ihnen will.«

Sutton funkelte sie an. »Und das wäre?«

»Geld.«

Sie wusste, dass Sutton ein Notfallbudget hatte, und sie hatte vor, es nach Kräften auszunutzen. Eva ging abermals ins Stadtzentrum und klapperte rasch die Handvoll Läden ab, die Computer verkauften. Schließlich stand sie in einem Geschäft mit einem glänzenden Logo und zahlte einen horrenden Preis für ein silbernes Gerät, das so leistungsfähig war, dass sie darauf wahrscheinlich einen Spielfilm hätte animieren können. Aber das war ihr ganz recht. Sie verließ das Geschäft, kehrte aufs Revier zurück und richtete bei geschlossener Bürotür an ihrem Schreibtisch den Computer ein. Sie hatte nicht die Absicht, das IT -Subunternehmen, das normalerweise den Support für die Polizei der Grafschaft stellte, auch nur in die Nähe dieses Laptops zu lassen. Ihren Netzwerkaccount und die Zugangsdaten hatte sie noch, von dem Laptop, den sie gestern Abend mit nach Hause genommen hatte. Alles andere beabsichtigte sie selbst einzurichten.

Der Computer im Computer. Sie unterteilte die Festplatte und installierte zwei separate Betriebssysteme, dann machte sie sich daran, in jedem davon virtuelle Maschinen zu erschaffen. Sie loggte sich ins Netzwerk ein und lud eine ganze Anzahl Anwendungen von ihrem MPCCU -Account herunter, die ihr sowohl dabei helfen würden, ihre eigenen Spuren zu verwischen, als auch, den Spuren anderer zu folgen.

Eva schaute zur Tür. Anscheinend traute sich niemand, sie heute Nachmittag zu stören. Oder Flynn hatte allen gesagt, sie sollten sie in Ruhe lassen und ihr ein bisschen Raum geben. Trotz Flynns knallharter Schale durchschaute Eva die Polizistin allmählich, und was sie sah, gefiel ihr. Im Augenblick fühlte sie sich sicher, also benutzte Eva die MPCCU -Tools, um zu verschleiern, was sie tat, und holte sich Tishas Disk Image von einem Server in Mauretanien.

Der Download dauerte dreißig Minuten. Eva versteckte das Disk Image in einer bereits verborgenen Location auf ihrer Festplatte und verschlüsselte dann auch die. Erst als sie sicher war, dass nichts und niemand ohne ihre Erlaubnis da herankommen würde, probierte sie das Passwort aus.

Den Namen des User-Accounts wusste sie bereits. Sie tippte FuckU2hell!? ein und wartete einen Moment, während ein blauer Kreis sich drehte. Eine Maschine in einer Maschine. Eine Emulation des Laptops, der in einem Asservatenschließfach lag, mit allen Daten und allen Sicherheitsschichten, die ihn schützten. Alles jetzt von dem Grafikprozessor zugänglich gemacht, den Leticia North ihr geschickt hatte. Durch den und durch Hunderte Stunden Zahlenverarbeitung. Evas Magen krampfte sich zusammen, während der Kreis sich drehte. Dann, langsamer als üblich, weil es ja nur ein virtueller Computer war, verschwand das Anmeldefeld, und das Image des Laptops baute sich auf.

Eva hielt den Atem an. Sie folgte sämtlichen üblichen Pfaden, suchte an allen üblichen Orten. Ein ordentlicher User war er nicht gewesen. Seine Dateien waren nicht gut strukturiert, doch das spielte keine Rolle. Sie machte sich auf die Suche und fand, worauf sie aus war. Den Offline-Backup seines E-Mail-Ordners. Als sie ihn öffnete, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Du Drecksack, dachte sie und starrte auf den Bildschirm. Jetzt hab ich dich, du Arsch. Da drin war alles, was sie sich jemals hätte erhoffen können. Seine Mails, die Mails der anderen. Vermeintlich für immer verloren, doch sie hatte gewusst, dass es irgendwo eine Backup-Datei geben würde. Eva speicherte noch eine zweite Kopie an einer anderen Location ihres Laptops, dann fuhr sie den virtuellen Computer herunter.

Einer weniger. Sie hatte die Kugel; abdrücken würde sie zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl. Bleiben noch drei. Eva stand auf, öffnete die Bürotür und ging zur Einsatzzentrale. Drei Augenpaare sahen sie an; niemand wusste, was er oder sie zu erwarten hatte.

»Raj, Jamie.« Sorgsam achtete sie darauf, dass ihre Stimme ruhig und fest blieb. »Könnten Sie mir alles bringen, was Sie über die Finanzen des Chatham Centre und zu Grau Laska gefunden haben?«

Raj und Jamie saßen vor Evas Schreibtisch. Flynn lehnte am Türrahmen. Das störte Eva nicht, sie hatte nur keine große Lust, ihren neuen Computer auf dem Revier herumzuzeigen, für den Fall, dass sich jemand gut genug auskannte, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Wahrscheinlich war das reine Paranoia, gestand sie sich ein. Andererseits hatte jemand mittlerweile zweimal versucht, sie umzubringen.

»Erzählen Sie mir etwas über Chatham.«

»Das Unternehmen läuft gut«, meinte Jamie. »Ungefähr fünfzehn Millionen Umsatz, acht- oder neunhundert Patienten pro Jahr. Jeder von denen zahlt im Schnitt so um die zwanzig Riesen für die Behandlung. Chatham Centre Limited Liability Partnership steht auf sicheren Füßen. Bei Chatham Centre Holdings Ltd.«, fuhr er fort und schob ihr einen Ausdruck zu, »ist das etwas anders.«

Eva warf einen kurzen Blick auf das Dokument, wartete jedoch darauf, dass er es erklärte.

»CCH sieht aus wie ein Anlageinstrument; es ist ein Joint Venture mit ProOptica SRO in der Slowakei. Das ist der Linsenhersteller, von dem Sie gesprochen haben.«

Eva recherchierte während Jamies Ausführungen, nicht nur mit Standardbrowsern, sondern auch mit Darknet- und Deep-Web-Tools. »Über wie viel reden wir hier?«

»Sechzig Millionen Pfund.«

Sie fand die Website von ProOptica fast sofort. Außerdem ein halbes Dutzend anderer Accounts für diverse Collaboration Services. Eva begann, mit den MPCCU -Tools zu sondieren, es dauerte nicht lange. Ein paar der Accounts hatten schwache Passwörter. »Wie gut ist Ihr Slowakisch?«

»Nicht vorhanden«, antwortete Newton. »Ist so was legal, Ma’am?«

»Begründeter Anfangsverdacht«, erwiderte Eva, doch ganz überzeugt sah er nicht aus. »Woher kommen die Investitionen?«

»Aus dem Privatvermögen der Aktionäre. Jeremy Odie, der Geschäftsleiter, hat anscheinend den Löwenanteil beigesteuert. Sollte man wohl auch erwarten.«

»Irgendwas Ungewöhnliches?«

»Ich glaube, das Ganze belastet sie ziemlich. Anscheinend finanzieren sie die Forschungsabteilung dieser Firma in der Slowakei, und noch zahlt sich das nicht aus.«

Die Posts der Collaboration Services waren nicht gerade eine Offenbarung. Sie ließ ein paar davon von einem Tool übersetzen. Sie waren banal. Konversationen über Projektabschnitte und Deadlines.

»Etwas habe ich aber noch gefunden«, sagte Newton. »Da ist eine Wirtschaftsprüferin eingesetzt worden.« Er nickte DS Chakrabati zu. »Raj hat beim Handelsregister ein paar Details über sie gefunden. Sie arbeitet für eine von den großen Beratungsfirmen und ist darauf spezialisiert, Firmen auf den Verkauf vorzubereiten, vor allem an größere Unternehmen in den Vereinigten Staaten. Wir glauben, sie entwirft eine Exit-Strategie.«

Eva warf den beiden einen raschen Blick zu.

»Das heißt, die vom Chatham Centre haben vor, aus ihren Investitionen Kapital zu schlagen und auszusteigen. Diese Nummer mit der Linse, von der Sie gesprochen haben …«

»Bright Eyes«, sagte Eva.

»Das sieht nach einer Riesensache aus. Chatham Centre hat in ihre Entwicklung investiert, hat sie bei Patienten angewendet und will sie jetzt verkaufen. Anscheinend ist das ein ziemlich übliches Vorgehen. Ein Unternehmen übernimmt bei einem Projekt sämtliche Risiken und gibt es dann an eine andere Firma weiter, die es weiterentwickeln kann. Die Geschäftsführer des ersten Unternehmens machen dabei einen Mordsreibach.«

Eva suchte immer noch weiter. »Und wo ist der Haken?«

»Wir können keinen finden«, antwortete Newton. »Außer dass die sehr auf Kante genäht sind. Sie müssen bald verkaufen oder sich von irgendwoher Geld beschaffen.«

»Könnte das ein Problem sein?«

Newton spreizte die Finger. »Wer weiß? Alles kann ich aus den gesetzlich vorgeschriebenen Unterlagen für so ein Unternehmen auch nicht rauskriegen. Es kommt darauf an, ob jemand denkt, dass sie bald aufgekauft werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Chatham es sich leisten kann, das Ganze noch länger weiterzufinanzieren.«

»Und Grau Laska?«

Chakrabati gab sich alle Mühe, kein selbstgefälliges Gesicht zu machen, doch es gelang ihm nicht. »Grau Matous Laska«, verkündete er. »Geboren am 14. Dezember 1984 in Prĕ sov in der Slowakei. Hat an der Comenius Universität in Bratislava in Optik, Laseroptik und optischer Spektroskopie promoviert. Ein Haufen Artikel von ihm sind in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht worden, mit Titeln, die ich kaum lesen, geschweige denn verstehen kann. Der Typ ist so intelligent, dass ich Zahnschmerzen davon kriege. Er arbeitet bei ProOptica als führender Linsendesigner.«

Evas Hände erstarrten über der Tastatur. »Was?«

»Ich nehme mal an, Laska ist das Gehirn hinter Bright Eyes. Wenn Bright Eyes verkauft wird, müsste Laskas Vertrag Teil des Deals sein, das wäre das übliche Verfahren.«

»Und wenn er nicht Teil des Deals wäre?«

Raj zuckte die Achseln. »Gut möglich, dass es dann keinen Deal gibt. Er bringt das Detailwissen mit, wie das alles funktioniert. Wenn man ihn nicht hat, hat man dieses Wissen nicht. Schlimmer noch, dann könnte er von einem Konkurrenten angeheuert werden. Grau Laska hat bei ProOptica eine ganz starke Position, auch wenn er das vielleicht noch nicht weiß.«

»Das ist ja nun ein bisschen schade«, bemerkte Eva.

Raj runzelte die Stirn. »Wieso?«

Eva drehte ihren Laptop zu ihnen herum. Der Bildschirm zeigte die Übersetzung eines Posts auf ProOptica Workplace. »Weil Grau Laska vor drei Monaten bei ProOptica gekündigt hat.«