Nun, da Antoinette eine von ihnen war, luden die Mädchen, die sie aus dem Coffeeshop kannte, sie ein, die Samstagabende mit ihnen zu verbringen. Sie trafen sich grüppchenweise, um gemeinsam ein Tanzlokal aufzusuchen, wo sie den Abend mit Tanzen, Kichern und Flirten verbrachten.
Endlich hatte Antoinette das Gefühl, akzeptiert zu werden. Ihr sehnlichster Wunsch, Freunde zu haben und sich in der Gesellschaft Gleichaltriger aufzuhalten, war in Erfüllung gegangen. Sie musste unbedingt Teil einer Clique sein, mit den anderen plaudern und kichern und endlich das haben, was sie ihr Leben lang vermisst hatte: Spaß.
Eines Samstagmorgens beobachtete sie wieder einmal, wie das schlammige Feld in einen magischen Ort verwandelt wurde. Sie war aufgeregt, denn heute würde auch sie diese geheime Welt betreten, wo sich die Jugendlichen nach dem neuesten Schrei kleideten, die Nacht durchtanzten, wo man eingeschmuggelten Alkohol trank, Zigarettenpackungen herumreichte und sich dabei weltgewandt vorkam. Sie konnte es kaum erwarten.
Sie verfolgte, wie Kabeltrommeln ausgerollt wurden. Die fingerdicken Kabel verbanden die dieselbetriebenen Generatoren mit den Strahlern, die später ihr glitzerndes Licht auf die Tanzenden werfen würden. Gebannt verfolgte sie, wie eine riesige Diskokugel, etwas, was sie nur einmal im Fernsehen gesehen hatte, ins Zelt getragen wurde.
Holzplanken wurden hineingeschafft, mit denen ein fester Boden auf der feuchten Erde errichtet wurde. Als Nächstes trugen freiwillige Helfer Tische und Bänke hinein und stellten sie um den Tanzboden herum auf. Man hatte ihr gesagt, dass es drinnen auch eine Bar gebe, die jedoch nur nichtalkoholische Getränke ausschenkte. Wer Alkohol trinken wollte, musste ihn heimlich ins Zelt schaffen, doch das war nicht schwer. Gutmütige Sicherheitsleute nahmen es mit der Kontrolle nicht so genau und übersahen geflissentlich die ausgebeulten Taschen der jungen Gäste. Auch ließen sich die Zeltplanen leicht anheben, und so wanderten kleine Flaschen mit hochprozentigem Alkohol von draußen in die konspirativen Hände, die sie drinnen in Empfang nahmen.
Antoinette trank gern Alkohol. Seit ihr Vater sie als kleines Mädchen mit der betäubenden Wirkung von Spirituosen bekanntgemacht hatte, genoss sie das Gefühl der Taubheit und der Entspannung, die der Alkohol hervorrief. Während viele Teenager das Trinken eben erst entdeckten, war Antoinette bereits geübt darin. Sie bewahrte immer eine Flasche in ihrem Zimmer auf, um einen beherzten Schluck zu nehmen, wann immer ihr danach war. Seit sie alt genug aussah, konnte sie selbst alkoholische Getränke in Spirituosenhandlungen kaufen, indem sie vorgab, ihre Mutter habe sie geschickt.
Auch an diesem Abend hatte Antoinette eine kleine Wodkaflasche, ihren Lieblingsschnaps, in ihrem Zimmer versteckt. Sie vertraute darauf, dass ihr Atem nicht verräterisch riechen würde. Da sie noch nicht wusste, wie leicht man im Tanzzelt an Alkohol kam, schenkte sie sich einen großzügigen Schluck ein.
Gestärkt durch einen doppelten Wodka, streifte sie Nylonstrümpfe über und befestigte sie an ihrem rosa Hüfthalter. Dann schlüpfte sie in ein Kleid, das so eng war, dass sie nur kleine Schritte darin machen konnte. Die Füße zwängte sie in hochhackige weiße Stöckelschuhe. Sie toupierte ihr Haar so hoch wie möglich und besprühte es mit gefärbtem Haarlack, sodass es wie ein orange glühender Lichthof wirkte. Ihr weißes Make-up übertünchte ihren natürlichen Teint und verlieh ihrem Gesicht eine Leichenblässe. Wieder besah sie sich mit ihren schwarz umrandeten Augen im Spiegel und war entzückt von dem, was sie sah. Jetzt war sie bereit, mit ihren Stöckelschuhen von dem Pförtnerhäuschen zu ihrem nicht weit entfernten Zelt hinüberzustaksen.
Während sie die Treppe hinunterstieg, verschwendete Antoinette kaum einen Gedanken daran, wie ihre Mutter auf ihre Verwandlung reagieren würde. Doch ihr entging nicht, wie Ruth bei ihrem Eintreten ins Wohnzimmer keuchend den Atem einzog. Rasch wandte sie den Blick von ihrem schockierten Gesicht ab und ging zur Haustür. Endlich würde sie ihre eng umhüllten Hüften auf dem Tanzboden schwingen, und der bevorstehende Abend war alles, was zählte.
Ausnahmsweise war Ruth einmal sprachlos, und ehe sie die Sprache wiederfand, war Antoinette schon fast zur Tür hinaus.
»Ich bin dann weg!«, rief sie überflüssigerweise über die Schulter zurück.
Eine Clique von Mädchen, alle ähnlich wie Antoinette zurechtgemacht, wartete in der Schlange vor dem Zelt auf sie. Nachdem sie eingelassen worden waren, gingen sie plaudernd und kichernd als Erstes auf die Toilette, um sich vor dem Spiegel nochmals in Augenschein zu nehmen. Handtaschen wurden geöffnet, und das Ritual des Make-up-Auffrischens begann. Den Mädchen kam gar nicht in den Sinn, dass ihr Make-up, das zwei Stunden in Anspruch genommen hatte, bei dem zehnminütigen Spaziergang zu dem Zelt wohl kaum Schaden genommen haben konnte. Frisuren wurden erneut justiert und abermals großzügig mit Spray zementiert. Die Luft war erfüllt mit dem Geruch der ätzenden Dämpfe und billigen Parfüms. Schließlich fuhr man mit der Kammspitze unter die hochtoupierten Strähnen, um die Konstruktion noch ein letztes Mal aufzutürmen.
Anschließend inspizierten die Mädchen nochmals sorgfältig das Gesicht, um sicherzustellen, dass sie alles getan hatten, um ihren jugendlichen Teint zu maskieren. Abgerundet wurde das Ritual durch eine neue Schicht Lippenstift. Erst dann waren sie zufrieden: Mehr konnten sie nicht tun.
Dann halfen sich die Mädchen gegenseitig dabei, mit Sicherheitsnadeln die langen Reißverschlüsse ihrer Kleider zu fixieren.
»Komm«, sagte Sally, ein kesses, blauäugiges Mädchen, zu Antoinette. »Ich helfe dir. Wo sind deine Sicherheitsnadeln?«
»Ich habe keine«, erwiderte sie. »Wozu sollen sie gut sein?«
Klirrendes Mädchengekicher ertönte angesichts von so viel Naivität.
»Nun, wenn du nicht willst, dass sie dir dein Kleid bis zur Hüfte hinunter aufziehen, musst du den Reißverschluss fixieren. Die Jungs haben in den Pubs schon einen geladen, und du weißt ja, wie sie dann sind«, erklärte das Mädchen, indem es vielsagende Blicke mit seinen Freundinnen austauschte.
Bis zu diesem Moment war Antoinette vollkommen ahnungslos gewesen, dass Reißverschlüsse eine solch große Versuchung in den Tanzlokalen darstellten. Sie hatte immer nur das Tanzen im Kopf gehabt und keinen Gedanken daran verschwendet, was die Jungen im Sinn hatten. Sie schluckte schwer, während sich das Bild einer Horde betrunkener Jungs vor ihr geistiges Auge schob, die nur »einen Gedanken im Kopf« hatten.
Die blonde Sally, das älteste Mädchen der Gruppe, bemerkte den ängstlichen Ausdruck, der über das Gesicht ihrer neuesten Freundin huschte.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie in beruhigendem Ton. »Die meisten Jungs sind hier, um sich zu amüsieren. Natürlich sagen sie nicht Nein, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, aber du wirst schon klarkommen. Mach dir keine Sorgen, diese Sicherheitsnadeln verhindern, dass ihre Hände in Versuchung geraten. Ich borge dir welche.«
Antoinette drehte sich zu Sally um, die den Reißverschluss ihres Kleides innen sorgfältig mit mehreren Sicherheitsnadeln befestigte. Schließlich gingen die Mädchen hinaus und bahnten sich einen Weg zur Tanzfläche, wo die Band bereits eine schnelle Nummer spielte.
Antoinette bemerkte, wie sich ihre Füße unwillkürlich zum Rhythmus der Musik bewegten und sich ihre Nervosität verflüchtigte, während sie den Blick über die jungen Menschen schweifen ließ, die auf den Bänken saßen und plauderten oder sich auf der Tanzfläche drehten.
Die Mädchen kauften sich Getränke, dann suchten sie sich einen Platz und plapperten ununterbrochen miteinander, während sie gleichzeitig jeden einzelnen der anwesenden Jungen musterten. Es dauerte nicht lang, und junge Männer in Blousons und Hosen mit Bügelfalte traten an ihren Tisch, um die Mädchen zum Tanzen aufzufordern. Die Angesprochenen blickten auf, standen lächelnd auf, ergriffen die Hand ihres Tanzpartners und ließen sich zur Tanzfläche geleiten.
Plötzlich hörte Antoinette eine Stimme, die fragte: »Möchtest du tanzen?«
Als sie aufsah, blickte sie in das rundliche, freundliche Gesicht eines Jungen, der kaum älter als sie selbst war. Sie ergriff seine Hand und folgte ihm zur Tanzfläche. Auf dem Weg dorthin rief sie sich die Tanzschritte ins Gedächtnis, die sie zu Hause geübt hatte. Die Band setzte wieder ein, und sie spürte, wie ihr Tanzpartner sie zu den Rhythmen eines Jives herumschwang.
Es war ein herrliches Gefühl, und sie war glücklich, dass sie sich an die neuen Tanzfiguren erinnerte, die sie zuvor zu Hause vor dem Spiegel geübt hatte, wo die treue Judy ihr einziges Publikum gewesen war.
Als der erste Tanz vorüber war, bat ihr Partner um einen zweiten und einen dritten. Dann machte die Band eine Pause, und nachdem das Tanzen so gut geklappt hatte, dankte sie ihrem Partner und ging mit neu gewonnenem Selbstvertrauen zu ihren Freundinnen zurück. Die Clique an ihrem Tisch schien beliebt zu sein, bestand sie doch aus lauter lebhaften Mädchen, die sich vorgenommen hatten, Spaß zu haben, und deren natürliche Ausstrahlung selbst ihr schweres Make-up nicht zu übertünchen vermochte. Je öfter Antoinette zum Tanzen aufgefordert wurde und sich mit Leichtigkeit zu den beschwingten Rhythmen bewegte, desto mehr wuchs ihre Selbstsicherheit. Der heimlich den Säften beigefügte Alkohol tat ein Übriges.
Ihr erster Tanzpartner forderte sie auch zum letzten Tanz des Abends auf. Das Licht wurde gedämpft, und dann waren nur noch die Klänge eines langsamen Walzers zu hören. Der Alkohol hatte ihren Körper entspannt, und sie überließ sich dem angenehmen Gefühl, gehalten zu werden, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte und sie in weiten Bögen auf der Tanzfläche kreisten. Als sie kurz den Kopf hob, spürte sie, wie sich eine feuchte Wange mit weichem Flaum gegen ihre presste. Seine Hände wanderten unsicher über ihre Taille nach oben, bis sie kurz unterhalb ihrer Brüste innehielten. Antoinette drückte instinktiv den Rücken durch, um den Körperkontakt zu vermeiden. Sie nahm ihre Hand von seiner Schulter und legte sie auf seine, um sie wieder an ihren Platz zu schieben. Dann lächelte sie ihn an und schüttelte leicht tadelnd den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass sie ihn zwar mochte, aber zu mehr nicht bereit war.
Sie wusste, wenn sie in der Clique ihrer neuen Freundinnen akzeptiert werden wollte, musste sie die unausgesprochenen Regeln der Kommunikation zwischen den beiden Geschlechtern beherrschen und die Spielchen mitspielen.
Ihr Tanzpartner indes gab sich noch nicht geschlagen. Während ihre Hand seine noch immer in Schach hielt und er sie mit der anderen enger an sich ziehen wollte, senkte er das Gesicht zu ihrem hinab, und sie merkte, wie seine Lippen ihre suchten.
Antoinette schob den Kopf zurück, sah ihm in die Augen und ließ ein leises Lachen vernehmen. Ihr Körper versteifte sich angesichts seiner Annäherungsversuche. Als er erkannte, dass sie für sein Vorhaben nicht zu haben war – mochte ihre Aufmachung auch eine andere Sprache sprechen –, lockerte er seinen Griff und erwiderte verlegen ihr Lächeln. Bald fand sie heraus, dass viele Jungen seines Alters davon träumten, Mädchen zu finden, die leicht zu haben waren. Aber sie kamen nur selten ans Ziel.
Dann spielte die Band die letzten Klänge, und das Zelt wurde hell erleuchtet. Müde, aber glücklich verabschiedete sich Antoinette von ihren Freundinnen und ging nach Hause. Ihr Haar roch nach Zigaretten und ihr Atem nach Alkohol.
Ein Geruch, der ihr auch noch am nächsten Morgen anhaftete, als sie ins Wohnzimmer hinunterging, wo ihre Mutter im Armsessel saß und offensichtlich auf sie wartete. Als Ruth die abgestandene Rauch- und Alkoholfahne wahrnahm, die von ihrer Tochter ausging, verzog sich ihr Gesicht missbilligend.
»Und, hast du dich gestern Nacht amüsiert?«, fragte Ruth in einem Ton, der verriet, dass sie das Gegenteil hoffte.
Antoinette, noch immer glücklich über ihren ersten gelungenen Tanzabend, weigerte sich, den Köder zu schlucken, den ihre Mutter ausgelegt hatte. »Ja, danke, Mami«, sagte sie nur.
»Du weißt, wie lächerlich du gestern Abend ausgesehen hast. Nun, ich kann zwar nicht verhindern, dass du dein Geld für solches Zeug zum Fenster hinauswirfst, aber in meinem Beisein wirst du niemals so auf die Straße gehen. Ich mache mich doch nicht zum Gespött der Leute.« Ruth stand auf und wandte sich zum Gehen, doch in der Tür blieb sie stehen, um noch einen draufzusetzen. »Ich weiß nicht, was dein Vater dazu sagen wird, wenn er nach Hause kommt.«
Antoinette war so verstört von den abschließenden Worten ihrer Mutter, dass ihr für einen Moment der Atem stockte. Das Glücksgefühl des vergangenen Abends war wie weggeblasen, und Panik stieg in ihr auf. Nie hätte sie gedacht, dass ihre Mutter so etwas zu ihr sagen würde. Die Worte erschreckten sie zutiefst.
Im Laufe der nächsten Wochen ging die Saat der Angst in ihr auf und breitete sich bis in ihre Träume hinein aus. Sie schlief schlecht, und die wachsende Panik drohte sie zu ersticken.