1. KAPITEL

Nathalie Davies, von allen nur Nat genannt, fiel der gesenkte Kopf mit dem dunklen Lockenschopf sofort auf. Der kleine Junge hatte hängende Schultern, und fürs Malen brachte er sichtlich nur wenig Begeisterung auf. Er wirkte irgendwie abgesondert von den übrigen Kindern, die um ihn herum lachten und spielten, was sogleich Nats Mutterinstinkt weckte.

In diesem Raum voller Bewegung erschien er sehr verloren.

Sie tippte ihre Chefin Trudy an und fragte: „Wer ist das?“

Trudy, die gerade Obst klein schnitt, hielt inne und folgte Nats Blick. „Julian. Er ist heute den zweiten Tag hier. Vier Jahre alt. Vater superattraktiv. Italiener. Spricht perfekt Englisch und ist gerade von London hergezogen. Witwer. Noch nicht lange, glaube ich. Lächelt kaum.“

Nat nickte. Sie war an Trudys Telegrammstil gewöhnt. „Armer Kleiner.“ Kein Wunder, dass der Junge so einsam aussah. „Wie schrecklich, seine Mutter in diesem Alter zu verlieren.“ Sie selbst war acht gewesen, als ihr Vater die Familie verlassen hatte, und es schmerzte immer noch.

„Ja“, bestätigte Trudy. „Er ist sehr still und verschlossen.“

Nats Herz zog sich zusammen. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Einzelgänger gehabt. Denn sie wusste, wie es war, wenn plötzlich die eigene Welt auf den Kopf gestellt wurde, während um einen herum das Leben weiterging. Wie fremd und abgetrennt man sich fühlte.

„Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich da was machen kann“, meinte sie.

Sie ging zu dem kleinen Jungen hinüber, wobei sie auf dem Weg kurz stehen blieb, um sich ein Bilderbuch vom Regal zu nehmen. Ihrer Erfahrung nach gab es kaum etwas, das sich nicht mit einem guten Buch wieder in Ordnung bringen ließ. Zumindest für eine Weile.

„Giuliano.“ Nat lächelte den Jungen an.

Er schaute von seinem Malbuch auf, in dem er gerade so lustlos einen Riesenfrosch ausmalte. Mit offenem Mund starrte er Nat an.

Sie war verblüfft. Der Kleine war es doch sicher gewohnt, mit seinem italienischen Namen angesprochen zu werden, oder?

Er sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Verwunderung an, so als wüsste er nicht, ob er sich in ihre Arme stürzen oder in Tränen ausbrechen sollte.

Lächelnd meinte Nat: „Ciao, Giuliano. Come stai?“

Sie hatte Italienisch in der Schule gelernt und bei einem Schüleraustausch in der zwölften Klasse ein Jahr in Mailand verbracht. Jetzt, mit dreiunddreißig, war das zwar schon eine Weile her, aber früher hatte sie die Sprache doch recht fließend gesprochen.

Ein schüchternes Lächeln huschte über Julians ernstes Gesichtchen, und Nat war erleichtert. „Posso sedermi?“, fragte sie ihn.

Der Kleine nickte und rutschte zur Seite, sodass sie sich zu ihm auf die Bank setzen konnte.

„Hallo, Giuliano. Ich bin Nat“, stellte sie sich vor.

Das Lächeln des Jungen schwand ein wenig. „Papa will lieber, dass ich Julian genannt werde“, sagte er leise.

Die Förmlichkeit in seiner Stimme war herzzerreißend, und Nat hätte ihn am liebsten fest an sich gedrückt. Ein Vierjähriger sollte nicht so zugeknöpft sein. Falls dies hier nicht die Kinderkrippe des St. Auburn Hospital gewesen wäre, hätte sie sich gefragt, ob Julians Vater womöglich einen militärischen Beruf hatte.

„Dann also Julian.“ Sie streckte die Hand aus, und er schüttelte sie wie ein braver kleiner Soldat.

Nat musste ein paar ausgesprochen unfreundliche Gedanken über den Vater des Jungen unterdrücken. Konnte der denn nicht sehen, wie unglücklich sein Sohn war?

Sie erinnerte sich daran, dass der Mann erst vor Kurzem seine Frau verloren hatte und vermutlich noch sehr um sie trauerte. Aber sein Sohn hatte schließlich auch seine Mutter verloren.

„Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“ Nat zeigte auf das mitgebrachte Buch. „Es handelt von einem Opossum, und es kommen viele australische Tiere darin vor.“

Julian nickte. „Ich mag Tiere.“

„Hast du ein Tier?“

Traurig schüttelte er den Kopf. „Ich hatte einen Kater. Pinocchio. Aber den mussten wir zu Hause lassen. Papa hat mir versprochen, dass ich eine neue Katze kriege, aber … er hat zu viel zu tun.“

Nat presste den Mund zusammen. „Ich habe eine Katze. Sie heißt Flo. Sie frisst gerne Fisch und macht so ein Geräusch.“

Sie imitierte das tiefe Schnurren ihrer fünf Jahre alten Schildpattkatze. Julian lachte, sodass Nat es noch einmal machte. „Sie ist eine richtige Schnurrmaschine.“ Belustigt wiederholte sie das Geräusch und freute sich über Julians Reaktion.

Während die anderen Kinder um sie herum tobten, schlug Nat das Buch auf und begann laut zu lesen. Julian tauchte sofort in dessen Welt ein. Ein Bild nach dem andern von wunderbar gezeichneten australischen Buschtieren nahm sie beide gefangen. Und als das Buch zu Ende war, bat er Nat, es ihm noch einmal vorzulesen, seine kleine Hand in ihrer.

„Ich sehe, du hast einen Freund gewonnen“, meinte Trudy etwas später. Sie stellte ein Tablett voller Obst auf den Tisch und rief den Kindern zu, sie sollten sich vorm Essen die Hände waschen.

Julian ging mit den anderen in den Waschraum, wobei er sich immer wieder umschaute, ob Nat auch noch da war.

„Das hoffe ich, Trudy“, erwiderte Nat.

Wenn jemand einen Freund nötig hatte, dann der kleine Julian.

Eine Stunde später war der sonst so lebendige Kinderhort angenehm ruhig, da alle Kinder ihren Mittagsschlaf hielten. Nat wanderte durch die Reihen der kleinen Segeltuchbetten, um nach ihren Schützlingen zu schauen, und blieb bei Julian stehen. Weiche Locken umrahmten seine Stirn und die Wangen. Seine leicht gebräunte Haut war zart und makellos, sein Mund bogenförmig geschwungen, und er hatte rosige Lippen wie ein kleiner Engel.

Im Gegensatz zu allen anderen Kindern schlief er allein, ohne irgendein Plüschtier. Seine ernsten Züge vom Schlaf entspannt, sah er so unbekümmert aus wie jeder andere Vierjährige. Nur stimmte das eben nicht. Er war ein mutterloser kleiner Junge, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern zu tragen schien.

Er stieß einen leisen Klagelaut aus, und seine Stirn zog sich zusammen. Liebevoll wollte Nat sie glätten, doch der Junge drehte sich auf die Seite. Dann fand sein Daumen den Weg in seinen Mund. Sogar im Schlaf wirkte Julian allein.

Nat beschloss, mit seinem Vater zu reden, wenn dieser ihn abholte. Sie wollte ihn bitten, dass der Kleine ein vertrautes Stofftier von zu Hause mitbringen konnte. Vielleicht gab es ja auch die Möglichkeit, das Thema psychologische Beratung anzusprechen. Irgendjemand musste etwas für den traurigen kleinen Jungen tun.

Warum also nicht sie?

Am frühen Abend saß Nat mit Julian auf einem Sitzsack und las ihm zum dritten Mal das Buch Possum Magic vor. Die meisten Kinder waren mittlerweile abgeholt worden, daher herrschte Ruhe im Raum. Die wenigen Kinder, die noch warteten, beschäftigten sich still.

Nat hatte versucht, Julian mit den anderen Kindern zusammenzubringen, aber er hatte sich standhaft geweigert und war ihr stattdessen auf Schritt und Tritt gefolgt. Sein verzagtes kleines Gesicht rührte sie, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn abzuweisen. Er schien sich so sehr danach zu sehnen, geliebt zu werden. Nat wusste genau, wie sich das anfühlte.

Als sie die Seiten umblätterte, merkte sie nicht, dass der Kleine wieder den Daumen im Mund hatte und mit einer Hand ihre blonden Haare streichelte. Sie nahm nur Julians warmen kleinen Körper wahr, der an sie gedrückt war. Und sie freute sich über sein herzliches Lachen, wann immer sie Grandma Poss und Hush auf der Suche nach ihrem Zaubermittel nachahmte.

Dr. Alessandro Lombardi kam mit langen Schritten in den Hort. Er war hundemüde. Gefühlschaos, monatelanger Schlafmangel, der Umzug auf die andere Seite der Welt und der neue Job forderten ihren Tribut. Alessandro wollte nach Hause ins Bett und am liebsten ein Jahr lang schlafen.

Schön wär’s.

An der Tür blieb er abrupt stehen, als das Lachen seines Sohnes an sein Ohr drang. Seit Monaten hatte er Julian nicht mehr lachen hören und schon beinahe vergessen, wie es klang. Eine schöne Überraschung nach einem harten Tag.

Alessandros dunkle Augen weiteten sich bei dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Sohn saß an eine Frau gekuschelt, die ebenso blondes Haar und blaue Augen hatte wie Camilla. Gedankenverloren spielte er mit ihren hellen Strähnen und lutschte am Daumen, genau wie früher bei Camilla.

Mit drei Schritten durchquerte Alessandro den Raum. „Julian!“

Es klang wie ein Peitschenhieb, und Nat schaute verblüfft auf, als Julian der Daumen aus dem Mund fiel und er seine Hand von ihrem Haar nahm, als hätte er sich verbrannt.

Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war erstaunlich. Dasselbe Stirnrunzeln, derselbe ernste Ausdruck, derselbe geschwungene Mund.

Während Julian jedoch eine kindliche Ausstrahlung hatte, war die seines Vaters ganz anders. Nat spürte sofort, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Der Mann sah aus wie ein tragischer Prinz aus einem Shakespeare-Drama.

Julians Vater war einfach umwerfend attraktiv. Dichtes dunkles Haar, in dem sich ein paar silbrige Strähnen zeigten, fiel ihm in die Stirn und bis zum Nacken. Er hatte ein markantes Kinn, und dieser Mund …

Nat wusste, dass sie von diesem Mund träumen würde. Ihr war plötzlich heiß, trotz der eisigen Kälte, mit der er sie aus seinen dunklen Augen musterte. Nat war daran gewöhnt, von Männern angestarrt zu werden. Sie war blond und besaß eine gute Figur. Kein Supermodel, aber sie hatte einen klaren Teint, schönes Haar und trug Kleidergröße achtunddreißig.

Bis heute hatte sie geglaubt, dass das Jahr in Italien sie gegen unverhohlenes Angestarrt-Werden immun gemacht hätte. Damals hatte sie bei jungen italienischen Männern jedenfalls sehr viel Aufmerksamkeit erregt.

In dem Ausdruck dieses Italieners hier lag allerdings nicht das geringste sexuelle Interesse. Im Gegenteil, er sah sie an, als wäre sie eine böse Hexe.

„Julian“, wiederholte er ruhig. Dabei wandte er seine Augen nicht von der unbekannten Frau ab, die ihm so seltsam vertraut erschien. Von der Art, wie sie ihre langen Beine untergeschlagen hatte, bis zu dem langen blonden Pferdeschwanz, der ihr über die Schultern fiel, und dem Pony, den sie aus dem Gesicht zurückwarf, war sie das exakte Ebenbild von Camilla.

Sein Blick glitt zu den obersten beiden Knöpfen ihres T-Shirts, die an dem V-Ausschnitt offen standen, und blieb einen Moment lang an der üppigen Wölbung ihres Dekolletés hängen. Es war schon lange her, dass er den Ausschnitt einer Frau bewundert hatte, und rasch schaute er wieder nach oben. Auch hier war die Ähnlichkeit mit Camilla geradezu unheimlich. Dieselben weit auseinanderstehenden Augen, dieselben hohen Wangenknochen, derselbe volle Mund und das spitze Kinn mit der kleinen sexy Vertiefung, die sich bestimmt zu einem Grübchen vertiefte, sobald sie lächelte.

Ich muss wirklich verdammt müde sein, dachte Alessandro. Ich halluziniere ja schon.

Er streckte seinem Sohn die Hand hin. „Komm her.“

Julian gehorchte augenblicklich, und Nat spürte, wie der Sitzsack unter ihr nachgab, sodass sie leicht nach hinten rutschte. Von ihrer entschieden unvorteilhaften Position auf dem Boden musste sie nun weit nach oben aufblicken.

Aus dieser Perspektive wirkte Julians Vater noch einschüchternder. Männlicher.

Noch nie hatte Nat so intensiv auf einen Mann reagiert.

Unter der Nadelstreifenhose zeichneten sich die Umrisse der kräftigen Oberschenkel ab, und durch den Stoff des Oberhemdes waren breite Schultern und ein muskulöser Oberkörper zu erkennen, der in schmale Hüften überging.

Dummerweise starrte der Mann noch immer auf Nat herunter, als wäre sie ein Insekt, das seine Jungen fraß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich von dem Sitzsack hochgehievt hatte. Um ihre Fassung zurückzugewinnen, lächelte sie zunächst Julian an. Obwohl er neben seinem Vater stand, wirkte er immer noch einsam. Die beiden berührten sich nicht. Es gab keine Umarmung zur Begrüßung, kein kameradschaftliches Schulterdrücken oder einen liebevollen Vater-Sohn-Blick.

Es war offensichtlich, dass Julian sich nicht fürchtete, aber das arme Kind hatte wohl auch keine großen Erwartungen.

Nat hob ihren Blick wieder. Wow, der Mann war wirklich groß. Und unglaublich sexy. Sie lächelte, vor allem wegen Julian. „Hallo. Ich bin Nat Davies.“ Sie streckte die Hand aus.

Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hatte Alessandro sich innerlich gewappnet, da er halb damit rechnete, einen glasklaren englischen Akzent zu hören. Da ihre Worte jedoch in der langsamen, ruhigen australischen Art herauskamen, entspannte er sich etwas.

Oberflächlich gesehen, waren die Ähnlichkeiten zwischen Nat Davies und seiner verstorbenen Ehefrau verblüffend. Kein Wunder, dass sie Julian gleich gefallen hatte. Aber damit hatte es sich dann auch. Die Frau vor ihm strahlte Offenheit, Freundlichkeit und eine gewisse Unschuld aus, die Camilla nie besessen hatte.

Aus dem anscheinend eilig zusammengebundenen Haar entschlüpften hier und da kleine Strähnen. Es war nicht ordentlich frisiert und so lange gestylt worden, bis jedes einzelne Haar an Ort und Stelle lag. Außerdem hätte Camilla es niemals gewagt, ohne Make-up aus dem Haus zu gehen. Nat Davies wirkte im Vergleich dazu eher wie das Mädchen von nebenan. Nicht wie die vornehme englische Version, die Alessandro geheiratet hatte.

Sogar ihr Parfum roch anders. Camilla hatte immer schwere, würzige Parfums bevorzugt, die noch lange in der Luft hingen, nachdem sie längst das Zimmer verlassen hatte. Nat Davies dagegen duftete nach einem Blumengarten. Und nach Knetgummi. Eine interessante Mischung. Vor allem aber war ihr Blick frei von jeder Künstlichkeit oder Arglist, und Alessandro fühlte sich in ihrer Nähe wesentlich entspannter als jemals bei Camilla.

Er schüttelte kurz ihre Hand. „Alessandro Lombardi.“

Der flüchtige Kontakt ließ Nats Herz unwillkürlich schneller schlagen. Seine Stimme war tief und voll wie Rotwein und dunkle Schokolade. Der leichte Akzent verlieh dem exotisch klingenden Namen noch einen zusätzlichen Zauber. Sein bronzefarbenes Gesicht blieb jedoch angespannt, und Nat hatte den Eindruck, dass der Mann nicht gerade zu starken Gefühlsäußerungen neigte.

Kein Wunder, dass Julian kaum lächelte, wenn er mit diesem Mister Ausdruckslos zusammenlebte. Nat warf einen Blick auf den Jungen, der zu Boden schaute. „Hey, Julian. Hättest du Lust, das Possum Magic – Buch mit nach Hause zu nehmen? Es gehört zu unserer Leihbibliothek. Vielleicht kann dein Vater es dir heute Abend vorlesen.“

Zögernd sah der Junge zu seinem Vater auf, das kleine Gesicht erschreckend hoffnungslos.

Doch Alessandro nickte. „Sì.“

Nat gab Julian das Bilderbuch. Trotz der Zustimmung seines Vaters sah der Kleine immer noch ernst aus. Vielleicht glaubte er nicht daran, dass sein Vater ihm tatsächlich etwas vorlesen würde. Sie musste zugeben, Alessandro Lombardi wirkte nicht wie jemand, der sich mit seinem Sohn zusammen ins Bett kuschelte. „Geh zu Trudy, Julian“, meinte sie. „Sie wird eine Ausleihkarte für dich ausfüllen.“

Beide schauten dem Jungen nach, der zu Trudy ging und dabei das Buch fest an sich presste.

Nat sah Julians Vater wieder an. „Signor Lombardi.“

„Mr Lombardi, bitte“, unterbrach er sie. „Oder Doktor. Julian kann nur wenig Italienisch. Seine Mutter …“ Alessandro hielt inne, überrascht, wie sehr ihn allein die Erwähnung von Camillas Namen schon schmerzte. „Seine Mutter war Engländerin. Es war ihr Wunsch, dass Englisch seine erste Sprache sein sollte.“

Nat war überrascht. Erstens konnte Julian sehr viel mehr Italienisch, als sein Vater ihm zutraute. Und zweitens, welche Mutter würde ihrem Kind die Chance verweigern, eine zweite Sprache zu lernen? Noch dazu die des Vaters.

Doch der Mann stockte, als er von seiner Frau sprach. Dieses Zögern, diese Leere rührte Nat. Offenbar befand er sich noch in tiefer Trauer. Vielleicht versuchte er im Sinne seiner verstorbenen Frau zu handeln, indem er die Dinge in den für Julian gewohnten Bahnen ließ. Oder er bemühte sich verzweifelt, an einem Leben festzuhalten, das von Grund auf erschüttert worden war.

Bei näherem Hinsehen konnte Nat die dunklen Ringe und die feinen Linien an seinen Augen erkennen. Er wirkte erschöpft, als hätte er schon sehr lange nicht mehr richtig geschlafen.

Wer war sie denn, dass sie sich ein Urteil erlauben durfte?

„Dr. Lombardi, ich habe mich gefragt, ob Julian vielleicht ein besonderes Stofftier oder einen Teddybären hat. Irgendetwas von zu Hause, was ihm dabei hilft, sich in dieser neuen Umgebung nicht ganz so allein zu fühlen.“

Alessandro versteifte sich. Ein Stofftier, natürlich. Camilla hätte das gewusst. Es gab doch dieses schäbig aussehende Kaninchen, das sein Sohn ständig mit sich herumgeschleppt hatte. Irgendwo.

„Ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Unsere Sachen sind erst vor wenigen Tagen angekommen, und wir hatten noch keine Zeit, sie auszupacken. Wir leben immer noch aus dem Koffer.“

Nat war entsetzt. Zu beschäftigt, um das eigene Kind mit vertrauten Dingen zu umgeben, nachdem seine ganze Welt zusammengebrochen war?

„Es geht mich sicher nichts an, aber ich hörte, Sie sind seit Kurzem verwitwet.“

Alessandro sah den sanften Ausdruck in ihren Augen und wollte sie anschreien, dass sie damit aufhören sollte. Er hatte ihr Mitgefühl nicht verdient. Stattdessen nickte er nur knapp. „Sì.“

Jetzt wirkte er beinahe noch düsterer als vorhin. Aber trotz seiner grimmigen Miene und der abweisenden Haltung spürte Nat einen fast unwiderstehlichen Impuls, Vater und Sohn zu umarmen. Sie hatten so viel durchgemacht, und beide litten offensichtlich noch sehr. Diese Traurigkeit konnte Nat kaum ertragen.

„Außerdem hätte ich gerne gewusst, ob Julian schon irgendeine psychologische Beratung bekommen hat“, fuhr sie fort. „Er scheint sehr verschlossen zu sein. Den Beratungsservice hier in St. Auburn kann ich empfehlen. Die Kinderpsychologin ist hervorragend. Wir könnten einen Termin für ihn vereinbaren.“

„Sie haben recht“, unterbrach Alessandro sie zum zweiten Mal. In seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Das geht Sie nichts an.“ Er wandte sich nach seinem Sohn um. „Komm, Julian.“

Nat war zumute, als hätte er sie geohrfeigt, und sie wich leicht zurück. Mit seiner Stimme konnte Alessandro Lombardi sogar einen Vulkan einfrieren. Er war es anscheinend nicht gewohnt, dass man seine Autorität anzweifelte.

Ihren letzten Cent hätte Nat darauf verwettet, dass er Chirurg war. Sie beobachtete, wie er mit seinem Sohn zur Tür ging. Julian hob den Arm, um nach der Hand seines Vaters zu greifen, besann sich dann jedoch eines Besseren und ließ ihn wieder sinken. Von der Tür aus winkte er Nat mit einem niedergeschlagenen Lächeln zu, und ihr stieg ein dicker Kloß in den Hals.

Die beiden gingen Seite an Seite und waren gefühlsmäßig doch völlig voneinander getrennt. Weder hob der Vater sein Kind hoch, noch legte er ihm liebevoll die Hand auf den Rücken. Nichts, rein gar nichts, um ihm auf irgendeiner Ebene zu vermitteln: ‚Ich hab dich lieb, ich bin für dich da.‘

Nat hoffte inständig, dass diese merkwürdige Entfremdung zwischen den beiden auf ihre Trauer zurückzuführen war und nicht auf etwas Tiefergehendes. Einen dermaßen resignierten Vierjährigen zu sehen, brach ihr das Herz.

Da sie selbst mit einem emotional distanzierten Vater aufgewachsen war, wusste Nat nur allzu gut, wie zerstörerisch so etwas sein konnte. Wie oft hatte sie sich nach seiner Berührung, seinem Lächeln, seinem Lob gesehnt, nachdem ihr Vater gegangen war? Wie oft hatte er sie enttäuscht, weil er zu sehr mit seiner neuen Familie und seinen Jungen beschäftigt war? Selbst jetzt mit dreiunddreißig suchte sie immer noch seine Liebe. Dass mit einem Kind in ihrer Obhut dasselbe geschah, konnte sie nicht ertragen.

Doch sie spürte, dass auch Alessandro Lombardi litt. Es war hart, ihn so zu verurteilen. Als Krankenschwester war ihr bewusst, welche Auswirkung Trauer auf Menschen hatte. Wie sehr sie einem den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. Wahrscheinlich hatte Dr. Lombardi seine Frau sehr geliebt und tat sein Bestes, um überhaupt jeden Tag zu funktionieren. Vielleicht war er im Augenblick nur gefühlsmäßig erstarrt.

Nat seufzte. Nun hatte sie wohl auch für den Vater eine Schwäche entwickelt. Sie sprang eben einfach auf jede rührende Geschichte an.

Nachdem sie am nächsten Tag ihre Schicht in der Tagesambulanz beendet hatte, ging Nat zu einer sehr späten Mittagspause in die Notaufnahme zurück. In der Ambulanz hatte sie eine Krankenvertretung übernommen und war ziemlich erschöpft.

Sie hatte nichts dagegen, außerhalb ihres üblichen Arbeitsbereichs eingesetzt zu werden, und in der Ambulanz hatte sie seit dem Beginn ihres Jobs vor einem halben Jahr schon mehrfach ausgeholfen. Aber es war immer eine sehr volle Vormittagssprechstunde, die regelmäßig weit über ein Uhr hinaus überzogen wurde. Für eine Frühstückspause war auch keine Zeit gewesen, sodass Nats Magen geräuschvoll protestierte. Sie freute sich auf die heiße Fleischpastete, die sie sich gleich gönnen würde.

Da sie auch die halbe Nacht wegen Julian wach gelegen hatte, war sie jetzt total fertig. Und die andere Nachthälfte hatte Julians Vater in ihren Träumen herumgespukt. Sie hatte ja gleich gewusst, dass sie von diesem erotischen Mund träumen würde.

„Oh, super, du bist wieder da. Ich brauche dringend noch eine erfahrene Krankenschwester“, empfing sie Imogen Reddy, die Stationsschwester. „Hier geht’s zu wie im Irrenhaus. Wir haben gerade einen Notfall im Schockraum. Ein Zweiundsiebzigjähriger mit Verdacht auf Myokard-Infarkt. Würdest du reingehen und dem Doc helfen? Delia ist bei ihm drin, aber sie hätte schon vor einer halben Stunde Dienstschluss gehabt und hatte nicht mal Zeit, um was zu essen. Kannst du sie ablösen und nach Hause schicken?“

Nat schaute sich um. Wieder mal ein ganz gewöhnlicher Tag in der Notaufnahme. Und dann wunderten sich ihre Vorgesetzten, dass sie partout keine Vollzeit-Stelle haben wollte. Ihr Magen grummelte, aber sie konnte unmöglich eine Kollegin im siebten Schwangerschaftsmonat Überstunden machen lassen.

Daher lächelte sie ihre Chefin an. „Schockraum. Klar.“

Vor dem Raum blieb sie stehen, zog ein Paar Einweghandschuhe aus dem Spender an der Wand und streifte sie über. Dann holte sie tief Luft und ging hinein.

„Okay, Delia, ich übernehme jetzt“, sagte sie zu ihrer Kollegin. „Geh nach Hause, leg die Füße hoch und gib dem Baby was zu essen.“

Mit einem dankbaren Lächeln sah Delia sie an. „Bist du sicher?“ Dann wandte sie sich zu dem anwesenden Arzt um. „Ist es okay, wenn ich gehe, Alessandro? Sie bekommen eine viel bessere Unterstützung. Nat ist eine Super-Krankenschwester.“

Alessandro? Nat fuhr herum. Groß und finster stand Alessandro Lombardi genau hinter ihr. Plötzlich trat das ganze Chaos um sie herum, die Geräusche des Sauerstoffgeräts und der Monitore, in den Hintergrund, als sie in seine kohlschwarzen Augen blickte.

Aufmerksame, intelligente Augen, aber heute wirkte er noch müder als gestern. Alessandro erwiderte ihren Blick, und Nat kam sich beinahe vor, als würde sie nackt vor ihm stehen. Sie schaute weg, da einige der Bilder von letzter Nacht wieder in ihr aufstiegen. Verflixt. Er war der neue Arzt? Dadurch, dass sie nur Teilzeit arbeitete, war sie über Veränderungen in der Abteilung meistens nicht besonders gut informiert.

So viel also zu ihrer Chirurgen-Theorie.

Alessandro betrachtete die Frau, die der Grund für eine weitere schlaflose Nacht gewesen war. Zwar ein neuer Grund, aber auf jeden Fall eine Komplikation, die er nicht gebrauchen konnte. Heute sah sie anders aus. Statt Shorts und T-Shirt trug sie eine professionelle weiße Uniform mit einem Reißverschluss an der Vorderseite. Das Haar hatte sie etwas ordentlicher zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und in dieser Umgebung fühlte er sich ihr gegenüber etwas entspannter.

Dennoch glitt sein Blick flüchtig zu dem Reißverschluss, und unwillkürlich schoss Alessandro ein Bild davon durch den Kopf, wie er ihn herunterriss.

Kurz sah er Delia an. „Ja, wir sind uns schon begegnet.“

Dann wandte er sich wieder seinem Patienten zu, und Nat fühlte sich beiseitegeschoben. Wenn der Kerl nur wüsste, was er in ihren Träumen letzte Nacht alles mit ihr gemacht hatte …

Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, wäre sie vielleicht verärgert gewesen. Aber der Patient lenkte sie ab.

„Super-Schwester, ja?“, krächzte er hinter seiner Sauerstoffmaske.

Nat sah ihn an. Der alte Mann war schweißnass und grau und zeigte starke Ausschläge auf dem EKG-Monitor. Das war äußerst beunruhigend, und noch während sie auf den Bildschirm blickte, wurde der Rhythmus durch eine kurze ventrikuläre Tachykardie unterbrochen.

Sein Herzmuskel starb ab.

Trotz des bereits verabreichten Morphiums hatte der Mann starke Schmerzen, aber in seinen glänzenden Augen lag noch immer ein Zwinkern. Offenbar war er einer dieser kernigen alten Männer, die sich niemals beklagten.

„Ja, Sir.“ Nat drückte seine Hand. „Das bin ich. Immer zur Stelle.“

Der Patient lächelte schwach. „Ernie“, stieß er mühsam hervor. „Na, dann bin ich ja in guten Händen.“

Nat schaute zu Alessandro hinüber. Hoffentlich war er als Arzt besser als in seiner Vaterrolle. „In den allerbesten.“

„Wann sind die Herzspezialisten da?“, fragte Alessandro in den Raum hinein.

Nat Davies vom Kinderhort hier zu sehen, war etwas überraschend, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er musste sich auf seinen Patienten konzentrieren.

Ernies EKG zeigte einen massiven Myokard-Infarkt. Er bekam die richtigen Medikamente, um den Prozess aufzuhalten. Aber solche Patienten waren oft instabil, und Alessandro fürchtete, dass es bei Ernie zu einem Herzstillstand kam, bevor die Medikamente wirken konnten. Oder dass sein Herz bereits zu sehr geschädigt war.

„Zwei Minuten“, antwortete jemand hinter ihm.

Doch diese zwei Minuten blieben dem alten Mann nicht mehr. Alessandros schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich, als der Monitoralarm ausgelöst wurde und Ernie das Bewusstsein verlor.

Er wies auf Nat. „Beginnen Sie mit der Reanimation. Ich werde intubieren. Adrenalin“, befahl er. „Und laden Sie den Defibrillator.“

Nat zog den Rock ihrer Uniform über die Beine hoch und stieg auf die schmale Liege. Die Knie weit auseinander, balancierte sie am Rand und fing mit der Druckmassage an.

Jeder Groll, den sie Alessandro Lombardi gegenüber noch empfand, verrauchte augenblicklich, als sie merkte, wie professionell er handelte. Aber es war noch mehr als das. Für ihn ging es hier nicht nur um einen Zweiundsiebzigjährigen, bei dem er nach wenigen Minuten aufgab. Er ließ Ernie jede Chance und hörte erst nach einer halben Stunde auf.

Er legte seine Hände auf die von Nat, damit sie innehielt. „Danke.“ Dann blickte er auf die Uhr. „Zeitpunkt des Todes: fünfzehn Uhr zweiundzwanzig.“

Nat schaute hinunter. Alessandro hatte die Ärmel aufgerollt, sodass die dunklen Härchen auf seinen kräftigen, gebräunten Unterarmen zu sehen waren.

Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Augen trafen sich in einem seltsam solidarischen Gefühl. An seinem niedergeschlagenen Ausdruck erkannte sie, wie sehr es ihm zu schaffen machte, seinen Patienten verloren zu haben.

Doch dann streifte sein Blick flüchtig ihren Ausschnitt, und Nat spürte, dass ihre Brustwarzen sofort hart wurden, als ob er sie tatsächlich berührt hätte. Sobald er die Augen wieder hob, sah sie nur noch glühende Hitze darin.

Nach zwei Sekunden war diese Hitze jedoch genauso schnell wieder verflogen, wie sie gekommen war, und Alessandro half Nat von der Liege herunter. Die Beine gaben fast unter ihr nach, und Nat musste sich am Rand des Notfallwagens festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Sind Sie okay?“, fragte Alessandro.

Sie rieb sich die schmerzenden Knie. „Ja.“

Doch als sie auf Ernie herunterschaute, merkte sie, dass das nicht stimmte. Er war tot, das Zwinkern in seinen Augen für immer erloschen. Dass sie ihn nur zwei Minuten gekannt hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Ein Mensch sollte nicht von Fremden umgeben sterben müssen.

Wie immer in solchen Fällen überfiel sie eine tiefe Traurigkeit.

Alessandro nickte. „Wir müssen mit seiner Familie sprechen.“

Seine Augen waren hart und kalt wie Onyx, keine Spur mehr von der glühenden Hitze von eben.

Ihr Magen knurrte erneut, doch Nat ignorierte es. Alessandro ging mit langen Schritten voran, und sie folgte ihm. Seine Rückansicht war zugegebenermaßen recht ansprechend. Die Hose lag eng an seinem straffen Po an, und jeder weit ausgreifende Schritt betonte nicht nur die langen, kraftvollen Beine, sondern auch seinen breiten Rücken.

All das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass dieser Mann auch nur im Entferntesten dazu in der Lage war, mit trauernden Angehörigen umzugehen. Er war ja selbst noch in Trauer. Hatte Ernies Tod ihn an seine verstorbene Frau erinnert?

Als ausgebildeter Facharzt für Notfallmedizin hatte er solche Situationen sicher schon häufiger erlebt. Aber wenn er sich Ernies Familie gegenüber ebenso distanziert verhielt wie mit seinem Sohn, könnte dies für die Angehörigen sehr schwierig werden. Nat fragte sich, ob er sie deshalb mitnahm, damit sie hinterher die Scherben aufsammelte, die er hinterlassen würde. Das war ihr in ihrem Beruf leider schon oft passiert, weil es viel zu viele Ärzte gab, die sich im menschlichen Umgang als völlig unfähig erwiesen.

Jemandem mitzuteilen, dass ein naher Angehöriger verstorben war, war immer schrecklich. Lieber hätte Nat eine ganze Schicht lang Bettpfannen gesäubert, als mitzubekommen, wie verheerend sich diese wenigen furchtbaren Worte auswirken konnten. Aber Ernies Frau und Kinder hatten es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Sie würden Fragen stellen, die beantwortet werden mussten. Davor konnte Nat sich nicht drücken.

Wieder einmal überraschte sie Alessandro jedoch. Er sprach leise mit seinem italienischen Akzent, während er behutsam beschrieb, was geschehen war. Die Angehörigen weinten, stellten Fragen, und Alessandro blieb ruhig, freundlich und geduldig. Er war das Mitgefühl in Person.

Schließlich streckte Ernies Frau zögernd ihre Hand aus, zog sie aber wieder zurück. Und dann war es Alessandro, der von sich aus ihre Hand nahm.

Eigentlich hätte diese Geste Nats Herz sofort erweicht, aber diesmal nicht. Denn es erinnerte sie an gestern, als Julian nach der Hand seines Vaters hatte greifen wollen. Auf einmal stieg ungeheure Wut in ihr auf, als hätte ihr jemand einen glühenden Schürhaken durchs Herz gebohrt. Sie wusste nicht, ob es am Hunger oder an ihrem Schlafmangel lag, aber sie verspürte einen geradezu irrationalen Zorn.

War dieser Kerl etwa schizophren? Ein Mann mit zwei Gesichtern? Wie konnte er Ernies Ehefrau, einer völlig Fremden, den Trost spenden, den er seinem eigenen Kind verweigerte?

Er hatte bei dieser unbekannten Familie mehr Sensibilität, mehr Gefühl gezeigt als für seinen vierjährigen Sohn. Gestern hatte Nat noch geglaubt, dass Alessandro durch die Trauer um seine Frau emotional erstarrt war. Aber das stimmte nicht. Er war offenbar ein hervorragender Notfallmediziner mit einem wunderbaren Patientenkontakt. Nur dass er diese Fähigkeit anscheinend zu Hause nicht anwendete. Bei dem wichtigsten Menschen in seinem Leben, seinem kleinen Sohn.

Nach etwa zwanzig Minuten verließen sie Ernies Familie wieder, und Nat war noch nie so froh gewesen, einen Menschen los zu sein, wie jetzt. Aufgebracht stürmte sie voraus. Wenn sie nicht so schnell wie möglich von dem Kerl wegkam, würde sie vermutlich irgendwas sagen, das sie hinterher bereuen könnte.

Stirnrunzelnd folgte Alessandro ihr. Nat wirkte aufgeregt, und obwohl er lieber nichts mit der Frau zu tun haben wollte, die wie Camillas Zwilling aussah, waren sie doch Kollegen. Und er wusste, dass ein plötzlicher Todesfall einen schwer belasten konnte.

Er holte sie ein. „Alles okay mit Ihnen?“

„Ja.“

Alessandro hielt sie am Arm fest. „Den Eindruck habe ich nicht.“

Nat blickte auf die gebräunten Finger auf ihrer hellen Haut, ehe sie aufschaute. Sie wollte ihm ihren Arm entziehen, doch Alessandro verstärkte seinen Griff.

Die Hitze, die von seiner Hand ausstrahlte, strömte ihren Arm entlang hinauf bis zu ihren Brüsten. Verdammt, sie wollte diese Gefühle nicht. Nicht jetzt. Sie war wütend. Fuchsteufelswild. Nat holte tief Luft.

Sie standen einander im Korridor gegenüber, und plötzlich war es, als stünde die Zeit still und sie wären die einzigen Menschen auf der Erde.

Nat begriff nicht, wie es sein konnte, dass man jemanden schütteln und zugleich am liebsten abknutschen wollte.

„Mir geht’s gut“, stieß sie gedämpft hervor.

Alessandro sah die roten Flecken auf ihren Wangen und den verlockend halb geöffneten Mund. Mühsam riss er seinen Blick davon los. „Das glaube ich Ihnen nicht. Ich weiß, wie schwierig solche Fälle sein können.“

Nat schnaubte entrüstet. „Sie glauben, hier geht es um Ernie?“ Fassungslos starrte sie ihn an. Wie konnte sie jemanden begehren, der so unglaublich begriffsstutzig war?

„Nicht?“

Wieder schnaubte sie. Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. „Sagen Sie, wie kommt es, dass Sie einer völlig Fremden die Hand halten können, bei Ihrem eigenen Sohn aber nicht dazu imstande sind?“

Alessandro erstarrte und zuckte mit seiner Hand von ihrem Arm zurück, als hätte sie den Ebola-Virus. Ein frostiger Ausdruck trat in seine schwarzen Augen, und unter seiner Sonnenbräune wurde er blass.

„Na, haben Sie nichts dazu zu sagen?“, höhnte sie.

„Oh, ich denke, Sie haben schon genug gesagt.“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte über den Korridor davon.

Nat atmete tief durch. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Wut. Vermutlich hätte sie sich zerknirscht fühlen sollen, aber das gelang ihr nicht. Wenn der Kerl in seinem Beruf eine solche Anteilnahme zeigen konnte, dann musste er doch wohl in der Lage sein, das auch zu Hause zu tun.

Wenn sie Julian vor der emotionalen Wüste bewahren konnte, die sie selbst erlebt hatte, indem sie sich ihre ganze Kindheit hindurch vergeblich bemüht hatte, ihrem Vater zu gefallen, dann würde sie das tun.

Oh nein. Sie hatte noch längst nicht genug gesagt. Bei Weitem nicht.