PROLOG

„Ich weiß einfach nicht mehr weiter!“

Mak sah Helen ungläubig an. Er hatte noch nie erlebt, dass seine willensstarke und entschlossene ältere Schwester so etwas laut zugab.

„Hast du mit ihr gesprochen?“

Helen schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr geschrieben, auch E-Mails geschickt, aber sie hat nie geantwortet. Ich kann doch nicht unangemeldet hinfahren! Was ist, wenn sie mir die Tür vor der Nase zuschlägt? Außerdem kann ich sowieso nicht weg. Seit Dads Tod führe ich die Firma, und Mum mag ich auch nicht allein lassen. Du weißt ja, wie es ihr geht, nach den beiden Todesfällen so kurz hintereinander. Nicht einmal zu Weihnachtsvorbereitungen rafft sie sich auf, dabei waren ihr das Fest und die Familie immer das Wichtigste. Jetzt zuckt sie nur mit den Schultern, wenn ich sie darauf anspreche.“

Immer noch verwundert hörte Mak zu. Sicher, Helen arbeitete viel, und seine Mutter wirkte in letzter Zeit sehr zurückgezogen, aber dass es so ernst war …

„Und dann ist da noch die Sache mit unseren Cousins!“ Helen seufzte theatralisch auf. „Sie versuchen, Hellenic Enterprises unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn es ihnen gelingt, werden wir hilflos zusehen müssen, wie alles, was Dad aufgebaut hat, in fremde Hände gerät. Mum wird denken, dass alles umsonst war. Und ob sie das verkraftet …“

Während Helen im Penthouse-Büro der Firmenzentrale rastlos auf und ab marschierte, dachte Mak über das nach, was er gerade erfahren hatte. Anstatt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Ingenieur zu werden, hatte er Medizin studiert – mit dem Segen seines Vaters. Helen hingegen war in das Familienunternehmen eingetreten – wie ein halbes Dutzend seiner Cousins, die nun allesamt Anteile an der Firma besaßen.

Natürlich gehörten auch ihm Anteile, doch er bekam immer weniger davon mit, was im Unternehmen vor sich ging. Sein Beruf und seine Forschungen ließen ihm kaum Zeit, Geschäftsberichte zu lesen.

„Können sie es denn? Ich meine, besitzen sie die Mehrheit?“

„Wenn sie auf der außerordentlichen Aktionärsversammlung im Januar die Stimmen dieser Frau für sich gewinnen, dann ja. Und so wie es sich anhört, haben sie sie schon überzeugt.“

„Weißt du das genau?“, fragte Mak. Helen schien sich ihre Meinung über diese Frau bereits gebildet zu haben.

„Das ist ziemlich sicher, und noch sicherer ist, dass Geld geflossen ist. Con war letzte Woche an der Probebohrstelle, obwohl er sich noch nie für geothermische Energie interessiert hat.“ Helen zögerte kurz. „Und in seiner Ausgabenliste war ein hoher Betrag verzeichnet, offiziell eine Spende.“

Mak runzelte die Stirn. „Hast du ihn darauf angesprochen?“

„Das ging nicht“, murmelte Helen. „Eigentlich dürfte ich diese Information gar nicht haben, erst bei der nächsten Vorstandssitzung, wenn alle Kosten auf den Tisch kommen.“

„Hast du ihm etwa nachspioniert?“

„Ich nicht. Marge, Dads alte Sekretärin, hat mich informiert, als sie die Tagesordnungspunkte aufgelistet hat.“

Was auch nicht viel besser ist, dachte Mak, aber darum ging es im Moment nicht.

„Vielleicht hat Con doch die Anlage überprüft, und das Geld war für besondere Ausgaben gedacht. Sicher würde er die Frau nicht mit Firmengeld bestechen.“

„Nun, sein eigenes nimmt er bestimmt nicht!“, fuhr Helen auf. „Du kennst Con nicht so gut wie ich. Seit seiner dritten Ehe hat er sich verändert.“

„Das sind alles nur Vermutungen, Helen. Gehen wir im Moment doch noch von Cons Unschuld aus.“

Helen presste die Lippen zusammen. „Ich weiß, wie sie denken und wie sie sich die Zukunft der Firma vorstellen. Wenn sie Hellenic Enterprises übernehmen, bedeutet das zuerst einmal das Ende von Dads Traum, umweltfreundliche Energie zu erzeugen. Unsere Cousins wollen Profit machen, und zwar sofort, und das würde bedeuten, dass das Unternehmen einen anderen Kurs einschlägt, vielleicht sogar mit einem Großkonzern fusioniert.“

Mak verstand, was sie sagen wollte. Doch ihre Worte lenkten seine Gedanken in eine andere Richtung. Warum auch immer, er musste plötzlich an seinen Neffen denken.

Theo war zwar ein Frauenheld gewesen, aber immer vorsichtig. Das hatte er Mak sogar mehrfach versichert. Die Schwangerschaft konnte also kein dummer Zufall sein. Hatte diese Frau es von Anfang an geplant? Um Theo zur Ehe zu zwingen oder sonstige Vorteile für sich herauszuholen?

Ärger stieg in Mak auf, hatte er doch eine vergleichbare Situation vor Jahren selbst erlebt. Allerdings hatte Helen in Bezug auf diese Frau nur Vermutungen ausgesprochen. Soweit er wusste, hatte die Frau keinerlei Versuche unternommen, Theos Familie auch nur kennenzulernen, im Gegenteil.

Natürlich besaß diese Frau auch einen Namen, aber niemand in der Familie hatte ihn je erwähnt – besonders nicht, wenn Helen in Hörweite war. Auch Gespräche über Theos sexuelle Eskapaden waren in ihrer Gegenwart tabu. Für seine Schwester war ihr einziges Kind in jeder Hinsicht perfekt gewesen: gut aussehend, clever, loyal, ein liebender Sohn und Enkel. Er hatte der Familientradition folgen und das Erbe seines Großvaters übernehmen sollen – Hellenic Enterprises, ein Konglomerat verschiedener Firmen.

Aber Theo war tot, bei einem Autounfall umgekommen, zusammen mit drei Freunden. Vier junge Leben, die ein tragisches Ende gefunden hatten, weil Alkohol und Übermut stärker gewesen waren als jede Vernunft. Mak, der in seiner Tätigkeit als Notfallmediziner oft genug das sinnlose Sterben junger Menschen erleben musste, war zuerst mehr wütend als traurig gewesen, als er die Nachricht erfuhr. Natürlich hatte er um seinen Neffen getrauert, aber der Zorn kehrte zurück, als bekannt wurde, dass Theo ein ungeborenes Kind hinterlassen hatte.

Ein Kind, das Teil seiner Familie sein würde …

„Wie weit ist das Erkundungsteam dort draußen eigentlich?“, fragte er.

„Wir sind bereits auf vielversprechende Gesteinsformationen ziemlich dicht unter der Erdoberfläche gestoßen, sodass wir weitere Männer hingeschickt haben, die beim Aufbau einer Probeanlage helfen sollen. Wenn sich herausstellt, dass die Gesteine für eine lohnenswerte Ausbeute geeignet sind, werden wir dort ein Geothermie-Kraftwerk bauen.“

„Das heißt, es werden zusätzlich zu den vorhandenen Arbeitskräften weitere mit ihren Familien dorthin ziehen, die auch ärztlich betreut werden müssen. Zurzeit gibt es nur einen Arzt im Ort, und der wird dann vermutlich mit der Versorgung überfordert sein. Ihr solltet darauf dringen, dass mindestens ein weiterer Mediziner eine Praxis eröffnet.“

Helen nickte. „Darum kümmern wir uns. Theo hatte ja schon vorgeschlagen, dass unsere Firma einen zweiten Arzt bezahlt, wenigstens für die Erkundungsphase. Aber vielleicht hatte er noch einen anderen Grund, vielleicht hat ihm die Frau einen Floh ins Ohr gesetzt. Hellenic Enterprises kann sich einen Arzt leisten, aber wie finden wir heraus, was vor Ort wirklich gebraucht wird?“

Mak wusste genau wie, aber er war hin- und hergerissen. Selbst zur Probebohrstelle fahren und sich informieren? Ausgeschlossen, er hatte sich beurlauben lassen, um seine Masterthesis fertigzustellen, und außerdem war dort Hochsommer mit unerträglicher Hitze. Andererseits … Die Familie war ihm wichtig, und im Moment sah es so aus, als ob sie zu zerbrechen drohte. Helen, die bisher dafür gesorgt hatte, dass alles rundlief, wirkte nicht nur körperlich, sondern auch seelisch angeschlagen. Und seine Mutter … Wenn jemand etwas brauchte, das ihm neue Lebenskraft gab, dann sie. Da käme ein Urenkelkind gerade recht …

Er müsste darüber nachdenken.

Leider fehlte ihm dazu die Zeit.

„Ich weiß einfach nicht mehr weiter“, wiederholte Helen, und es war kaum mehr als ein schmerzerfülltes Flüstern. „Ich habe meinen Sohn verloren, und nun werde ich nicht einmal mein Enkelkind kennenlernen.“

„Ich kümmere mich darum“, hörte Mak sich sagen. „Morgen fahre ich hin, dann habe ich das ganze Wochenende Zeit, mir eine passende Unterkunft zu besorgen und Kontakt mit Dr. Singh aufzunehmen.“