Sutton stand hinter ihrem Schreibtisch. Die Morgensonne tauchte den Raum in poliertes Gold, Staubpartikel schwebten in der Luft und funkelten. Weder Sutton noch Eva hatten geschlafen.
»Sie haben dem Einsatzkommando nicht gesagt, dass Harred durch einen unterirdischen Gang fliehen könnte.« Sutton machte ein finsteres Gesicht, doch sie machte ja auch immer ein finsteres Gesicht, dachte Eva im Stillen. Sie hatte den Verdacht, dass ihre Vorgesetzte manchmal sogar schwere Beleidigung, glücklich zu sein, mit einem finsteren Blick quittierte.
»Ich wusste es nicht sicher«, antwortete sie. »Es war nur eine Vermutung. Aber wenn er das versuchen sollte, wüsste ich keinen Besseren als Will, um sich ihm in den Weg zu stellen.«
»Durchaus«, gab Sutton nachdenklich zu. Der finstere Blick hatte schon fast etwas Wildes. »Ich nehme an, Harred wird uns angesichts seiner Verletzungen verklagen wollen, aber ich sehe nicht, wie er damit durchkommen könnte.«
Es wäre schwer gewesen, dem zu widersprechen. »Harred hat Odie mit einem Hammer totgeprügelt. Ich finde, Wills Handeln war angemessen.«
Sutton ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Sie forderte Eva nicht auf, sich zu setzen. »Die Frage, die sich immer noch stellt«, meinte sie und massierte ihr Bein, »ist, wo ist Fredrick Huss?«
Das Einzige, was sie nicht hatte herausfinden können. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, welche Rolle Huss bei dem Ganzen spielt. Er ist die eine Verbindung, die ich nicht verstehen konnte. Er hat Harred gefunden und ihn zu Berta gebracht, aber ich habe keine Ahnung, ob das ein harmloser Zufall oder Absicht war. Aber das Foto«, sie dachte an die Party, an das Schwarz-Weiß-Bild in Nicholsons Sammlung, »das Foto von Lily mit den Schatten über den Augen. Da war noch etwas auffällig dran. Es hat so professionell ausgesehen. Berta hatte ein paar tolle Werke in ihrer Sammlung, aber Huss’ Foto hat da nicht fehl am Platz gewirkt. Wir müssen weiter nach Fredrick Huss suchen.« Die Morgensonne malte Muster auf ihr Gesicht. »Es gibt vieles, was wir über ihn nicht wissen.«
Eine Weile saß Sutton schweigend da. »Ich hatte Vorbehalte gegen Sie«, sagte sie schließlich. »Und ich habe immer noch welche. Sie sind nicht meine Sorte Cop. Sie haben diesen Job nicht jahraus, jahrein gemacht, Sie haben für Ihre Beförderung nicht Schlange gestanden. Sie haben sich vorgedrängelt. Manche Leute wären deswegen stocksauer.«
Eva überlegte, ob sie jetzt von einem Fuß auf den anderen treten oder sich schämen sollte, doch sie tat weder das eine noch das andere.
»Andererseits«, fuhr Sutton fort, »hindert das alles Sie nicht daran, eine gute Polizistin zu sein. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit sind Sie das auch. Nicht meine Sorte Cop, aber die Welt ändert sich gerade mal wieder, also ist meine Sorte Cop vielleicht auch nicht das, was wir brauchen. Manchmal glaube ich, Sie kommen mit Computern besser zurecht als mit Menschen.« Sutton stützte die Ellenbogen auf ihren Schreibtisch und legte das Kinn in die Hände. »Aber die Sache ist die: Als wir uns das erste Mal begegnet sind, habe ich Ihnen gesagt, Sie sollen Ihrem Team einen Grund geben, Sie zu respektieren. Entgegen meiner Erwartungen sieht es so aus, als hätten Sie das getan.«
Eva wartete.
Sutton sah sie böse an. »Falls Sie’s noch nicht kapiert haben, das ist meine Art, ›gut gemacht‹ zu sagen. Gewöhnen Sie sich dran, besser wird’s nicht.«
Es war gut genug, fand Eva. Es war absolut in Ordnung. »Danke«, sagte sie. »Das ist sehr nett von Ihnen.«
Sutton zuckte die Schultern. »War eine lange Nacht«, brummte sie. »Gehen Sie sich ein bisschen ausruhen. Sie haben’s sich verdient.«
»Noch mal vielen Dank«, antwortete Eva und schloss dann die Tür hinter sich. »Aber es ist noch nicht vorbei.«
Eva ging zu Fuß durch das Stadtzentrum. Auf dem alten Apfelmarkt hatten Verkäufer unter dem gestrengen Blick der vergoldeten Königin angefangen, ihre Essensstände zu öffnen. Sie schlenderte durch eine Wolke aus so starken Aromen und Düften, dass sie jedes einzelne Gericht beinahe schmecken konnte. Im Geist stellte sie sich die Länder vor, aus denen die Rezepte stammten, und nahm sich fest vor, sie eines Tages zu besuchen. Sie sah vietnamesisches gegrilltes Schweinefleisch, amerikanische Burger, japanische Gyoza und karibisches Jerk Chicken. Fürs Erste widerstand Eva diesen Verlockungen, machte jedoch in einem Café in der Fife Road halt. Sie bestellte sich eine Tasse frisch gemahlenen Kaffee aus Yirgacheffe, einer Region in Äthiopien, naturgetrocknet, sodass die Bohnen mehr Zeit gehabt hatten, den Zucker der Kaffeekirsche zu absorbieren. Sie schnupperte an der pechschwarzen Flüssigkeit, atmete den kräftigen Geruch von Früchten ein, der in ihrem Kopf zu explodieren schien, und einen Augenblick lang war nichts anderes wichtig.
Was ist richtig? Diese Frage stellte Eva sich, als sie auf einem Barhocker saß, an dem Kaffee nippte und zusah, wie die Stadt langsam erwachte. Sie stellte fest, dass sie sie nicht beantworten konnte. Vielleicht war das ja etwas, was sich nicht messen oder berechnen ließ. Vielleicht könnte sie genauso gut fragen: Was ist Wahrheit? Doch das bezweifelte sie.
Und noch einmal, vielleicht war die Frage an sich ja anmaßend. Vielleicht hatte sie gar kein Recht, sie zu stellen, weil ihre Definition von »richtig« ja kilometerweit von der eines anderen Menschen abweichen konnte. Sie formulierte ihren Gedanken andersherum. Was ist falsch? Mit dieser Frage fühlte sie sich sehr viel sicherer.
Falsch war, dass ein Krimineller von denen geschützt worden war, die eigentlich für Recht und Ordnung sorgen sollten, auch dann noch, als er ihre eigenen Kollegen umgebracht hatte. Wohin wandte man sich, wenn das Recht sich als korrupt erwies? Auf wen konnte man zählen, wenn die Gerechtigkeit selbst offenkundig pervertiert worden war? Eine sehr viel einfachere Frage , dachte Eva, denn sie kannte die Antwort bereits. Man zählte auf sich selbst.
Colin Lynch hatte bereitwillig getötet. Er hatte es verdient, hinter Gittern zu landen, doch selbst wenn er ins Gefängnis gewandert wäre, wäre er nach einer Zeitspanne wieder draußen gewesen, die einfach nur obszön angemutet hätte. In den Augen jener, die das Gesetz anwendeten, war Lynch unangreifbar gewesen. Und so hatte Eva das Recht in ihre eigenen Hände genommen.
Nach dem Vorfall war sie nach Southampton zurückgekehrt, obwohl die Vorgesetzten auf dem Revier sie dort eigentlich nicht hatten haben wollen. Dabei war nicht so sehr sie das Problem gewesen, sondern vielmehr die Erinnerung an ihr eigenes klägliches Versagen. Allerdings war Eva damals schon klar gewesen, dass nicht sie versagt hatten. Sie gaben sich alle Mühe, sie von den Ermittlungen gegen Lynch fernzuhalten, doch irgendwie fand Eva immer wieder dort Hinweise, wo sie zuvor von Neuem gescheitert waren. Nicht weiter überraschend, dachte sie, während sie zusah, wie eine Politesse einen Strafzettel an ein Auto pappte. Zu diesem Zeitpunkt wären ihre Überwachungsmethoden vor Gericht nicht mehr zulässig gewesen.
Was tut man, wenn das Recht korrupt ist? Wenn es keinerlei Zweifel gibt, keinerlei Unklarheit? Wenn der Staat und diejenigen, die das Gesetz anwenden, eindeutig für ihre eigenen Zwecke arbeiten, nicht für die der Menschen, die zu schützen sie verpflichtet waren?
Lynch war ein Monster. Das wusste Eva genau. Sie hatte Beweise, auch wenn sie sie nicht verwenden konnte. Also hatte sie zugegriffen, als sich ihr die Gelegenheit geboten hatte, ihm ein Ende zu machen.
Es war nicht schwer gewesen, Kontakt mit Semjon Razins Organisation aufzunehmen, nicht schwerer, als Warren Muirs Pub ausfindig zu machen. Sie ging E-Mails und Chatnachrichten nach, fand den Weg zu Leuten, die Entscheidungen treffen konnten – zumindest auf lokaler Ebene –, und präsentierte ihnen einen Plan. »Wer sind Sie?«, fragten sie. »Jemand, der Colin Lynch tot sehen will«, antwortete sie. »Müssen Sie noch mehr wissen?«
Sie hatte sich die Überreste der Winter’s Gate Farm selbst angesehen, während Brände noch immer auf den Weizenfeldern loderten und Beamte der Spurensicherung die verkohlte Erde nach Leichenteilen absuchten. Trotz des Gestanks und des Rauchs war ihr die Luft reiner vorgekommen, als sie es seit Langem gewesen war.
Es regnete, als sie sich vor dem Bahnhof von Kingston mit Alastair Hadley traf. Diesmal sorgte sie dafür, dass er zu ihr kam. Regen durchtränkte ihr Haar und lief ihr übers Gesicht, doch er fühlte sich frisch und belebend an. Er kühlte ihre Gedanken. Ihr Verstand war klarer als irgendwann sonst seit fast zwei Jahren.
Hadley jedoch war so reizbar wie immer. »Sie haben also Ihre Mörder«, bemerkte er höhnisch. »Schön für Sie. Jetzt können Sie sich wieder darum kümmern, Razins Maulwurf zu finden.«
Eva hatte nicht das Bedürfnis, irgendeine Miene aufzusetzen. Ihr Gesicht war regungslos. Nur ihre Lippen bewegten sich, als sie eine einzige Silbe aussprach. »Nein.«
Einen Moment lang schien Hadley nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Er suchte in ihrem Gesicht nach Anhaltspunkten, doch sie bot ihm keine, also verlegte er sich aufs Drohen und Poltern. »Ich hoffe doch, Sie verarschen mich hier nicht, Harris. Weil, wenn doch, werden Sie demnächst die Annehmlichkeiten der Vollzugsanstalt Bronzefield genießen. Ich will wissen, wer auf Ihrer Shortlist mit Polizisten steht, die Razins Maulwurf sein könnten. Ich will die Namen haben, sofort.«
Er machte einen Schritt auf sie zu. Der Mann drohte ihr mit körperlicher Gewalt, wurde ihr klar, doch nach Harred zählte das nicht mehr viel. Der schlaksige Alastair Hadley, dem das regennasse Haar an den Wangen klebte. Als sie die ekligen Strähnen betrachtete, war sie sich plötzlich ziemlich sicher, dass er sie färbte. Also ein Fake durch und durch.
»Nein«, sagte sie noch einmal und trat einen Schritt näher, um zu zeigen, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. Es wurde Zeit für ihre eigene Ausstiegsstrategie. »Ich brauche die Shortlist nicht; ich weiß, wer Razins Maulwurf ist. Und das sollten Sie auch wissen«, fuhr sie fort, bevor er etwas sagen konnte. »Sie würden es auch wissen, wenn Sie mal Ihren faulen Arsch hochkriegen und tatsächlich ein bisschen arbeiten würden, anstatt andere Menschen zu manipulieren, damit die das für Sie tun. Sie sind kein besonders guter Cop, nicht wahr, Alastair? Aber andererseits gibt’s hier auch Leute, die glauben, dass Sie in Wirklichkeit gar kein Cop sind.«
Einen Moment lang dachte sie, er würde sie ohrfeigen. Versuch’s nur, dachte sie und befingerte den Griff von Odies Taser, den sie in der Tasche verbarg. Doch Hadley war anscheinend klug genug, zu begreifen, dass sich etwas geändert hatte, und wich zurück, nur ein kleines bisschen.
»Semjon Razin ist eine Bedrohung für die nationale Sicherheit«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Er ist ein Großlieferant harter Drogen und wäscht Hunderte Millionen Pfund im UK . Bei Razins Level denkt man als Cop nicht mehr in Begriffen wie Verbrechen, sondern in Begriffen wie Wirtschaftsterrorismus. Es ist zwingend geboten, dass wir ihm den Stecker ziehen.«
»Und das rechtfertigt Colin Lynch, ja?«
»Und rechtfertigt es das, was Sie mit Colin Lynch gemacht haben?« Er spie ihr die Worte entgegen. »Sie haben Lynch umgebracht. Sie haben ihm eine Falle gestellt. Ein Cop, der sich mit einem Drogendealer zusammentut, um dessen Konkurrenten zu ermorden. Im Knast werden sie jede Menge Spaß mit Ihnen haben, Harris. Sie werden als Hure von irgend so einer fetten Schlampe enden und in Bronzefield andere unter der Dusche bedienen, nur um nicht noch mal verdroschen zu werden. Ich hab’s Ihnen doch gesagt, Sie gehören mir. Und jetzt geben Sie mir, was ich will.«
»Nein«, beharrte Eva, doch diesmal lächelte sie. »Aber ich habe etwas anderes für Sie.« Sie griff in ihre Tasche, vorbei an dem Taser, und holte das heraus, was sie inzwischen als ihre tödlichste Waffe betrachtete. Dann hielt sie es ihm zwischen Daumen und Zeigefinger hin. Es war ein USB -Stick.
»Hier«, sagte sie und gab ihm den Stick.
Er hielt ihn in der behandschuhten Hand und schien nicht zu wissen, was er damit machen sollte.
»Das sind die unverschlüsselten Kopien sämtlicher E-Mails, die Sie mit Colin Lynch gewechselt haben. Jeder einzelnen. Ich weiß, Sie waren vorsichtig, Alastair, aber Lynch nicht. Da sind Hunderte von E-Mails drauf; Lynch belastet Sie in etwa dreißig davon. Genug, um zu beweisen, dass Lynch von der Serious Organized Crime Agency und den Sicherheitsbehörden als ungenehmigte Operation geführt wurde. Lynch war Ihr Versuch, Razins Organisation im UK zu knacken. Lynch hätte Razins Organisation das Rückgrat brechen sollen, dann hätten Sie Lynch in Ihrer Gewalt gehabt, und alles wäre wieder unter Kontrolle gewesen, stimmt’s? Aber Lynch hatte andere Vorstellungen. Er wollte sich nicht lenken lassen. Als Ihnen klar geworden ist, dass er außer Kontrolle war, hätten Sie ihm das Handwerk legen müssen. Haben Sie aber nicht. Sie haben ihn weitermachen lassen, in der Hoffnung, dass er Razin genug schadet. Stattdessen hat er PC Carrie Brenner und DI Dominic Bradley umgebracht, und Sie versuchen noch immer, das alles zu vertuschen.«
Sie trat noch einen Schritt auf ihn zu, bis ihr Gesicht dicht vor seinem war. »Sie waren derjenige, mit dem Lynch sich an dem Abend in der Winter’s Gate Farm treffen wollte, als Dom ermordet worden ist. Sie haben das Ganze eingefädelt. Sie haben gewusst, dass Lynch versuchen würde, die Kollegen auszuschalten, die ihn überwacht haben, aber Sie haben danebengestanden und nichts unternommen, weil Lynch für Sie verdammt noch mal zu wertvoll war. Sie haben einen Drogendealer geschützt und haben weiter versucht, Informationen darüber zu verschleiern, nachdem er zwei Polizisten ermordet hatte. Also sagen Sie mir, wer von uns beiden wird zu mehr Jahren im Knast verurteilt?«
Hadley sah aus, als wolle er ihr den USB -Stick am liebsten in den Hals stopfen. »Das hier habe ich ja jetzt«, sagte er nach kurzem Zögern. »Und ich kann auch alle weiteren Kopien kriegen, die Sie gemacht haben.«
Da lachte sie. Sie legte den Kopf in den Nacken und bellte dem Regen ein Lachen entgegen, öffnete den Mund, sodass sie die Tropfen ganz hinten im Rachen schmecken konnte. Gott, fühlte sich das gut an!
»Seien Sie doch nicht so scheißnaiv, Alastair. Ich habe Kopien von diesen E-Mails auf Servern rund um den halben Planeten gebunkert. Die finden Sie und Ihre hirntoten Clowns nie im Leben, ich bin nämlich richtig gut in so was. Wenn mir irgendwas passiert, werden die E-Mails automatisch an praktisch jeden geschickt, der einem so einfällt, Polizei, Presse und Politiker. Die stecken Sie irgendwo in eine Zelle und schmeißen den Schlüssel weg. Legen Sie sich nicht mit mir an, Alastair«, warnte sie, »ich bin nämlich so was von in Versuchung, so oder so auf ›Senden‹ zu klicken. Sie wissen, dass ich recht habe. Sie wissen, dass Lynch genauso hinterhältig wie dämlich war. Sie wissen, dass das hier in einem versiegelten Asservatenschließfach gelegen hat, außerhalb Ihrer Reichweite. Aber nicht außerhalb meiner, Alastair«, zischte Eva. »Ich habe Freunde auf niedersten Ebenen.«
Sie konnte sehen, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, während er in kurzen Stößen atmete. Und sie wusste, sie hatte ihn.
»Was wollen Sie?«, fragte er schließlich.
»Sie nie wiedersehen. Ich will Sie nicht in meiner Nähe haben. Ich will Sie nicht in der Nähe meiner Karriere haben. Ich will, dass Sie verschwinden. Wenn Sie mich jemals wiedersehen, und sei es nur durch Zufall, dann drehen Sie um und machen sich vom Acker.« Ihr Gesicht war weiterhin dicht vor seinem; sie sah ihm in die Augen, während er ihre Worte verarbeitete.
»Und Razins Maulwurf?«, fragte Hadley nach einer Weile. Er sagte nicht Ja. Doch das war auch nicht nötig.
Sie ließ ihn auflaufen. »Machen Sie sich um den keine Gedanken. Der steht als Nächster auf meiner Liste.«
Sie stand unter dem Verandadach und knallte den Messingklopfer gegen die Tür, ein einziges Mal. Das Holz war vor Kurzem neu lackiert worden, bemerkte sie. Alles an Jeffrey Cowans Haus war makellos. Keine verirrten Farbspritzer, keine Kratzer auf den roten Fliesen der Stufen zur Veranda. Cowan war pingelig, dachte sie, während sie wartete. Er kümmerte sich.
Eine Minute später öffnete er die Tür. »Eva«, sagte Cowan, eindeutig überrascht, sie zu sehen. »Ich dachte, nach gestern Nacht würden Sie sich ein bisschen ausruhen.«
»Sie haben davon gehört?« Ihr fiel auf, dass er sie anscheinend wieder nicht ins Haus bitten wollte.
»So was spricht sich herum, vor allem, wenn es um einen alten Fall geht. Zwei Mörder mit einer Klappe?«
»So was in der Art«, bestätigte Eva. »Hören Sie, ich kann nicht lange bleiben«, erklärte sie dann, obwohl das unnötig erschien, da er sie eindeutig nicht durch die Tür zu lassen gedachte. Doch sie sagte es trotzdem. »Ich bin nur vorbeigekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich herausgefunden habe, wer Razins Mittelsmann auf dem Revier ist, und dass ich die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft und an die Dienstaufsicht weiterleite. Verstehen Sie, ich halte es für das Beste, zwei separate Behörden davon in Kenntnis zu setzen, damit die Informationen nicht unterdrückt werden oder abhandenkommen können.«
Sie sah, wie seine Hand an der Tür ein klein wenig verrutschte. »Und wer ist es?«, wollte Cowan wissen.
Eva wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Er tat es nicht, doch sie kannten ja auch beide die Antwort. »Nun, offenkundig Sie, Jeffrey. Ich weiß, Sie werden das abstreiten, aber die Spur der belastenden Dokumente bis zu Philip Jennings und seinem Unternehmen ist eindeutig, wenn man weiß, wo der Anfang ist. Ich glaube nicht, dass Sie in der Lage sein werden, es zu leugnen. Ich weiß, Sie werden sagen, Sie sind im Ruhestand, aber ich weiß auch, dass Sie noch immer ein kleines Netzwerk auf dem Revier haben. Und außerdem werden Razins Leute ja Bescheid wissen, nicht wahr?«
Sie fragte sich, ob er wohl versuchen würde, alles abzustreiten. Stattdessen sagte er: »Das können Sie nicht beweisen.«
Interessante Antwort, dachte Eva. »Doch, kann ich, mit Warren Muirs Hilfe. Oh, nicht im Wortsinn«, fuhr sie fort, als er den Anschein machte, sie unterbrechen zu wollen. »Dafür zu sorgen, dass Muir einen Sturzflug von einer Gefängnistreppe hinlegt, wird die Situation für Sie nicht verbessern. Muirs Rentenversicherung liefert die andere Hälfte der Geschichte. Aber das wissen Sie ja, Jeffrey«, meinte sie und sah zu, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten. »Deswegen haben Sie versucht, meine Ermittlungen durch anonyme Durchstechereien an die Presse zu versauen. Und deswegen haben Sie auch versucht, mich umzubringen, indem Sie meine Wohnung in Brand gesteckt haben.«
Er wich von der Tür zurück. »Ich will keinen Ärger«, sagte er.
Sie zuckte die Achseln. »Dann hätten Sie kein korrupter Polizist werden sollen. Was war’s denn? Ihre Tochter? Als ich das letzte Mal hier war, habe ich sie gehört. Sie klang«, sie sah ihm unverwandt ins Gesicht, »bedürftig. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, drogenabhängig und auf Entzug. Haben Razins Leute Sie damit gekriegt, oder waren Sie schon immer korrupt?«
»Sie können nichts davon beweisen«, beharrte er.
»Ich glaube, doch, aber das muss die Staatsanwaltschaft entscheiden. Warren Muirs kleine Kassette … wussten Sie, dass er Kopien von Ihren Bankauszügen hatte? Nicht die in Ihrem Namen; die von dem Catering-Unternehmen, das angeblich Ihrer Frau gehört hat.«
Eva sah Cowan weiter an, während dessen Angst sich in Wut verwandelte.
»Sie sind verdammt noch mal kein Cop«, fuhr er sie an. »Kein Cop würde einem Kollegen so etwas antun. Sie sind irgend so ein erbärmlicher Technikfreak, der eine Uniform angezogen hat. Warum gehen Sie nicht zurück zu Ihren Computern und Ihren pickligen Freunden, wenn Sie überhaupt welche haben, und lassen die echten Cops ihren Job machen?«
Eine Woge der Müdigkeit und der Ernüchterung rauschte über sie hinweg. Es war egal, was Jeffrey Cowan über sie dachte. Sie wusste, dass sie ihren Job gemacht hatte, und Sutton wusste es auch. Bei manchem hatte sie Glück gehabt, manches wäre um Haaresbreite schiefgegangen, doch das eine, was sie guten Gewissens tun konnte, war, sie konnte in den Spiegel sehen und sagen: Ich habe nicht aufgegeben.
»Ich bin nicht wie Sie, Jeffrey«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Ich habe vielleicht gegen ein paar Regeln verstoßen, aber ich habe immer gewusst, auf welcher Seite ich stehe. Meinetwegen ist kein Unschuldiger auf der A3 verbrannt. Ich bin überhaupt nicht wie Sie. Ich habe immer gewusst, dass das, was ich getan habe, richtig war.«
Ob es legal war, war eine andere Frage, dachte sie, während sie zusah, wie Cowan leise die Haustür schloss. Aber Fredrick Huss, wo immer er auch sein mochte, hatte sich da ja klar ausgedrückt. Naturrecht oder vielleicht auch Naturgerechtigkeit, objektiv und universell, das unabhängig vom menschlichen Begreifen existierte.
Vielleicht war es die Müdigkeit, die schiere Erschöpfung, doch plötzlich tauchte eine Formulierung aus ihrem Studium in ihrem Verstand auf. Die »ausgleichende Gerechtigkeit«, wie Aristoteles es genannt hatte: Sie diente dazu, ein Individuum für die Verletzung seiner Rechte zu entschädigen. Nun, sie hatte sich den Arsch aufgerissen, um die Verletzung von Dominic Bradleys Rechten wiedergutzumachen. Colin Lynch hatte alles bekommen, was er verdient hatte, ob das nun Geschworene verkündet hatten oder nicht. Und was Jeffrey Cowan betraf, so überließ sie die Entscheidung allein ihm.
Eva stieg in ihr Auto und fuhr davon. Sie wusste nicht, ob er eine Pistole benutzen oder sich in der Badewanne eine Schlagader aufschneiden würde. Ob er Tabletten nehmen oder sich der geballten Wucht des Gesetzes stellen würde. Das war seine Sache.
Ganz gleich, wofür er sich entschied, dachte Eva, während sie sich auf dem Rückweg zum Revier in den stockenden Verkehr einfädelte, der Naturgerechtigkeit würde Genüge getan werden.