Zwei

Es war der Tag der Gerichtsverhandlung.

Antoinette saß auf einer harten, unbequemen Bank vor dem Gerichtssaal und wartete darauf, als Zeugin aufgerufen zu werden. Eingerahmt von den einzigen beiden Menschen, die ihr beistanden, einem Polizeibeamten und dessen Frau.

Mit Grauen hatte sie diesem Tag entgegengesehen. Dem Tag, an dem ihr Vater für sein Verbrechen zu einer Haftstrafe verurteilt werden sollte. Der Polizeibeamte hatte ihr das klargemacht, als er ihr erzählte, ihr Vater habe sich schuldig bekannt. Deswegen würde ihr ein Kreuzverhör erspart bleiben, doch das Gericht würde wissen wollen, ob sie sich als »willige Partnerin« gezeigt hatte oder aber ein Opfer wiederholter Vergewaltigung gewesen war. Die Sozialarbeiter hatten ihr die Situation erklärt. Mit ihren vierzehn Jahren war sie alt genug, um zu verstehen, was man ihr erzählte.

Äußerlich ruhig saß sie da und versuchte, ihren Gedanken zu entfliehen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die glücklichste Phase ihrer Kindheit. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren hatte ihre Mutter ihr einen Welsh-Terrier-Welpen geschenkt, den sie Judy nannte. Von der ersten Sekunde an hatte sie Judy geliebt, und der kleine Hund hatte ihre Zuneigung erwidert.

Jetzt, in diesem Moment, wartete Judy zu Hause auf sie. Antoinette versuchte, das Gesicht ihres Hundes heraufzubeschwören. Das Bild von dem Tier, dem einzigen Lebewesen, das sie immer, ohne Unterlass und bedingungslos geliebt hatte, wäre ein Trost gewesen. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, die Züge des kleinen Hundes verblassten und wurden verdrängt von der Erinnerung an ihren sechsten Geburtstag, an dem sie zum ersten Mal von ihrem Vater missbraucht worden war.

Bald missbrauchte er sie dreimal in der Woche. Solange sie noch ein kleines Mädchen war, legte er eine gewisse Vorsicht an den Tag, doch dann nahm er sie immer gewaltsamer, wobei er sie mit Whiskey betäubte. So ging es über Jahre, während sie schwieg, eingeschüchtert durch seine Brutalität und Drohungen, die Familie würde sie verstoßen, mit Schimpf und Schande davonjagen, und man würde ihr die Schuld geben.

Kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag war sie dann schwanger geworden. Nie würde sie die Atmosphäre der Angst vergessen, die über dem Haus lag, als sie sich jeden Morgen übergab und ihr Bauch zusehends anschwoll. Bis ihre Mutter ihr schließlich kalt und gefühllos mitteilte, sie würde mit ihr zum Arzt gehen. Und der eröffnete ihr, sie erwarte ein Kind. Als er zu ihr sagte: »Du musst mit jemandem Sex gehabt haben«, erwiderte sie: »Nur mit meinem Vater.«

Einen Moment lang herrschte ein unheilvolles Schweigen, ehe er fragte: »Wurdest du vergewaltigt?«

Sie wusste nicht einmal, was eine Vergewaltigung ist. Der Arzt suchte ihre Mutter zu Hause auf, um mit ihr das weitere Vorgehen zu bereden, und sie einigten sich auf eine heimliche Abtreibung. Zum Wohle der Familie sollte der Eingriff in aller Stille stattfinden, doch Antoinette machte ihnen einen Strich durch die Rechnung, indem sie jemanden in ihr Geheimnis einweihte. In ihrer Verzweiflung vertraute sie sich einer Lehrerin an und erzählte ihr alles. Die wiederum wandte sich ans Jugendamt. Daraufhin wurden Antoinette und ihr Vater verhaftet.

Sie erzählte der Polizei alles haarklein, angefangen von ihrem sechsten Geburtstag, als das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte. Dabei versäumte sie nicht, zu sagen, dass ihre Mutter nichts gewusst habe. Antoinette hatte sich selbst glauben gemacht, dass dies der Fall war, und klammerte sich an diese Illusion wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring.

Äußerlich wirkte das Mädchen ruhig und gefasst, während es darauf wartete, in den Zeugenstand gerufen zu werden. Flankiert von dem Polizisten und dessen Frau, saß sie reglos da. Ihre Mutter war nicht im Gerichtssaal erschienen. Antoinette trug einen grauen Rock und den Blazer ihrer alten Schuluniform, der lose an ihrer schmalen Gestalt hing. Ihr braunes, zu einem Pagenkopf frisiertes Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Sie war ein hübscher Teenager mit bereits weiblichem Körper und dem verletzlichen Gesicht eines Kindes. Ihre Leichenblässe und die tiefen Ringe unter ihren Augen zeugten von schlaflosen Nächten. Das nervöse Zucken ihres rechten Augenlids war die Folge der heftigen psychischen Anspannung, unter der sie stand. Doch abgesehen davon war ihr Gesicht ausdruckslos.

Die noch nicht lange zurückliegende Abtreibung und ihre darauf folgende Erkrankung hatten sie ausgezehrt und geschwächt. Der Schock und die Depression verliehen ihr eine künstliche Ruhe, die Außenstehende mit der Gefasstheit eines Kindes verwechselten, das ungewöhnlich reif für sein Alter ist.

Infolge ihres Martyriums waren ihre Emotionen abgestumpft, und während sie darauf wartete, aufgerufen zu werden, fühlte sie kaum etwas. Sie wusste, dass sie nach der Gerichtsverhandlung nach Hause gehen würde, zu einer Mutter, die sie nicht mehr liebte, und in eine Kleinstadt, die ihr die Schuld für das gab, was sie durchgemacht hatte. Doch sie hielt sich eisern an die Strategie, die sie sich über Jahre antrainiert hatte, und unterdrückte alle ihre Emotionen so gut es nur ging.

Als die Tür des Gerichtssaals aufschwang und der Gerichtsdiener raschen Schritts heraustrat, hatte das Warten ein Ende. Sie wusste, dass sie nun an der Reihe war.

»Antoinette Maguire, der Richter will dir ein paar Fragen stellen.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, dann machte er kehrt und steuerte wieder auf die Tür des Saals zu.

Der Polizeibeamte und dessen Frau lächelten ihr aufmunternd zu, doch Antoinette bemerkte es nicht. Sie heftete den Blick auf den Rücken des schwarz uniformierten Gerichtsdieners, der vor ihr her in den Saal ging. Kaum war sie eingetreten, ließ die beklemmende Stille sie innehalten, und ohne zur Anklagebank zu sehen, spürte sie die Augen ihres Vaters, die sie anstarrten. Alles um sie herum war streng und abweisend: die dunklen Amtstrachten der Anwälte, das lebhafte Scharlachrot der Richterroben, deren Perücken und gewichtigen Mienen.

So stand sie, eine kleine Gestalt, von der Umgebung überwältigt, im Gerichtssaal und wusste nicht, was man von ihr erwartete. Die formelle Atmosphäre des ehrwürdigen Saals verwirrte und verunsicherte sie zugleich, während sie auf Anweisungen wartete. Dann spürte sie, wie jemand sie am Arm fasste und ihr bedeutete, wo sie sich hinstellen sollte. Wie in Trance trat sie in den Zeugenstand, aus dem nur ihr Kopf herausragte. Der Richter ergriff das Wort, sagte, wie bereits vom Gerichtsdiener angekündigt, er habe nur ein paar Fragen an sie. Der Gerichtsdiener reichte ihr die Bibel, und sie sprach mit zitternder Stimme den Eid nach, den er ihr vorsagte.

»Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.«

»Antoinette«, sagte der Richter, »ich möchte nur, dass du mir ein paar Fragen beantwortest, dann kannst du gleich wieder gehen. Beantworte sie, so gut es dir möglich ist. Und denk daran, dass du nicht angeklagt bist. Glaubst du, du schaffst das?«

Schließlich gelang es ihr, die Augen zu heben und den Richter anzusehen, denn der Ton seiner Stimme gab ihr das Gefühl, dass er auf ihrer Seite stand. Sie hielt ihren Blick auf sein Gesicht geheftet. Auf diese Weise konnte sie ihren Vater nicht sehen. »Ja.«

Der Richter beugte sich vor, legte die Hände auf die Bankkante und sah sie freundlich an. »Hast du deiner Mutter irgendwann davon erzählt, was dir angetan wurde?«

»Nein.« Beinahe glaubte sie, was sie gesagt hatte, denn noch immer blendete sie die Erinnerung an den Moment aus, als sie sich ihr anvertraut hatte. Sie ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich ihre Nägel in ihre Handballen gruben. Sie hatte gedacht, dass ihre Tränen von dem vielen Weinen versiegt wären, doch nun drohten sie erneut zu fließen. Ihre Augen kribbelten und brannten, doch sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Um nichts in der Welt wollte sie in aller Öffentlichkeit weinen und diesen Fremden ihre Scham zeigen.

»Bist du aufgeklärt? Weißt du, wie Frauen schwanger werden?«

Während der ganze Saal gebannt auf ihre Antwort wartete, war die Spannung mit Händen zu greifen. Sie hielt den Blick weiter auf den Richter geheftet und versuchte, den Rest ihrer Umgebung auszublenden, ehe sie im Flüsterton sagte: »Ja.«

Sie spürte, wie ihr Vater sie fixierte und wie sich die Spannung noch verstärkte, als der Richter die letzte Frage stellte. Der ganze Saal hielt den Atem an, als seine Worte erklangen: »Dann hattest du doch bestimmt Angst davor, schwanger zu werden?«

Diese Frage war ihr so viele Male gestellt worden, von Sozialarbeitern und der Polizei, und dieselbe Antwort, die sie ihnen gegeben hatte, gab sie nun auch dem Richter. Vorsichtig wiederholte sie: »Er hat etwas benutzt, was wie ein Ballon aussah, und er sagte, dass das verhindern würde, dass ich ein Kind bekomme.«

Ein kollektives Seufzen war zu vernehmen, als würden alle gleichzeitig ausatmen. Damit hatte sie bestätigt, was jeder vermutet hatte: dass Joe Maguire seine Tochter systematisch und berechnend missbraucht hatte. Seit ihrem sechsten Lebensjahr. Und nachdem sie ihre erste Periode bekommen hatte, hatte er Kondome benutzt.

Mit Antoinettes Antwort wurde die Verteidigungsstrategie ihres Vaters hinfällig. Er hatte sich bemüht, seine Verfehlungen als die Handlungen eines kranken Mannes darzustellen, der Opfer seiner triebhaften Veranlagung geworden war. Doch die unschuldige Beschreibung eines Kondoms durch seine Tochter, die nicht einmal den Namen des Verhütungsmittels kannte, entlarvte ihn als Lügner. Er hatte keineswegs aus dem Affekt heraus gehandelt, sondern vorsätzlich. Joe Maguire war ganz und gar verantwortlich für sein Verbrechen.

Der Richter dankte ihr für ihre Antworten und sagte, sie könne den Gerichtssaal wieder verlassen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht dem ihres Vaters zu begegnen, ging sie auf die Doppeltür zu und wieder hinaus in den Wartebereich.

Sie war nicht mehr anwesend, als der Richter das Urteil verkündete. Der Anwalt ihres Vaters, dessen Honorar ihre Mutter bezahlte, erläuterte ihr eine halbe Stunde später die Details.

Joe Maguire bekam eine vierjährige Haftstrafe für ein Verbrechen, das er über einen Zeitraum von sieben Jahren verübt hatte. In Wirklichkeit sollte er bereits nach dreißig Monaten wieder frei herumspazieren: innerhalb eines Drittels der Zeit, die Antoinettes Leid gedauert hatte.

»Dein Vater will dich sehen«, erklärte der Anwalt ihres Vaters. »Er ist in einer der Haftzellen.«

Noch immer auf Gehorsam getrimmt, ging sie zu ihm. Es war eine kurze Unterredung. Er sah sie von oben herab an, nach wie vor überzeugt, sie kontrollieren zu können. Sie solle sich um ihre Mutter kümmern, sagte er. Unfähig, sich aus ihrer Rolle der gehorsamen Tochter zu befreien, versprach sie es. Wer sich um seine Tochter kümmern würde, schien nicht seine Sorge zu sein.

Als sie die Zelle verließ, erfuhr sie, der Richter wünsche sie in seinem Büro zu sehen. Ohne Perücke und die scharlachrote Richterrobe erschien er ihr nicht ganz so einschüchternd, sondern freundlicher. Während sie ihm in dem kleinen Raum gegenübersaß, hörte sie sich an, was er ihr zu sagen hatte, und empfand seine Worte als tröstlich.

»Antoinette, du wirst feststellen, nein, du hast bereits feststellen müssen, dass das Leben nicht gerecht ist. Die Menschen werden dir die Schuld geben, ja, das haben sie schon getan. Aber ich will, dass du mir jetzt gut zuhörst. Ich habe die Polizeiberichte gelesen. Ebenso wie die ärztlichen. Ich weiß genau, was dir angetan wurde, und versichere dir, dass du rein gar nichts dafür kannst. Du hast nichts getan, dessen du dich schämen müsstest.« Er lächelte ihr aufmunternd zu und begleitete sie dann zur Tür.

Indem sie sich seine Worte tief in ihr Bewusstsein einprägte, verließ sie das Gerichtsgebäude; Worte, die sie sich über die Jahre hinweg immer wieder in Erinnerung rief. Worte, die ihr helfen sollten, einer Familie und einer Kleinstadt gegenüberzutreten, die die Meinung des Richters nicht teilten.