Eva erwachte einige Zeit später. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Es schien ihr, als läge sie auf der Seite, in Finsternis. Die Welt um sie herum schwebte beinahe, sie bewegte sich, schwankte auf eine Art und Weise, die ihr bekannt vorkam. Ab und zu erahnte sie einen roten Schimmer, der von irgendwo hinter ihr kam, und auch das schien vertraut. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, doch nach etlichen Minuten wurde ihr klar, dass sie sich im Kofferraum eines Autos befand.
Sie konnte sich nicht bewegen. Gefesselt war sie anscheinend nicht, doch ihre Glieder fühlten sich an wie Blei. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er ihr das Blut abgelassen hatte, so wie Milne. Doch dann dachte sie in gefühlter Zeitlupe daran zurück, wie sie kopfüber in dem umgekippten Auto gehangen hatte, an den Leichnam von Dominic Bradley neben ihr. Ein Teil von ihr staunte, dass sie so ruhig und unbeteiligt an solche Dinge denken konnte, doch dieser Teil schien vom Rest von ihr weit weg zu sein. Der Rest von ihr wollte einfach nur schlafen.
Es war nicht dasselbe. Nicht das Gefühl von Blut, das aus einer durchtrennten Arterie an ihrem Körper herunterrann, nicht das des Fallens, das die Hypovolämie ausgelöst hatte. Das hier war anders. Sie dachte eine Weile darüber nach, dann begriff sie. Der Dreckskerl hatte sie sediert.
Ihr Verstand trieb ziellos dahin. Nach einiger Zeit fiel sie abermals in traumlosen Schlaf.
Diesmal erwachte sie mit einem Ruck. Die Welt verwandelte sich binnen einer Handvoll Sekunden von Schwarz in Rot und dann in grelles, diffuses Weiß. Schweiß quoll in einem Schwall aus ihrer Haut. Ihr Herz raste, ein jähes, tachykardes Hämmern, das in ihren Ohren dröhnte und in einer Ader in ihrem Auge pulsierte. Die Brust tat ihr weh. Plötzlich war alles kalt und eng, als stürzte ihr Brustkorb in sich zusammen und zerquetschte ihre Lunge. Dann legten mit einem Mal alle ihre Regungen den Rückwärtsgang ein. Der Druck auf ihrer Lunge verschwand, und sie sog mit einem würgenden Japsen Luft ein wie ein ertrinkender Schwimmer, der die Oberfläche eines Sees durchbricht. Ihr Verstand drehte auf Hochtouren. Er hatte sie sediert, jetzt musste er die Wirkung des Sedativs mit einem Aufputschmittel aufgehoben haben.
Jäh war die Welt glasklar und scharf gezeichnet. Sie war in einem Raum, den sie noch nie gesehen hatte. Unwillkürlich suchte sie nach einem Adjektiv dafür. Der Raum sah unfertig aus. Nackter Betonboden, Putz an den Wänden, kein Lampenschirm um die Glühbirne, die in der Mitte der Zimmerdecke hing. Das hier würde mal eine Wohnung werden, das konnte sie sehen, vielleicht in ein paar Monaten, wenn die Maler mit ihrer Arbeit fertig waren. Jetzt jedoch war es noch keine. Sie befand sich nicht im Erdgeschoss. Da war ein Fenster. Sie konnte die Umrisse vertrauter Gebäude im Stadtzentrum von Kingston erkennen. Einer der Neubauten unten am Fluss, nahm sie an, eines von den teuren Bauprojekten am anderen Ufer, gegenüber von dort, wo ihre Wohnung gewesen war. Dritter, vielleicht vierter Stock. Ihr Verstand raste, die kombinierte Wirkung von Angst und dem Stimulans.
Sie saß aufrecht auf einem Stuhl, Handgelenke und Knöchel waren daran festgebunden. Schmerzen seitlich am Hals. Eva schaute nach unten. Ein durchsichtiger Plastikschlauch führte von ihrem Hals in einen billigen blauen Malereimer. Noch war kein Blut zu sehen, stellte sie fest, doch bald würde wohl welches drin sein. Sie wusste nicht, ob sie stumm zittern oder laut schreien sollte. Dann rauschte die Wirkung der Medikamente von Neuem durch sie hindurch, und alles, was sie empfinden konnte, war Wut.
Er kam wieder ins Zimmer, mit dem breitbeinigen Gang eines Mannes, der gerade Kokain geschnupft hatte. Natürlich maskiert. Dieselbe pechschwarze Sturmhaube mit der Radfahrerbrille, die sie in St Jude’s Hill gesehen hatte. Sie wollte ihn umbringen. Mit fast schon langweiliger Berechenbarkeit war das Erste, was er tat, ihr mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.
Ihr Kopf flog nach hinten. »Wow, voll der Superheld, jemanden schlagen, der gefesselt ist«, fauchte Eva. »Lass mich von diesem Stuhl runter, und wir machen einen fairen Kampf draus. Gib mir ein Messer, und ich schneide dir deine Scheiß kehle durch.« Sie merkte, wie der Speichel von ihren Lippen sprühte. Das war das Aufputschmittel, wurde ihr klar. Wahrscheinlich war sie genauso stoned wie er.
Er lachte hinter der Maske. »Daraus wird verständlicherweise nichts.« Seine Stimme wurde von der Sturmhaube gedämpft. Eine gebildete Stimme, aber noch konnte sie sie nicht identifizieren. Schwarzer Stoff verbarg ihre Identität. »Als Erstes will ich wissen, was genau hat die Polizei? Unterlagen aus der Slowakei? Haben Sie Akten von ProOptica? Was ist mit Isherwood? Hat jemand seinen Leichnam exhumiert?«
Er wusste nicht, dass Isherwood eingeäschert worden war, begriff Eva. »Wir haben noch was viel Besseres«, antwortete sie hämisch. »Wir haben Shapiro und Pearce in Schutzhaft genommen, wir haben Probeexemplare von den Linsen, wir haben Laskas Aussage, wir haben die Patientenakten von Milne, und die MHRA hat gerade das Prozedere in Gang gesetzt, um das Chatham Centre dichtzumachen.« Das stimmte zwar nicht alles so ganz, dachte sie im Stillen, doch dieser Drecksack hatte die Wahrheit nicht verdient. »Es wird nichts mehr übrig sein, was Kleinmann kaufen könnte.«
Einen Moment lang dachte sie, er würde noch einmal zuschlagen, doch stattdessen wandte er sich zum Fenster um und blickte hinaus. »Wir haben alles darangesetzt, damit dieser Deal klappt«, sagte er, zu sich selbst ebenso wie zu ihr. »Ich werde alles verlieren, Haus, Auto, Geldanlagen, alles. Nur weil irgend so ein abgefuckter Linsendesigner die Klappe nicht halten konnte.«
»Nein«, widersprach Eva.
Er fuhr zu ihr herum. »Was? Was wissen Sie denn davon?«
»So wie’s aussieht mehr als Sie«, fuhr sie ihn an. Spucke lief ihr übers Kinn. »Laska ist nicht Ihr Problem. Antonin Jelen ist Ihr Problem. Jelen hat die Kunstharztests gefälscht. Diese Scheiße hat Jelen verzapft, nicht Laska.«
»Es hätte geklappt!«, brüllte er. »Es hätte geklappt, verdammte Scheiße, wenn Laska nicht dazwischengefunkt hätte.«
Sie starrte in das Insektenrot, das seine Augen verbarg. »Dann wussten Sie also Bescheid über das Kunstharz.«
»So schlau war Jelen nun auch wieder nicht. Es war eine gute Idee, aber er hatte nicht das technische Know-how, um das durchzuziehen.«
Natürlich nicht, dachte Eva. Dazu brauchte man das nötige Können und die Kontakte und Kenntnis darüber, wie die Regulierungsbehörde funktionierte. Jelens Idee war aus Sicht all derer toll, die einen Riesenhaufen Kohle machen wollten, aber Jelen konnte das nicht allein durchziehen. Er brauchte mehr Expertise. Fachwissen, das aus dem Chatham Centre gekommen sein musste, und das bedeutete eine sehr kleine Anzahl Verdächtiger. Welcher von ihnen war es? Die Stimme gab ihr keinen Anhaltspunkt, doch er sprach mit einer Kadenz, die ihr vage bekannt vorkam. Sie ließ es darauf ankommen. »Die Sturmhaube sieht verdammt unbequem aus, Jeremy. Wieso nehmen Sie das Ding nicht ab?«
Einen Augenblick lang glotzte er sie an. Dann nahm er die Brille ab und zog sich die Sturmhaube vom Kopf. Jeremy Odie, der Geschäftsführer des Chatham Centre, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und starrte sie finster an. »Wann haben Sie rausgekriegt, wer ich bin?«
»Sie waren schon immer auf meiner Shortlist. Nachdem wir das mit den Linsen rausgefunden hatten, wussten wir, dass es jemand sein musste, der mit dem Centre zu tun hat. So viele Optionen gab’s da nicht, Jeremy. Ich hätte praktisch eine Münze werfen können, Sie oder Neal Garrick.«
»Weiß die Polizei Bescheid?«
»Scheiße, wofür halten Sie uns?«, tadelte Eva. »Wir reden tatsächlich ab und zu mal miteinander. Ein Whiteboard in der Einsatzzentrale ist von oben bis unten mit Fotos von Ihnen tapeziert.«
Odie fauchte zurück: »Sie denken, Sie sind so scheißclever? Schauen wir doch mal, für wie schlau Sie sich halten, wenn ich Ihr Blut in einen Eimer laufen lasse.«
»Freuen tue ich mich nicht gerade darauf«, gab sie zu und schaffte es, mit ruhiger, fester Stimme zu sprechen, obwohl sie innerlich vor Angst schlotterte. »Das heißt nämlich, dass ich nicht mehr miterlebe, wie ein Sondereinsatzkommando Ihnen das Hirn aus dem Schädel bläst.« Sie sah den Ausdruck, der bei diesen Worten über sein Gesicht huschte. »Ach, Jeremy, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie lebend aus dieser Nummer rauskommen? Als Serienmörder und Copkiller?« Sie merkte, wie die Empörung in ihr wuchs, und verspürte kein Bedürfnis, sie zu unterdrücken. »Will Moresby würde Ihnen das Genick brechen wie einen verschissenen Zweig, aber das braucht er gar nicht.« Ihre Stimme wurde lauter, wurde zu einem Brüllen. »Die Kollegen vom Sondereinsatzkommando werden zu sehen glauben, dass Sie versuchen, eine Waffe zu ziehen, auch wenn Sie gar keine dabeihaben. Haben Sie schon mal gesehen, was für eine Schweinerei ein Heckler-&-Koch-G36-Sturmgewehr aus einem menschlichen Körper macht? Die schießen Sie in Fetzen, Jeremy!«, schrie sie ihn an. »Sie werden draufgehen, und das wird scheißweh tun.«
»Mir ist doch gar nichts anderes übrig geblieben!«, brüllte er zurück.
»Das ist mir scheißegal!«, schrie Eva. »Machen Sie mich von diesem Scheißstuhl los!«
Er tigerte durchs Zimmer. Machte kehrt. Griff sich ins Haar. Dann fuhr er zu ihr herum. »Was kriege ich dafür, wenn ich das tue?«, brüllte er.
»Sie kriegen die Birne nicht weggepustet. Sie kriegen, dass Sie nicht sterben, und vielleicht landet Ihre Familie auch nicht auf der Straße. Haben Sie Kinder? Die werden ins Heim gesteckt. Wie wird Ihre Frau mit Ihren Gläubigern klarkommen? Was hat sie zu bieten, um sie bei Laune zu halten? Sie sollte lieber scheißgut im Schwanzlutschen sein.« Das war das Aufputschmittel, dachte sie, noch während sie schrie. Es musste das Aufputschmittel sein. Noch nie hatte sie solchen Hass gekannt wie jetzt den auf Jeremy Odie, redete sie sich ein, doch schon während sie diesen Gedanken formulierte, wusste sie, dass das nicht wahr war.
Er tigerte weiter auf und ab. »Sie Miststück!«, keifte er.
Eva lachte. »Aus Ihrem Mund hat das keinerlei Bedeutung, nicht wahr? Machen Sie mich von diesem Stuhl los.«
»Ich könnte mich stellen«, bellte Odie.
Er wusste, dass er nicht gewinnen konnte. Ihm musste klar sein, dass es vorbei war. Odie war bei dem Versuch gescheitert, die Akten zu löschen, die Milne beiseitegeschafft hatte, und Laskas Aussage würde alles zunichtemachen. Ein mitleidsloser Mörder, aber kein Psychopath, sagte sie sich; konnte sie das benutzen, um ihr eigenes Leben zu retten?
»Das kommt darauf an. Wie geht es Nicola Milne?«
Einen Moment lang machte er ein verdutztes Gesicht. »Woher soll ich das wissen? Sie haben sie doch zuletzt gesehen. Ich habe Sie sagen hören, dass Sie Verstärkung angefordert hätten, also habe ich Sie in den Kofferraum verfrachtet und gemacht, dass ich wegkam.«
Diese Neuigkeit flutete über sie hinweg wie kühles Wasser. Milne war also noch am Leben. »Das ist gut, Jeremy.« Sie zwang sich, wieder ganz ruhig zu klingen, auch wenn sie beim Sprechen keuchte. »Das ist ein Pluspunkt. Was haben Sie sonst noch anzubieten?«
»Chatham.« Er hielt inne, hielt sich mit beiden Händen den Kopf, ging wieder auf und ab. Eva sagte nichts. Sie hüllte sich in Schweigen wie in einen Mantel und wartete darauf, dass er das entstandene Vakuum füllte. »Chatham glaubt, er hat eine Methode, um die Linsen zu entfernen, bevor sie Schaden anrichten. Er denkt, er kann dieselbe Maschine benutzen, um sie zu ersetzen.«
Sie erinnerte sich an den Roboter, der die Linse vor ihren Augen in ein menschliches Auge eingeführt hatte. »Dann hat Chatham also alles gewusst?«
»Am Anfang nicht«, antwortete Odie. Er hockte sich hin, als wäre er völlig erschöpft. »Keiner von uns hat alles gewusst, nicht einmal Jelen. Es hat eine Weile gedauert, bis wir es kapiert haben. Da waren die ersten Linsen schon implantiert, und Kleinmann hatte ernsthaftes Interesse geäußert.« Starr sah er ihr in die Augen. »Es geht um mehr Geld, als Sie glauben. Kleinmann wird den Kaufpreis verdoppeln, wenn wir in den ersten beiden Jahren unsere Ziele erreichen. Ich hätte fast zweihundert Millionen Dollar eingestrichen. Was würden Sie dafür tun?«
Fast konnte sie sehen, wie er den Weg zurückblickte, den er gegangen war, vom überschwänglichen Geschäftsführer, vermutlich ein klein wenig kokainsüchtig, zum Serienkiller und Folterer. Das sagte ihr sein Blick. Scheiße, wie ist das alles passiert?, fragte Jeremy Odie sich gerade.
»Sie müssen mich losmachen«, sagte Eva mit leiserer Stimme. »Das muss aufhören. Gut wird es nicht ausgehen, Jeremy, aber wenigstens kommen Sie lebend aus dem Ganzen raus. Wenigstens geht Ihre Familie nicht kaputt. Das ist Ihnen doch wichtig, oder? Das ist doch immer noch etwas, woran Sie sich festhalten können?«
Er sackte in sich zusammen. Seine Schultern sanken herab, als wäre die Schwerkraft plötzlich zu viel für ihn geworden. Jeremy Odie nickte mit hängendem Kopf. Dann holte er ein Skalpell aus seinem Rucksack, vielleicht dasselbe Skalpell, das er dazu benutzt hatte, Irina Stepanow die Augen herauszuschneiden.
»Wir sollten das hier richtig machen«, meinte Eva. »Verstehen Sie?«
Er verstand nicht gleich, doch dann nickte er abermals.
»Jeremy Odie«, sagte Eva, so entschlossen sie konnte, »ich verhafte Sie wegen der Morde an Irina Stepanow, Jodie Swain, Paul Markham und Katarzyna Liege. Sie haben das Recht zu schweigen«, fuhr sie fort.
Dann ging das Licht aus.
Scheiße, was ist denn jetzt los? Odie hatte den Lichtschalter doch nicht angerührt. Sie hatte ihn doch eben noch auf sich zukommen sehen, mit dem Skalpell in der Hand, und sie war sicher gewesen, dass er die Kabelbinder durchschneiden wollte und nicht ihre Kehle. Also, was zum Teufel war passiert? War die Sicherung rausgeflogen? Dann hörte sie ein jähes Krachen, als würde eine Tür eingetreten. Jemand kam im Finstern ins Zimmer gestürmt.
Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte sie, es könnte die Verstärkung sein, die bewaffneten Polizisten, mit denen sie Odie gedroht hatte. Dann brüllte jemand auf, ein Schrei wie ein Karate-Kiai. Kein Schmerzens- oder Angstschrei. Ein Angriffsschrei.
Odie schrie ebenfalls. In der Dunkelheit sah sie die blau-weißen Funken des Tasers, als er damit nach dem Eindringling stieß. Noch mehr Gebrüll. Zwei Gestalten rangen im Dunkeln. Das Geräusch von auf gut Glück treffenden Fäusten, von Leibern, die gegeneinander- und gegen die Wand prallten. Sie taumelten an ihr vorbei. Eva bog sich von ihnen weg, so weit ihre Fesseln es erlaubten; sie hatte Angst, dass sie ihr den Katheter aus dem Hals reißen könnten. Sie hörte, wie jemand einen Treffer landete. Ein fauchendes Grollen, nicht von Odie. Noch ein Geräusch. Ein dumpfer Laut, gefolgt von einem plötzlichen Ausatmen. Dann der Aufprall eines zu Boden stürzenden Körpers.
Eine einsame Gestalt stolperte durch das Dunkel. Sie hörte den am Boden Liegenden stöhnen. Er klang wie Odie. Die Gestalt, die noch auf den Beinen war, verließ das Zimmer. Nach ein paar Sekunden ging das Licht wieder an. Sie hatte recht gehabt. Jeremy Odie lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Jemand stieß die Tür auf und sprang fast zurück ins Zimmer. Beinahe hätte sie vor Schreck aufgeschrien.
Mathew Harred.
Einen Moment lang stand Harred da und starrte auf Odie hinab. Er hielt etwas in der rechten Hand. Als Eva sah, was es war, schrie sie schließlich doch. Ein Hammer, schwarz, der Kopf mit Gummi überzogen. Die Waffe, mit der Nicholson und Yu getötet worden waren. Auf ihren Schrei hin sprang Harred vor und ließ den Hammer auf Odies linken Knöchel niedersausen. Auch der schrie auf, als der Knochen brach. Er wand sich und versuchte davonzukriechen, doch Harred schlug wieder und wieder zu und knurrte dabei wie ein tollwütiges Tier.
Zuerst drosch er auf Odies Beine ein, brach ihm bestimmt jeden einzelnen Knochen. Eva versuchte wegzuschauen, doch sie konnte den Kopf nicht drehen. Harred zerschmetterte Odies Rippen. Odies Augen quollen hervor, blutiger Schaum drang zwischen seinen Lippen heraus. Harred gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang, dann ließ er den Hammer auf Odies Schädel niederkrachen. Fünf, sechs, sieben Mal. Bei jedem Schlag hörte sie Knochen brechen. Wieder brüllte Harred auf. Schlug noch einmal zu. Odies Schädel implodierte beinahe.
Mit weit aufgerissenen Augen, die Pupillen winzige Punkte, stand er über Odie. Eva bekam keine Luft. In ihrer Kehle rasselte es, als sie einzuatmen versuchte. Harred stieg über Odies Leichnam hinweg und kam auf sie zu.
Doch als er sie erreichte, blieb er stehen und ließ den Hammer zu Boden fallen. Dann drehte er sich um und lehnte sich an die Wand, die Hände in den Taschen seiner Jeans. Er trug dasselbe grüne T-Shirt wie neulich. Jetzt schaute er auf Odies Leiche hinab, als wäre sie eine seltene Kuriosität.
»Ich bin Ihnen gefolgt«, sagte er kurz darauf fast im Plauderton. Sie konnte nicht fassen, wie vollkommen sich sein Auftreten verändert hatte. Eben noch brüllend wie ein Dämon aus den Tiefen der Hölle, während er Odies Gehirn zu Brei schlug, und gleich darauf ruhig, entspannt, fast schon gesprächig.
Eva verschluckte sich, als sie zu sprechen versuchte, doch es gelang ihr, eine Frage zu stammeln. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Harred zuckte die Achseln. »Warum nicht? Sie waren doch hinter ihm her, stimmt’s? Er war’s. Ich hab doch gehört, wie er’s gesagt hat, also, jedenfalls sinngemäß. Er hat Sie bei der Klinik in seinen Kofferraum geschmissen. Da hätte ich ihn schon umbringen können, aber ich wollte hören, was er zu sagen hat.« Er sah sie an. »Und was Sie zu sagen haben. Sie haben ihn überführt, nicht wahr? Sie waren gerade dabei, ihn zu verhaften. Er wollte sich stellen, aber wo ist denn da die Gerechtigkeit? Nein«, Harred schüttelte abfällig den Kopf, »so ist es besser. Natürliche Gerechtigkeit.« Er lachte. Kicherte fast. »Auge um Auge. Na ja, so ähnlich.«
Sie starrte ihn an, wagte nicht einmal zu blinzeln. Ein totaler Psychopath. War es am Ende die ganze Zeit Harred gewesen? Sie hatte geglaubt, dass sie verfolgt wurde, dass jemand sie beobachtete, doch sie war davon ausgegangen, dass es jemand war, der für Semjon Razins Maulwurf arbeitete. War es Harred gewesen? Sie wagte nicht, ihn zu fragen. »Sie sind mir hierher gefolgt?«
»Von der Kirche«, bestätigte er. »Von New Thought. Haben Sie das Fresko gesehen? Wie finden Sie es?«
Die fast schon kindliche Erregung in seiner Stimme drehte ihr den Magen um. Galle brannte ihr hinten im Rachen, während sie sich bemühte, Odies zerschmetterten Leichnam nicht anzusehen. Sie zwang sich, ihm zu antworten, weil ihr Leben davon abhing, dass sie ihm Beifall zollte. »Es ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Sie sah Schatten über seine Züge huschen, den Ausdruck der Enttäuschung und der Missbilligung, und da wusste sie, was er erwartet hatte. »In diesem Leben«, ergänzte sie rasch.
Seine Miene wandelte sich. »Ist es so?«
Sie tat ihr Bestes, ihn anzulügen. »Meine Erinnerung ist unvollständig«, stotterte sie. »Aber ich glaube, so soll es auch sein.« Er schien ihr nicht zu glauben; sie musste etwas finden, um ihn zu überzeugen. »Wissen Sie, was eine nackte Singularität ist?«
Plötzlich wirkte Harred wieder freudig erregt. »Natürlich«, beteuerte er und nickte enthusiastisch. »Das wäre, als ob man auf die Oberfläche eines Schwarzen Lochs blickt, in dieser Lebenswelt eine logische Unmöglichkeit. Kein Wunder, dass Ihre Erinnerung nicht klar ist.«
Scheiße, was redete er da? Irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Schwachsinn, irgendwelches Psychogeschwätz, das es rechtfertigte, Frauen zu töten und ihnen die Augen zu zerschneiden? Was würde er mit ihr machen?
»Dieser Stuhl ist unbequem«, sagte sie so nonchalant sie konnte. Innerlich zitterte sie wie Espenlaub.
Harred runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich Sie laufen lassen sollte, jetzt noch nicht. Ich meine, Sie sind doch die Zerstörerin. Wer weiß, was Sie anstellen würden.«
Was in Gottes Namen meinte er? Das hier war wie ein psychotisches Verkleidungsspiel, dachte Eva, ein irres Rollenspiel. »Wenn ich die Zerstörerin bin, was sind dann Sie?«
»Der Reisende«, antwortete er sofort. »Ich bin nur für einige Zeit hier, bald ziehe ich weiter.« Das passte zumindest zu dem, was sie über seinen Hintergrund wusste. Ein wandernder Künstler auf der Suche nach Aufträgen. Ihr war klar, dass er noch etwas anderes meinte.
»Und auch ein Beobachter«, sagte Eva mit zusammengebissenen Zähnen. »Ein Zuschauer, der dokumentiert, was er sieht.«
Harred machte tatsächlich eine kleine Verbeugung. »Eine Hand kann ich losmachen«, verkündete er nach einem Moment des Schweigens. Er hob das Skalpell vom Boden auf, das Odie hatte fallen lassen, und durchtrennte die Fessel an ihrem linken Handgelenk.
Als die Hand frei war, griff Eva sofort an die Kanüle in ihrem Hals.
Er ging wieder zur Wand. »Wissen Sie, wir sind hier noch nicht fertig«, erklärte er ihr, während er sich entspannt zurücklehnte, fast so, als warte er auf einen Bus, die Hände abermals in den Taschen. »Es gibt da noch mehr, was ich verstehen muss.« Er lächelte sie fragend an. »Wer ist der Mann, mit dem Sie sich auf dem Bahnhof treffen?«
Alastair Hadley, dachte Eva. So lange hatte Harred sie also schon beobachtet. »Er ist die Inkarnation des Teufels«, antwortete sie, benutzte Worte, von denen sie glaubte, dass sie zu ihm durchdringen würden. »Er ist das Ungeheuer, das meine Träume heimsucht. Er hat mir großes Unrecht angetan. Ich werde ihn erledigen, aber das weiß er noch nicht.«
Harred grinste mit gebleckten Zähnen. »Ich könnte ihn für Sie töten.«
»Unterstehen Sie sich!«, fauchte Eva, ohne zu überlegen. »Er gehört mir. Ich erledige ihn auf meine Art.«
Er lachte. »Ist Ihre Art besser als das da?« Er zeigte auf Odies Leichnam.
Sie zwang sich, nicht hinzuschauen. »Das hat doch nur einen Moment gedauert.«
»Ah, vielleicht sind Sie ja wirklich die Zerstörerin«, meinte Harred nachdenklich. Er löste sich von der Wand, trat zu Odie und schaute auf ihn hinab. »Ich dachte, er ahmt mich nach.«
Eva warf einen kurzen Blick auf Odie, bereute es jedoch sofort. Blut rann ihm aus Augen und Ohren.
»Vielleicht habe ich mich ja geirrt.«
»Sie haben die anderen Frauen umgebracht.« Sie formulierte den Satz nicht als Frage.
»Ich habe sie freigelassen. So viel müssen Sie doch wissen. Sie aus dieser öden Daseinsebene befreit. Ich hab’s nicht getan, weil ich sie verachtet habe, ich hab’s getan, weil sie mir wichtig waren. Jetzt sind sie frei. Sie haben sie doch in dem Fresko gesehen.«
Anscheinend wollte er reden. Eva sagte sich, dass es ihre Pflicht war, ihn reden zu lassen. »Und warum die Augen?«
Mit einer Geste deutete Harred auf Odie. »Ich meine, sehen Sie sich den doch an. Wenn die Seele ihre Hülle verlässt, ist das, was zurückbleibt, so dermaßen banal. Die Augen sind das Faszinierendste, Einzigartigste an uns. Aber ist die Seele erst einmal entflohen, werden sie zu Spottbildern ihrer selbst, starre, armselige Erinnerungen an den Geist, der zu einer höheren Ebene aufgestiegen ist. Ich habe sie wertgeschätzt, wie hätte ich sie also von einem solchen Makel besudelt zurücklassen können?«
»Aber Sie haben damit aufgehört. Vor vier Jahren.«
Er zog die Schultern hoch. »Was sollte ich machen? Ich hätte zu gern noch mehr befreit, aber damals ist es mit dem Werk so richtig losgegangen, und mir war klar, dass ich das nicht aufs Spiel setzen durfte. Es ist so wichtig. Aber das verstehen Sie ja, nicht wahr?«
Ihr kam ein Verdacht. »War Kelly Gibson die Erste, die Sie befreit haben?«
Harred lächelte. »Das ist eine Frage für einen anderen Tag.«
Dieses Lächeln schien anders zu sein, grausamer und weniger nachsichtig. Rasch sprach Eva weiter. »Aber Sie haben Alicia Khan befreit.«
»Er hat mich dazu gebracht.« Wieder deutete Harred auf Odie. »Er hat mir keine Wahl gelassen. Ich habe gesehen, was er getan hat, und es kam mir einfach nicht richtig vor. Er hatte eindeutig nicht verstanden. Ich hatte das Gefühl, es wäre meine Pflicht zu reagieren, ihm das korrekte Vorgehen zu zeigen, zu demonstrieren, wie man es richtig macht. Aber dann ist mir klar geworden, ich war so kurz davor, fertig zu werden, dass ich mein Werk nicht riskieren durfte. Als Sie zu mir gekommen sind, da habe ich gedacht, das wäre ein Zeichen, dass gerade Sie verstehen würden, aber dann wurde klar, dass Sie Ihre eigenen Schlachten zu schlagen haben. Der Autounfall, der Pub und dann das Feuer. Sie zu beobachten war der Wahnsinn. Ich weiß, Sie haben immer noch Geheimnisse, an die ich noch nicht rangekommen bin.«
»Nur eines«, flüsterte Eva.
»Aber das ist das am besten gehütete von allen, stimmt’s? Ich würd’s ja zu gern wissen. Ich bin fasziniert von Ihnen, Zerstörerin. Ich will wissen, was Sie zu dem gemacht hat, was Sie sind.«
»Mir geht es mit Ihnen genauso«, antwortete sie. Ihre Stimme klang ganz anders als seine.
»Ich weiß, Sie werden’s mir nicht sagen«, lachte Harred, »nicht ohne einen Anreiz.« Er trat vor sie hin. »Wissen Sie noch, was Sie über ihn gesagt haben? Dass er jedes Detail genau durchdacht hätte? Das habe ich auch getan. Ich will wissen, was Sie da so tief in Ihrem Kopf verwahren, was das letzte Geheimnis ist. Also habe ich mir ein Rätsel für Sie ausgedacht. Es ist ganz einfach: Was wird Sie dazu bringen, es mir zu sagen? Was wird Sie dazu bringen, freiwillig zu mir zu kommen und mir zu geben, was ich will?« Wieder hob er das Skalpell auf. Einen Moment lang dachte sie, er würde sie damit schneiden, doch stattdessen warf er es ihr vor die Füße. »Ich warte auf Sie, wenn Sie’s kapiert haben«, sagte er und grinste von einem Ohr zum anderen. »Jusqu’à plus tard, ma chien Andalou.«
Damit kehrte Harred ihr den Rücken zu und verließ beinahe schlendernd die Wohnung.