Zwei Wochen später steckte Brisbane mitten in einer erbarmungslosen Hitzewelle. Das Stromnetz konnte Ventilatoren- und Klimaanlagen, die rund um die Uhr in Betrieb waren, kaum noch versorgen. Die Gemüter waren allgemein gereizt. Aggressives Verkehrsverhalten, Hitzschlag und Dehydrierung griffen um sich.
Selbst für eine Stadt, wo jeden Sommer große Hitze herrschte, waren die Temperaturen extrem. Außerdem war es erst Frühling, und auf der anderen Seite der Welt kämpfte man mit einer neuen Grippe-Epidemie und einem späten Wintereinbruch.
Nat freute sich geradezu darauf, ins St. Auburn Hospital zu kommen und dort von kühler Luft empfangen zu werden. Alles war besser als ihre kleine enge Bude, die der Makler großartig „Stadthaus“ genannt hatte, in einem absolut windstillen Vorort, der unter der sengenden Sonne glühte.
Bald würde das allerdings auch keinen Unterschied mehr machen, da es so aussah, als müsste Nat zum Ende des Monats ausziehen.
Im achten Stockwerk betrat sie den überfüllten Lift. Dort hatte sie ein weiteres Hitzeopfer auf die Station gebracht und war nun auf dem Rückweg in die Notaufnahme. Da der Knopf fürs Erdgeschoss bereits gedrückt war, dachte sie an den Anruf, den sie von ihrem Makler erwartete. Heute sollte sich herausstellen, ob sie eine Mietverlängerung bekam oder nicht.
Erst als der Aufzug sich nach und nach leerte und sie dadurch mehr Platz hatte, bemerkte sie die anderen Passagiere. Zwei weitere stiegen im vierten Stock aus, und plötzlich war außer ihr nur noch eine andere Person übrig. Ein hochgewachsener Mann hinter ihr. Rasch warf Nat einen Blick über die Schulter.
Mit ironisch hochgezogenen Brauen sah Alessandro Lombardi sie an. Verflixt. Seitdem sie ihm vor zwei Wochen mehr oder weniger vorgeworfen hatte, ein miserabler Vater zu sein, hatte sie ihn nur kurz und aus der Ferne gesehen. Heute trug er ein blassgelbes Hemd und dazu eine elegante apricotfarbene Krawatte. Das Stethoskop hing ihm lässig um den Nacken.
Er sah verdammt gut aus, und sofort meldeten sich ihre Hormone. Während sich die Tür langsam schloss, drehte Nat sich wieder um und drückte mehrmals auf den Knopf zum Erdgeschoss, wobei ihr Herz heftig klopfte.
Ein Lächeln huschte über Alessandros Lippen, als er auf ihren Rücken schaute. Der blonde Pferdeschwanz hing über ihren Uniformkragen. Seit ihrem Ausbruch neulich hatte er sie nicht mehr aus der Nähe gesehen, aber er hatte oft genug von ihr gehört. Julian redete ständig von ihr, sodass sie schon in Alessandros Träumen vorkam.
Er stellte sich neben sie. „Guten Tag, Nat.“
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Dr. Lombardi.“ Doch sie drehte sich nicht um. Stattdessen drückte sie noch einige Male auf den ‚E‘-Knopf. Wieso war dieser blöde Aufzug so unendlich langsam?
„Achtung, sonst machen Sie ihn noch kaputt.“
Sie bemerkte den belustigten Unterton in seiner Stimme. Aber bei der Hitze heute und dem drohenden Rausschmiss aus ihrer Wohnung war sie dazu überhaupt nicht in Stimmung. Deshalb schlug sie noch einmal kräftig auf den Knopf.
Da kam der Lift quietschend und ruckartig ganz zum Stehen, sodass Nat stolperte und gegen Alessandro prallte.
„Porca vacca!“, fluchte er halblaut.
Dann fasste er mit einer Hand ihren Ellbogen, und die Lichter gingen aus. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie sich rührten.
Alessandro erholte sich zuerst. „Sind Sie okay?“
Seine große Hand fühlte sich auf ihrem Arm warm an, und für einen Augenblick lehnte Nat sich spontan an ihn. Ihr Herz pochte wie wild, während sie überlegte, was das größere Problem war: in einem Lift festzustecken oder mit Alessandro Lombardi eingesperrt zu sein.
„Sie wissen ja“, meinte Nat, die sich rasch seinem Griff entzog. „Wenn man eine Fremdsprache lernt, kriegt man immer als Erstes die Schimpfwörter mit.“
Alessandro lachte. „Ich bekenne mich schuldig.“
Sein leises Lachen wirkte seltsam bei einem Mann, der bisher nicht im Entferntesten einen fröhlichen Eindruck gemacht hatte. Aber der Klang schien sie in der Dunkelheit einzuhüllen und vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit.
Eine Lampe flackerte und ging wieder an, und Alessandro rechnete damit, dass der Lift mit einem erneuten Ruck starten würde. Da jedoch nichts geschah, blickte er zu Nat herunter, die erwartungsvoll zur Decke schaute. Ihr blumiger Duft stieg ihm in die Nase, und als sie den Blick von der Decke abwandte und Alessandro ansah, spürte er den starken Impuls, ihr mit dem Finger über die Wange zu streichen.
Schnell trat er einen Schritt zurück. Die Anziehungskraft, die diese Frau auf ihn ausübte, machte die Dinge nur unnötig kompliziert. „Ich ruf mal an und frag nach, was los ist.“
Sie nickte und wich ebenfalls zurück, froh über die stabile Wand hinter sich. Es kam ihr plötzlich vor, als würde sie nicht genug Luft bekommen.
Sobald Alessandro den Notrufhörer aufgelegt hatte, berichtete er: „Es gibt anscheinend ein Problem mit der allgemeinen Stromversorgung. Hat wohl was mit der Hitzewelle zu tun. Das Notstromaggregat ist angesprungen, aber zwei Lifts stehen noch still. Sie arbeiten dran.“
Nat fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Gedanke, einige Zeit mit ihm in diesem engen Raum zu verbringen, machte sie nervös. Ob er dieses Knistern zwischen ihnen auch spürte, oder war es bloß einseitig? „Haben sie gesagt, wie lange das dauern könnte?“
„Nein.“
„Porca vacca“, murmelte sie.
Alessandro unterdrückte ein Lächeln. „Sie leiden hoffentlich nicht an Klaustrophobie?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, wenn Sie darauf warten, dass ich mich in ein hysterisches Weib verwandle.“
Camilla hätte inzwischen sicherlich ihren ersten Wutanfall bekommen und verlangt, mit einem der Verantwortlichen zu sprechen. Nats ruhige Art gefiel ihm da doch wesentlich besser. „Gut.“
Sie warf ihm einen Blick zu, schaute dann aber rasch wieder weg. „Na ja, es hat keinen Sinn, hier rumzustehen. Also kann man sich’s auch gemütlich machen.“
Im Schneidersitz ließ sie sich auf dem Boden nieder, den Rücken an die Liftwand gelehnt. Nat blickte zu Alessandro hoch und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihm, als sie so ungünstig im Sitzsack gesessen hatte. Jetzt lag wieder der gewohnt kühle Ausdruck in seinen dunklen Augen.
„Jetzt setzen Sie sich schon“, schimpfte sie.
Alessandro zog die Brauen zusammen. Nat Davies war ein ganz schön herrisches kleines Ding. Er rutschte an der Stahlwand hinunter und stellte die Beine vor sich auf. „Sind Sie immer so unfreundlich?“
Verblüfft sah sie ihn an und wollte protestieren. Nein, obwohl ihr Vater sie als Kind im Stich gelassen und sie gerade eine langjährige, katastrophale Beziehung hinter sich hatte, war sie eigentlich ein sehr umgänglicher und fröhlicher Mensch. Doch als sie an ihre beiden Begegnungen mit ihm dachte, musste sie zugeben, dass er mit seiner Bemerkung nicht ganz unrecht hatte.
„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen“, antwortete sie daher. „Wegen neulich, nach dem Tod von Ernie. Ich bin zu weit gegangen.“
Alessandro überraschte ihr Eingeständnis. Es war erfrischend, mal mit einer Frau zu reden, die sich auch entschuldigen konnte. „Nun ja, ein bisschen zu weit.“
Nat hätte sich gerne gerechtfertigt, dass ihre Reaktion nur in Julians Interesse gelegen hatte. Aber es war schon richtig. „Ich bin emotional immer zu sehr beteiligt. Die Oberschwester in meiner Ausbildung meinte, ich sei ein hoffnungsloser Fall.“
Er nahm das Stethoskop ab und lockerte seine Krawatte. Lächelnd sagte er: „Es gibt schlimmere Charakterfehler.“
Das wusste er allzu gut.
Nat war fasziniert davon, wie sehr sich sein Gesicht veränderte, sobald er auch nur leicht die Mundwinkel hob. Zusammen mit der schief sitzenden Krawatte und dem offenen obersten Hemdknopf bot er einen umwerfenden Anblick.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Der Meinung war sie nicht.“
Alessandro streckte ein Bein aus. Achselzuckend sah er sie an. „Wir hatten gerade den Kampf um ein Menschenleben verloren. Der Tod berührt jeden auf seine Weise.“
Nun wirkte er wieder ernst und düster. Nat zögerte kurz, ehe sie die Frage stellte, die ihr durch den Kopf ging. Aber über irgendetwas mussten sie ja schließlich reden, oder? „Wie lange ist es her, seit Ihre Frau gestorben ist?“
Sofort verspannten sich seine Nackenmuskeln, und er sah das Bild vor sich, als er zu Hause in England die Tür öffnete und zwei finster aussehende Polizeibeamte davorstanden. Unwillkürlich zog er das ausgestreckte Bein wieder an.
„Entschuldigung, jetzt mache ich es schon wieder“, sagte Nat. „Und es geht mich nichts an.“
„Neun Monate“, antwortete Alessandro gepresst.
„Es tut mir so leid“, meinte sie leise.
Er sah ihren mitfühlenden Blick, ihre blauen Augen in dem gedämpften Licht sanft und weich. Das konnte er nicht ertragen. Plötzliche heiße Wut durchfuhr ihn wie ein Blitz, der aus dem tiefen Abgrund des Selbsthasses in seinem Innern heraufzuckte. Er hatte ihre Anteilnahme nicht verdient. Er war es nicht wert. Eigentlich hatte er nichts weiter als Verachtung verdient.
Genau deshalb hatte er England verlassen. Um vor der Anteilnahme anderer Menschen zu flüchten. Den wohlmeinenden Worten und Grußkarten-Plattitüden. Im Bewusstsein dessen, dass er Camilla in den Tod getrieben hatte. Er allein war schuld daran. Jeden Tag in Julians Gesicht zu schauen, war kaum auszuhalten.
Alessandro senkte den Blick. Es kostete ihn seine gesamte Willenskraft, um den Gefühlsaufruhr zu unterdrücken, der in ihm tobte.
„Nat“, meinte er, ehe er sie wieder ansah. „Ist das irgendeine Abkürzung?“
Einen Moment lang, bevor er zu Boden schaute, hatte sie einen Ausdruck tiefster Verzweiflung in seinen Augen erkannt. Doch jetzt war seine Miene verschlossen wie eine Maske.
Offensichtlich liebte er seine Frau noch sehr, wollte aber nicht darüber sprechen.
„Nathalie“, antwortete sie. „Ich sollte eigentlich ein Junge werden.“
„Ah.“
„Nathaniel. Kurzform Nat.“ Sie achtete darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie unzulänglich sie sich immer gefühlt hatte, weil ihr Vater sich einen Sohn gewünscht hatte. „Meine Eltern hatten sich schon so daran gewöhnt, mich Nat zu nennen, dass sie sich für Nathalie entschieden.“
„Nathalie“, wiederholte Alessandro. „Ein hübscher Name. Viel schöner als Nat.“
Zumindest, wenn er ihn mit seinem exotischen Akzent aussprach. So klang es nach einer erwachsenen Frau. Von einer Sekunde zur anderen hatte er ihrem Namen eine weibliche Note verliehen. Und in diesem Augenblick begriff Nat, was Liebe auf den ersten Blick bedeutete. Nicht dass sie so dumm wäre. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Nach der Erfahrung mit Rob würde sie sich hüten, sich auf einen Mann einzulassen, der immer noch eine andere Frau liebte. Selbst wenn sie tot war.
„Mir ist Nat lieber“, gab sie leichthin zurück und streifte sich einen nicht vorhandenen Fussel vom Kittel.
Alessandro beobachtete ihre nervöse Geste. Er hatte eben eine ungewohnte Verletzlichkeit in ihrem Blick gesehen. „Ah ja. Nat. Nat, Nat, Nat, Nat. Ich höre diesen Namen zu Hause so oft, dass es mir scheint, als hätten Sie magische Kräfte. Vermutlich könnten Sie Harry Potter bald Konkurrenz machen.“
Nat musste lachen. Magische Kräfte, na klar. „Spricht Julian von mir?“
Gegen seinen Willen bemerkte Alessandro, wie die Uniform sich über ihrer Brust spannte. Wie der Reißverschluss in ihrem Ausschnitt lag. Es war schon so lange her, dass ihm überhaupt irgendetwas an einer Frau aufgefallen war. Aber bei dieser gesprächigen australischen Krankenschwester wurde das allmählich zur Gewohnheit.
Er lächelte etwas gezwungen. „Pausenlos.“
Sie lachte. „Sorry.“ Aber es machte sie froh, dass sie bei dem kleinen, ernsten Jungen aus dem Hort etwas bewirken konnte. An ihren Tagen dort hielt sie nach ihm Ausschau. Und wenn sein trauriges kleines Gesicht sich aufhellte, sobald er sie sah, schmolz ihr das Herz.
Alessandro hob die Schultern. „Ich freue mich, dass er jemanden hat.“
Auch wenn das bedeutete, dass sie oft in seinen Gedanken auftauchte und in seinen nächtlichen Träumen. Die wenigen Stunden, in denen es ihm gelang, etwas Schlaf zu bekommen, waren voll von ihr. Erotische Bilder, die er seit der Pubertät nicht mehr erlebt hatte.
Noch ein Grund, sich zu verabscheuen. Camilla war noch kein ganzes Jahr tot, und er hatte schon Fantasien von einer kleinen australischen Doppelgängerin wie ein hormongesteuerter Teenager.
„Er ist ein toller Junge, Alessandro.“ Nats Stimme war sanft geworden, und man hörte ihr an, dass sie echte Zuneigung für Julian empfand.
Alessandro wünschte, seine eigene Beziehung zu seinem Sohn wäre auch so unkompliziert. Doch in Julian sah er jedes Mal Camilla, und seine Schuldgefühle wurden noch größer. „Ich weiß.“
Das stimmte. Aber er wusste nicht, wie er mit einem Kind umgehen sollte, das ihm völlig fremd war. Er wusste nicht, wie er seinen Sohn ansehen, wie er ihn lieben und gleichzeitig so tun sollte, als wäre nicht er der Grund dafür, dass Julians Welt zerbrochen war.
Einen langen Moment sahen Nat und er sich an, dann klingelte auf einmal ein Telefon. Es dauerte einen Augenblick, ehe ihr klar wurde, dass es nicht das Notruftelefon im Lift war, sondern ihr Handy.
Sie zog es aus der Kitteltasche. „Na, so was“, meinte sie erstaunt. „Guter Empfang. Hätte ich nicht gedacht.“ Sie schaute auf die Nummer auf dem Display und stöhnte innerlich. Super Timing.
Alessandro blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören. Um nicht allzu offensichtlich zu lauschen, holte er seinen Pager hervor und löschte erst einmal alle darauf gespeicherten Nachrichten. Allerdings bekam er natürlich trotzdem mit, dass sie anscheinend Probleme mit ihrer Wohnung hatte.
Als Nat das Gespräch mit einem genervten Gesichtsausdruck beendet hatte, fragte er: „Problema?“
Seufzend steckte sie das Handy zurück in die Tasche. „Kann man so sagen.“
„Hört sich an, als hätten Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Vermieter.“
Sie schnaubte ironisch. „Das ist noch stark untertrieben. Ich habe zwei Wochen, um auszuziehen.“
Alessandro streckte beide Beine vor sich aus und verschränkte die Arme. „Lassen Sie mich raten: Sie feiern jede Menge laute Partys und sind mit Ihrer Miete im Rückstand?“
Nat warf ihm einen „Haha, sehr witzig“-Blick zu. „Die Eigentümer wollen selbst wieder einziehen.“
„Geht das denn einfach so?“
Sie zuckte die Achseln. „Mein Mietvertrag läuft aus.“
„Ach so.“
„Ja, genau.“ Sie seufzte.
„Haben Sie schon mal dran gedacht, etwas zu kaufen? Bei der jetzigen wirtschaftlichen Lage ist es ein guter Markt für Käufer, und das Zinsniveau ist extrem niedrig. Ich habe mein Haus in Paddington zu einem ausgezeichneten Preis bekommen.“
„Ich habe was gekauft. Eine Wohnung in der Nähe des St. Auburn. Ich hab sie direkt vom Bauplan gekauft. Sie sollte schon vor zwei Monaten fertig sein, aber durch den vielen Winterregen hat sich alles verzögert.“
„Verstehe.“
Vom Schneidersitz verkrampften sich allmählich ihre Muskeln, und Nat streckte ebenfalls die Beine aus. Dabei rutschte ihr die Uniform bis zum Oberschenkel hoch. „Ich habe nur einen Mietvertrag über ein halbes Jahr abgeschlossen, weil der Bauleiter mir versichert hat, dass die Wohnung rechtzeitig fertig wird. Der verdammte Kerl ist aalglatt.“
Alessandros Blick blieb an dem schmalen Streifen ihres Oberschenkels hängen, der zwischen ihren Knien und dem Rocksaum zu sehen war. Schnell schaute er wieder auf. „Haben Sie keinen Ehemann oder Freund, der sich um solche Dinge kümmern kann?“
Wäre sie nicht schon sowieso sauer auf die ganze Welt gewesen, die Hitzewelle, den kaputten Lift, den schwierigen Vermieter, dann hätte Nat sich vielleicht über Alessandros typisch italienische Macho-Denkweise amüsiert.
„Ich brauche keinen Mann für solche Sachen“, gab sie scharf zurück.
Tatsächlich hatte sie Männer einfach satt.
Abwehrend hob Alessandro die Hände. Er wollte sich mit ihr nicht auf eine Diskussion über Geschlechterrollen einlassen. Heutzutage veränderten sich diese Dinge, und das war gut so.
„Haben Sie keine Verwandten, wo Sie eine Zeit lang unterkommen könnten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Meine ganze Familie lebt in Perth, in Westaustralien. Ich bin erst seit sechs Monaten hier.“
„Dann sind Sie aber weit weg von zu Hause, Nathalie.“
Spöttisch zog sie die Augenbrauen hoch. „Ich bin weit weg von zu Hause?“
Er lachte. „Gut gekontert.“
Alessandro blickte auf die Uhr. Zehn Minuten. Wie lange noch? „Warum sind Sie dann aus Perth weggegangen? Gab es einen Grund dafür, oder verspürten Sie einfach den unwiderstehlichen Drang, Queensland kennenzulernen?“
„Ich wollte mal die Sonne über dem Meer aufgehen sehen“, erwiderte sie schlagfertig.
Er lächelte. „Ich habe das Gefühl, dass vielleicht ein Mann dabei eine Rolle spielte.“
Nat überlegte, ob sie wieder eine flapsige Antwort geben sollte, aber eigentlich lag ihr das nicht. „Ja, stimmt.“
„Was ist passiert?“
Erneut hob sie die Brauen. „Ich glaube, das ist die Stelle, wo ich Ihnen sage, dass Sie das nichts angeht, richtig?“
Alessandro nickte belustigt. „Ja, wahrscheinlich.“ Achselzuckend setzte er hinzu: „Ich versuche nur, uns ein bisschen die Zeit zu vertreiben.“
Nat sah ihn an und erwiderte zögernd: „Es wurde unerträglich.“ Sie rechnete damit, dass es ihr wieder einen Stich ins Herz versetzte. Wie immer, wenn sie an Rob und ihre Beziehung dachte, in der es zu viele Personen gegeben hatte: sie, ihn und seine Exfrau.
Komischerweise tat es diesmal nicht weh.
Er nickte verständnisvoll. Sie liefen offenbar beide vor etwas weg.
„Also bin ich gegangen“, fuhr Nat fort. „Eigentlich hatte ich nicht vor, Perth zu verlassen. Aber mir war nicht klar, wie schwer es sein würde, weiterhin im selben Freundeskreis zu verkehren.“
Sie blickte zu ihm auf. Ob er auch deshalb auf die andere Seite der Erde gezogen war, um den Erinnerungen zu entkommen, die an jeder Ecke lauerten? „Nach dem Verkauf des Hauses habe ich meine Hälfte genommen und bin einfach gegangen.“
„Das erfordert Mut.“ Alessandro wusste, wie schwer es war, alle Zelte abzubrechen.
„Na ja, im Moment scheint es eher keine besonders gute Idee gewesen zu sein, oder?“
Er kreuzte die Beine. „Haben Sie noch einen Plan B?“
„Der Wohnungsmarkt in Brisbane ist ziemlich angespannt. Ich bräuchte nur eine Unterkunft für ein paar Monate. Aber niemand wird scharf darauf sein, für eine so kurze Zeit etwas zu vermieten.“
Wieder nickte Alessandro. Er hatte auch vergeblich versucht, einen Kurzzeit-Mietvertrag zu bekommen, um nichts zu überstürzen. Also hatte er doch ein Haus gekauft.
„Ich kenne hier niemanden gut genug, um mich für länger dort einzuquartieren. Abgesehen von Paige, mit der ich in Perth die Ausbildung zusammen gemacht habe. Sie arbeitet in der Audiologie-Abteilung und zum Teil auch als OP-Schwester in St. Auburn. Als ich hierherkam, habe ich zwei Wochen bei ihr gewohnt. Aber sie ist alleinerziehend und hat ein behindertes dreijähriges Kind. Ich kann mich ihnen nicht noch mal aufdrängen.“ Resigniert zuckte Nat die Schultern. „Kurz gesagt, ich weiß es nicht. Aber irgendwas wird sich schon ergeben. Das ist immer so.“
Kaum hatte sie es gesagt, gingen alle Lichter in dem Lift an, und auch die Klimaanlage fing wieder an zu summen. Nat lachte. „Sehen Sie?“
Lächelnd hob Alessandro sein Stethoskop und den Pager vom Boden auf, während der Lift ruckelte und dann seine Fahrt nach unten fortsetzte. Alessandro sprang leichtfüßig auf und streckte ihr eine Hand entgegen. Nach einem kaum merklichen Zögern nahm sie diese, und er zog sie hoch. Der Lift hielt genau in dem Augenblick im Erdgeschoss an, als sie aufstand, sodass sie ein wenig schwankte.
Um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren, legte sie Alessandro die Hand auf die Brust, und er hielt sie mit einem Arm fest. Sie atmete einen würzigen Duft ein. Seine Lippen waren so nahe, sein Blick schien an ihrem Mund zu hängen, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, ihn zu küssen.
Genau unter ihrer Handfläche spürte sie seinen Herzschlag, und sie hatte das Gefühl, dass das Vibrieren jede ihrer Zellen belebte.
Da ertönte der Liftton, was Nat davor bewahrte, vollkommen den Verstand zu verlieren.
„Ups, sorry“, sagte sie und wich zurück. Dabei wurde sie unwillkürlich rot.
Die Tür glitt auf, und eine kleine Gruppe von Technikern und Kollegen nahm sie Beifall klatschend in Empfang.
Nat riskierte einen schnellen Seitenblick auf Alessandro, verwirrt über die Glut, die sie erneut in seinen Augen wahrnahm. Die Röte in ihren Wangen vertiefte sich, und ohne noch einmal zurückzuschauen, eilte sie davon.
Alessandro war an diesem Abend erst kurz mit Julian zu Hause, als es an der Tür läutete. Er öffnete und ließ eine ältere Frau herein. Debbie Woodruff war die zehnte Bewerberin als Kindermädchen, die sich bei ihm vorstellte.
Der Hort sollte keine langfristige Lösung für Julian sein. Gut, er war rund um die Uhr geöffnet, und es schien dem Kleinen dort zu gefallen. Auf jeden Fall, wenn Nat Dienst hatte. Aber Alessandro fand, dass er seinem Sohn mehr Stabilität geben sollte.
Debbie war nett und sehr qualifiziert. Julian verhielt sich höflich, sagte Bitte und Danke, war aber offensichtlich nicht begeistert. Genauso wenig wie Alessandro, wenn er ehrlich war. Er wusste nicht recht, was er suchte. Jemanden, der Julian liebte. Für den der Kleine nicht nur ein Job war. Sein Sohn brauchte eine Mutter.
Seine Mutter.
Wieder wurde Alessandro von Schuldgefühlen überwältigt, als er Debbie an die Tür brachte.
Danach kam er ins Wohnzimmer zurück, wo Julian ihn kurz ansah, ohne jedoch zu lächeln. Alessandro setzte sich neben ihn und wünschte, er könnte irgendwie die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Er schaute zu Julian herunter, der vorm Fernseher saß.
„Mochtest du sie?“, fragte er.
Julian drehte sich zu ihm um. „Sie war ganz okay.“
„Mochtest du überhaupt irgendeine von ihnen?“
Julian zuckte die Achseln und blickte ihn mit großen, ernsten Augen an.
„Wen magst du denn?“, fragte Alessandro frustriert.
„Nat“, erklärte Julian und wandte sich wieder dem Fernseher zu.
Natürlich. Toll. Nat, die sich ständig in Dinge einmischte, die sie nichts angingen. Die sagte, was sie dachte. Nat, von der er inzwischen jede Nacht träumte.
Bloß das nicht.
Seufzend betrachtete Alessandro seinen Sohn. Aber Julian wollte Nat. Nur das zählte.
Also Nat. Wenigstens das konnte er für ihn tun.