Drei

Es war 1961, und ein Jahr war vergangen, seit ihr Vater verurteilt worden war, für eine Tat, die die Zeitungen als »ein schlimmes Vergehen gegenüber einer Minderjährigen« bezeichnet hatten. Die Verhandlung hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden, um ihre Identität zu schützen, doch genützt hatte es nichts. Die Details waren hinlänglich bekannt, und jeder in Coleraine wusste, was passiert war. Die Leute wussten es – und gaben Antoinette die Schuld. Sie hatte bereitwillig mitgemacht, flüsterten die Leute hinter vorgehaltener Hand, warum sonst hatte sie so lange geschwiegen? Erst als sie schwanger wurde, rief sie laut, sie sei vergewaltigt worden, und brachte damit diese furchtbare Schande über die Familie ihres Vaters.

Antoinette wurde der Schule verwiesen. Die Familie ihres Vaters wollte sie nie wiedersehen. Die Kleinstadt schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Wohin sie auch ging, schnitt man sie.

Ruth, Antoinettes Mutter, wollte nur eines: der Stadt so schnell wie möglich den Rücken kehren, um der Schande zu entfliehen, die das Verbrechen ihres Mannes über sie gebracht hatte, und nicht länger dem Gerede der Leute ausgesetzt zu sein. Nichts hätte sie zum Bleiben bewegen können. Hastig verkaufte sie das Haus, ebenso wie Joes schwarzen Jaguar, doch auch nachdem beides veräußert worden war, war das Geld knapp.

Unbeirrt zog sie mit Antoinette aus Coleraine weg nach Belfast, wo sie in der Shankhill Road, einem armen Viertel, ein Haus mietete. Antoinette war einerseits erleichtert, dass sie Coleraine verlassen hatten, andererseits aber waren ihre Träume von einer guten Schulbildung fürs Erste geplatzt. Um das karge Einkommen aufzubessern, das Ruth als Leiterin eines Coffeeshops in der Innenstadt erzielte, verdingte sich Antoinette als Haushaltshilfe.

Doch die Angst war ihr ständiger Begleiter. Ebenso wie das Gefühl der Zurückweisung durch jeden, der ihr nahegestanden hatte. Sie fühlte sich einsam, ungeliebt und wertlos. Sie sah nur noch einen Ausweg: diese Welt zu verlassen, in der man sie nicht mehr wollte. Eines Tages schluckte Antoinette eine Überdosis Tabletten, spülte sie mit Whiskey hinunter und schnitt sich fünfzehn Mal die Pulsadern auf. In allerletzter Sekunde wurde sie gefunden, überlebte ums Haar und verbrachte drei Monate in einer Nervenklinik in einem Vorort von Belfast. Ihrem zarten Alter hatte sie es zu verdanken, dass sie von Elektroschocks und Beruhigungsmitteln verschont blieb. Stattdessen kam sie in den Genuss einer intensiven Therapie, die ihr half, ihre Depressionen in den Griff zu bekommen. Schließlich war sie wieder so weit hergestellt, dass sie die Klinik verlassen und ihr Leben außerhalb deren Mauern wieder aufnehmen konnte.

Während Antoinettes Erkrankung hatte Ruth ein Haus gekauft. Als Antoinette in ihr neues Heim zog, wagte sie zum ersten Mal zu hoffen, dass ihr Leben vielleicht eine Wendung zum Besseren nehmen würde.

Das hübsche viktorianische Pförtnerhäuschen stand in einem Vorort von Belfast. Die kleinen Zimmer waren vollgestopft mit billigen, schäbigen Möbeln. Der Putz an den Wänden war alt und rissig, ebenso wie die Fensterrahmen und die Fußbodenleisten. Vorhänge mit Blumenmustern, ehemals für größere Fenster gedacht, waren notdürftig gekürzt worden und hingen plump herab. Die in beißenden Farben und schreienden Mustern gehaltenen Teppiche waren ausgeblichen und fadenscheinig.

»Das ist es, Antoinette«, sagte Ruth, als sie das Haus zum ersten Mal betrat. »Dies ist unser neues Heim. Jede von uns hat ein Zimmer. Na, was sagst du?«

Vom ersten Augenblick an fühlte sich Antoinette in dem Haus geborgen. Sie wusste nicht, warum sie ausgerechnet hier beginnen sollte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber sie hatte das Gefühl, dass es möglich war. Tatsächlich sollte in diesem Haus allmählich die Angst nachlassen, mit der sie acht Jahre lang hatte leben müssen, die sie jede wache Minute verfolgt und sie in ihren Albträumen heimgesucht hatte. Das Häuschen, Antoinette spürte das ganz fest, war für sie ein Ort der Zuflucht, wo sie sicher und beschützt vor der Welt war.

Ihre Mutter und sie verwandelten es nach und nach in ein wohnliches Heim. In dem gemeinsamen Wunsch, es behaglich und einladend zu haben, verpassten sie dem hässlichen alten Verputz einen neuen Anstrich, wobei sie mit laienhaftem Enthusiasmus zu Werke gingen. Dem abgewohnten Wohnzimmer verliehen sie eine eigene Atomsphäre, indem sie es mit Büchern füllten und liebevoll dekorierten.

Ruths Sammlung von Staffordshire-Porzellanhunden stellten sie in einer Ecke auf, während die mit Trauerweiden bemalten Wandteller auf einer alten, zerschrammten Eichenanrichte Platz fanden, zusammen mit dem Nippes und dem Krimskrams, den Mutter und Tochter auf dem Smithfield-Flohmarkt in der Innenstadt von Belfast aufstöberten. Dort an den Ständen mit Plunder und gebrauchten Möbeln machten sie ihre besten Funde.

Auf einem ihrer unzähligen Streifzüge über den Markt entdeckte Antoinette einen grünen Armsessel. Aufgeregt winkte sie ihre Mutter herbei, um ihn ihr zu zeigen, und gemeinsam beschlossen sie, das Möbel zu erstehen. Dieses Fundstück, für das sie lächerliche zwei Pfund bezahlt hatten, wurde zu Antoinettes Lieblingssessel. Sie mochte den weichen Samt, mit dem er überzogen war, ebenso wie die Flügel, die rechts und links am oberen Ende der Rückenlehne hervorragten und ihren Nacken vor unangenehmem Luftzug schützten.

Im Laufe der Wochen, als sie sich in ihrem neuen Heim einrichteten, stellte sich endlich die Nähe zu ihrer Mutter ein, nach der sich Antoinette jahrelang so gesehnt hatte, und das Vertrauen, das sie einst zu ihr gehabt hatte, begann sich wieder zu regen. Antoinette war so glücklich darüber, dass sie nie mehr wissen wollte, warum es zuvor anders gewesen war und wie es so weit hatte kommen können. Sie verschloss ihre Erinnerungen an die schrecklichen Jahre zwischen sechs und fünfzehn und die Rolle ihrer Mutter dabei in den Tiefen ihres Bewusstseins und weigerte sich, erneut die Fragen zu stellen, die sie so lange gequält hatten. Stattdessen blickte sie in die Zukunft. Wenigstens war sie jetzt an einem Ort, an dem sie sich sicher fühlte, und die Beziehung zu ihrer Mutter wurde enger. Sie entdeckte, dass es ihr weit mehr Zufriedenheit verschaffte, zu lieben, als selbst geliebt zu werden. Und wie eine Blume in der Sonne begann sie zu erblühen.

Bald besorgte Ruth Antoinette eine Stelle als Kellnerin in dem Coffeeshop, wo sie als Geschäftsführerin tätig war. Die Arbeit war nicht schwer, und Antoinette genoss es. Kaum kamen sie abends nach Hause, schlugen Mutter und Tochter die Zeitung auf, um ein Programm auf einem der beiden damals verfügbaren Fernsehsender auszuwählen. Jede mit einem Tablett mit dem Abendessen auf den Knien, saßen sie vor dem Fernseher und schauten sich gebannt einen der Schwarzweißfilme oder eine Quizshow an, ein behaglich knisterndes Kaminfeuer im Rücken. Der Fernseher war Antoinettes Stolz und ihre Freude, der einzige Einrichtungsgegenstand, den sie neu gekauft hatte – sie hatte eigens dafür gespart.

Vor dem Schlafengehen füllte Antoinette zwei Wärmflaschen mit heißem Wasser und trug sie die enge Treppe hinauf, die vom Wohnzimmer auf den kleinen quadratischen Treppenabsatz unter dem Dach führte. Einander gegenüber lagen die beiden unbeheizten Schlafzimmer mit ihren Dachschrägen und schiefen Fenstern. Sie wickelte jede der rosa Wärmflaschen in einen Pyjama und legte sie in die kalten Betten, damit sie später wenigstens von einem warmen Fleck empfangen wurden.

Wieder unten, tranken sie eine Tasse heiße Schokolade, dann ging Ruth nach oben und überließ ihrer Tochter den Abwasch. Als Letztes gab Antoinette erst Holzkohlestückchen und dann feuchte Teeblätter auf die Glut im Kamin, um das Feuer für die Nacht zu dämmen und doch am nächsten Morgen unter den Blättern eine schöne Glut zu finden, in der sie dann nur mit dem Feuerhaken ihres Kaminbesteckgestells herumstochern musste, um das Feuer neu zu entfachen.

Antoinette stand als Erste auf. In der Küche wusch sie sich eilig mit einem Schwamm an der Spüle. Der Dampf aus dem Teekessel vermischte sich mit ihrem Atem, während sie Wasser für den Tee erhitzte. Einmal in der Woche wurde ein Paraffinofen angeheizt. Neben einer schwachen Wärme sonderte er auch widerliche Dämpfe ab. Während er aufheizte, zog Antoinette eine alte Zinkbadewanne hervor und füllte sie kochtopfweise mit kochendem Wasser. Wenn es in der Küche allmählich warm wurde, nahm sie ein schnelles Bad und wusch sich die Haare. In einen Flanellbademantel gehüllt, säuberte sie anschließend die Wanne und bereitete für ihre Mutter ein heißes Bad vor. Ihre Kleidung wusch sie ebenfalls – wie damals üblich – von Hand; anschließend hängte sie sie im kleinen Hintergarten auf, wo zwischen zwei Metallstangen eine Wäscheleine gespannt war. Die noch feuchten Wäschestücke bügelte sie vor dem Kaminfeuer, sodass das Wohnzimmer von Dampf und dem Geruch frisch gewaschener Wäsche erfüllt wurde.

An Sonntagen, wenn der Coffeeshop geschlossen war, bereitete Antoinette das Frühstück vor. Während sie und ihre Mutter am Tisch saßen, hockte Judy, nunmehr ein alter, von Rheuma geplagter Hund, neben Antoinette. Aufmerksam beäugte die Hündin jede ihrer Bewegungen, hoffte sie doch, dass ihre Frauchen zu Hause bleiben und sie nicht allein lassen würden. An den Werktagen, wenn Ruth und Antoinette zur Arbeit gingen, folgte sie ihnen bis zur Tür, einen erbarmungswürdigen Ausdruck im Gesicht, den sie über die Jahre perfektioniert hatte.

Es war ein ruhiges Leben, das zugleich tröstend und heilend war, während sich der große Riss zwischen Antoinette und ihrer Mutter allmählich schloss. Nie sprachen sie darüber, was an jenem noch weit entfernten Tag passieren würde, da ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen würde. Überhaupt sprach Ruth nie über ihren Mann, und nie bekam Antoinette einen Brief von ihm zu Gesicht – Ruth hätte niemals einen Umschlag mit dem entwürdigenden Gefängnisstempel im Haus geduldet –, und soweit Antoinette wusste, schrieb sie ihm auch nie.

Die Entlassung ihres Vaters schwebte wie ein Schatten am Horizont, doch noch lag dieser Zeitpunkt in der Ferne. Noch brauchte man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Antoinette lebte in seliger Ahnungslosigkeit hinsichtlich Ruths Zukunftsplänen. Im Moment gab es nur sie beide.

Etliche Monate nachdem sie in das Häuschen gezogen waren, beschloss Antoinette, sich um ihre Ausbildung zu kümmern; im Stillen hatte sie ehrgeizige Pläne geschmiedet. Auch wenn sie ihre Arbeit mochte, wollte sie nicht ihr Leben als Kellnerin fristen, außerdem hatte sie den Wunsch, ihre Mutter stolz zu machen. Die größte Hürde bestand darin, dass sie so jung die Schule abgebrochen hatte und sich potenzielle Arbeitgeber an der Tatsache stören würden, dass sie keinen Abschluss vorzuweisen hatte. Ohne eine Qualifikation hatte sie keine Möglichkeit, sich beruflich zu verbessern. Doch Antoinette hatte sich einen Weg ausgedacht, wie sie diesem Dilemma entkommen konnte. Sie wollte eine Sekretärinnenschule besuchen, wo sie sich nicht nur nützliche Kenntnisse aneignen würde, sondern auch ein Schulabschlusszeugnis erhielte, das bestätigte, dass sie erst mit achtzehn die Schule verlassen hatte. So könnte sie die zwei verpassten Jahre nachholen, die so wertvoll für ihre berufliche Zukunft sein würden. Sie wusste auch schon, wie sie das Geld für die Schulgebühren aufbringen könnte.

Sie hatte gehört, dass viele irische Mädchen in den Sommermonaten nach England oder Wales reisten, um dort in einem Ferienort zu jobben. Die Bezahlung war gut, das Trinkgeld reichlich, hatte man ihr gesagt. So könnte sie sich rasch und relativ leicht den nötigen Betrag erarbeiten, den sie benötigte, um die Fachschule zu besuchen. Im Coffeeshop war man bereit, ihr ein paar Wochen unbezahlten Urlaub zu gewähren und sie bei ihrer Rückkehr wieder einzustellen. In Belfast gab es immer Studenten, die selbst vorübergehend jobben wollten, sodass es nicht schwer sein würde, einen zeitweiligen Ersatz für sie zu finden.

Ein festes Ziel vor Augen zu haben fühlte sich wunderbar an. Als Antoinette mit dem Besitzer des Coffeeshops über ihre Pläne redete, schien das Schicksal auf ihrer Seite zu sein. Er hatte einen Verwandten, der ein Hotel auf der Isle of Man besaß und immer gutes Personal brauchte. Er schlug ihr vor, in den nächsten Ferien dort als Kellnerin und Zimmermädchen zu arbeiten. Antoinette wollte sich die Gelegenheit keinesfalls entgehen lassen, und vierzehn Tage später befand sie sich auf einer Fähre zur Isle of Man.

Doch statt der bereichernden Erfahrung, die sie sich erträumt hatte, entpuppte sich der Job als hart und desillusionierend. Die Mädchen wurden ausgenutzt und mussten von frühmorgens bis spätabends schuften. Antoinette fand die Arbeit extrem anstrengend, und die Bezahlung war keineswegs so gut, wie sie sich erhofft hatte. Doch da sie weder Zeit noch Gelegenheit hatte, Geld auszugeben, konnte sie einen Großteil ihres Verdienstes sparen. Daher beschloss sie, ein paar Tage früher als geplant zurückzukehren, um noch ein wenig Urlaub zu Hause zu machen, ehe sie an ihre alte Arbeitsstelle zurückkehrte.

Im Hafen angekommen, nahm sie voller Vorfreude ein Taxi, weil sie es kaum erwarten konnte, endlich nach Hause zu kommen. Die Fahrt nach Lisburn, in den Vorort, wo sie wohnten, konnte ihr gar nicht schnell genug gehen. Doch als sie die Tür aufschloss und, die Arme voller Geschenke für ihre Mutter, ins Wohnzimmer stürmte, blieb sie abrupt stehen. Vor sich erblickte sie ausgerechnet den Menschen, den sie am allerwenigsten zu sehen wünschte.

»Hallo, wie geht’s meinem kleinen Mädchen?«

Ihr Vater saß in ihrem grünen Armsessel und lächelte sie selbstgefällig an, während ihre Mutter zu seinen Füßen kauerte, einen glückseligen Ausdruck im Gesicht.