Acht

Der Coffeeshop, wo Antoinette ihren Vater treffen sollte, war einer von vielen, die im Zentrum von Belfast aus dem Boden geschossen waren. In diesen Vorläufern der späteren Bars trank die Belfaster Jugend Cappuccino, und dies war Antoinettes Lieblingscafé. Dort traf sie sich mit ihren Freunden, ehe sie zum Tanzen gingen. Dort nippten die jungen Mädchen an den schaumig-milchigen Getränken und schmiedeten Pläne für den vor ihnen liegenden Abend.

Doch an diesem Nachmittag fühlte sie sich ganz und gar nicht wohl in der sonst so vertrauten Umgebung. Die dunkle Einrichtung wirkte mit einem Mal bedrückend auf sie, und die große silbrig schwarze Kaffeemaschine, die sonst immer fröhlich gurgelnde und zischende Geräusche von sich gab, stand still auf dem Tresen.

Für die jungen Leute, die abends hier verkehrten, war es noch zu früh, und die Mittagessensgäste, elegant gekleidete Businessmänner und Businessfrauen, waren bereits wieder in ihren Büros verschwunden.

Die bevorstehende Rückkehr ihres Vaters hatte Antoinette in eine Depression versinken lassen. Es war, als wäre sie in ein schwarzes Loch gestürzt. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen oder an den nächsten Tag zu denken. Sogar die einfachste Aufgabe erschien ihr unmöglich, jede Kleinigkeit versetzte sie in Panik, und ihr Reaktionsvermögen war stark vermindert. Sie war wieder zu jenem Roboter mutiert, der sie früher einmal gewesen war, einem Wesen, das stumpf darauf programmiert war, empfangene Befehle auszuführen.

Zu ihrer Angst gesellten sich noch andere Sorgen: Was sollte sie ihren Freundinnen sagen, wenn sie zufällig eine von ihnen traf? Wie konnte sie die plötzliche Anwesenheit ihres Vaters erklären? Warum hatte ihre Mutter ausgerechnet hier, auf Antoinettes ureigenstem Terrain, dieses Treffen arrangiert? Es war, als ob das bisschen Unabhängigkeit, das sie sich erobert hatte, das bisschen eigenständige Leben ihr jäh entrissen worden wären.

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie auf einen der Holztische zusteuerte und sich setzte. Sein Bus sollte um drei Uhr nachmittags ankommen. Um diese Uhrzeit war es recht unwahrscheinlich, jemanden aus ihrer Clique hier zu treffen, und dafür war sie dankbar.

Sie fragte sich, welcher Vater ihr begegnen würde. Würde es der »nette« sein, der elf Jahre zuvor von seiner Frau und Tochter im Hafen von Belfast empfangen worden war: der Vater, der Ruth vor Glück hatte erstrahlen lassen, als er sie in seine Arme zog und an sich drückte, und der seine fünfjährige Tochter zum Lachen brachte, als er sie fröhlich in der Luft herumschwang und sie auf die Wangen küsste? Doch jener Vater, der heitere Mann, der sie unterm Kinn getätschelt und seiner Frau Pralinen mitgebracht hatte, nachdem sie sich wieder einmal gestritten hatten, war nur noch eine blasse Erinnerung. Würde es der andere Vater sein, der mit den blutunterlaufenen Augen, dessen Mund vor Wut zu zittern begann, wenn er sie nur erblickte? Die Angst vor diesem Mann, die sie aus ihrem Gedächtnis hatte tilgen wollen, war plötzlich wieder in ihr lebendig.

Antoinette war früh gekommen. Sie war angezogen wie ihr früheres Selbst: Ihr frisch gewaschenes Haar hing auf den Kragen ihres marineblauen Jacketts, und ein grauer Rock und ein blassblaues Twinset hatten Jeans und T-Shirt, ihre Teenageruniform, ersetzt. An diesem Morgen war ihre Mutter in ihr Zimmer gekommen. Sie selbst hatte sich für das Wiedersehen mit ihrem Mann herausgeputzt und trug eine graue Jacke mit Pelzkragen, der ihr Gesicht einrahmte und weicher machte. Sie hatte sich eine frische Dauerwelle legen und das Haar kupferfarben färben lassen, um die grauen Strähnen zu übertünchen, die in den letzten Jahren aufgetaucht waren. Jetzt fiel es ihr wie früher in sanften Wellen auf die Schultern. Den Mund hatte sie leuchtend rot geschminkt, ihre Lieblingsfarbe, und an den Fingern mit den scharlachrot lackierten Nägeln funkelten zahlreiche Ringe. Ihre Mutter war auf Antoinettes Schrank zugegangen und hatte die Kleidungsstücke ausgewählt, die ihre Tochter an diesem Tag tragen sollte.

»Diese Kombination steht dir so gut, Liebes«, hatte sie gesagt. »Zieh sie heute an.«

»Ich mag das nicht«, brummte Antoinette. »Das ist altmodisch.«

»Oh nein, Liebes, du siehst sehr hübsch darin aus. Blau ist deine Farbe. Trag es bitte mir zuliebe, tu mir den Gefallen, ja?«

Und sie tat ihn ihr.

Antoinette wollte sichergehen, dass sie vor ihrem Vater im Coffeeshop war, sodass sie die Tür im Blick hatte, wenn er hereinkam. Sie wollte ihn sehen, bevor er sie sah, wenigstens ein kleiner Vorteil.

Die Hängelampen warfen warme Lichtteiche auf die Holztische. Sie musste die Kaffeetasse, die vor sie hingestellt worden war, mit beiden Händen ergreifen, um sie an den Mund zu führen, denn ihre Handflächen waren feucht vor Angst, und ihre Finger zitterten. Im Magen spürte sie ein nervöses Ziehen, und ihr Kopf schmerzte nach der schlaflosen Nacht.

Den Bruchteil einer Sekunde bevor sie ihn erblickte, spürte sie seine Anwesenheit. Als sie zur Tür sah, konnte sie zunächst nur eine männliche Gestalt ausmachen. Mit dem Rücken zum Tageslicht, war er nur ein gesichtsloser Schatten. Doch sie wusste, dass er es war. Sie spürte, wie sich ihre kurzen Nackenhaare sträubten, und legte die Hände auf die Knie, um ihr Zittern zu verbergen.

Erst als er fast bei ihr war, erkannte sie seine Züge.

»Hallo, Antoinette«, sagte er.

Sie sah ihm ins Gesicht und erblickte jemanden, den sie noch nicht kannte: den reumütigen Vater. Er war über zwei Jahre im Gefängnis gewesen, und abgesehen von seinem Wochenendbesuch, als sie ihn nur wenige Augenblicke erlebt hatte, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen.

»Hallo, Papa«, erwiderte sie. Um zu verhindern, dass er weitersprach, platzte sie heraus: »Mami hat mir ein bisschen Geld für Tee und Scones gegeben.« Antoinette war so sehr darauf programmiert, höflich zu sein, dass sie nicht anders konnte.

Für einen Außenstehenden stellten Antoinette und ihr Vater einen ganz gewöhnlichen Anblick dar: ein Mann, der seine Tochter zum Tee ausführte.

In dem Moment, da Antoinette ihre ersten Worte zu ihrem Vater sagte, machte sie einen weiteren Schritt in die Welt hinein, die ihre Mutter erschaffen hatte. Es war eine Welt, in der ihr der Wille abhandenkam, wo sie nach Ruths Pfeife tanzte. Sie hatte keine andere Wahl, als sich zu fügen. Sie spielte ihren Part in der Farce einer ganz normalen Familie.

Aber zwischen ihnen herrschten alles andere als normale Verhältnisse. Vor ihr stand ein Mann, der im Gefängnis gewesen war. Und zwar aufgrund ihrer Aussage, während ihre Mutter gehofft hatte, er würde in eine Nervenheilanstalt kommen, was in ihren Augen das kleinere zweier Übel gewesen wäre. Seither fragte sich Antoinette, wie er reagieren würde, wenn sie sich wieder gegenüberstanden, und nun würde sie es herausfinden.

Sie zwang sich, ihre Angst zu verbergen und ihn anzuschauen. Sie hatte erwartet, dass er sich verändert hätte, wenn auch nur minimal, immerhin war er ein Mann, der für ein Sexualverbrechen inhaftiert gewesen war. Auch wenn in dem Urteil nicht stand, dass die Minderjährige, an der er sich vergangen hatte, seine eigene Tochter war, so hatte die Tatsache, dass es sich bei seinem Opfer um ein minderjähriges Mädchen gehandelt hatte, doch gewisse Auswirkungen auf seinen Stand unter den anderen Häftlingen, hatte sie erwartet. Gewiss hatten die Mithäftlinge ihm gezeigt, was sie von so einem hielten. Gewiss war seine Beliebtheit, die ihn sonst in Gesellschaft anderer Männer auszeichnete, im Gefängnis purer Ablehnung gewichen. Im Gefängnis hatte ihm auch seine Geschicklichkeit am Billardtisch nichts genützt.

Doch zu Antoinettes großer Verwirrung sah er kein bisschen anders aus als am Tag seiner Verurteilung. Der Tweedanzug, den er damals getragen hatte, passte ihm noch ausgezeichnet. Sein Schlips war am Kragen seines sorgfältig gebügelten blassblauen Baumwollhemds zu einem tadellosen Knoten gebunden. Sein kastanienbraunes, dicht gewelltes Haar mit den rötlich schimmernden Lichtreflexen war frisch geschnitten, und seine Augen wirkten vollkommen unbekümmert, während sie ihren Blick mit einem warmen Lächeln erwiderten.

Er nahm ihr gegenüber Platz, und indem er sich vorbeugte, legte er seine Hand leicht auf ihre. Sie zog ihre Finger rasch zurück und spürte, wie sie zitterten. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggerannt. Doch sie hatte nicht einmal die Kraft, seinem hypnotischen Blick auszuweichen.

»Es tut mir leid«, sagte er, als wohnte diesen Worten eine magische Kraft inne, die seine Verfehlungen binnen weniger Sekunden auszulöschen vermochte.

Und doch wollte sie nichts mehr, als ihm zu glauben. Sie wollte, dass ihr Glaube an die Welt der Erwachsenen wiederhergestellt würde. Sie wünschte sich, von einer Zeitmaschine in ihre Kindheit zurückversetzt zu werden, jedoch in eine andere, glückliche Kindheit, die jene schrecklichen Jahre auslöschen würde. Vor allem wollte sie ein normaler Teenager sein, mit Eltern, die sie liebten. Sie wollte auf schöne Kindertage zurückblicken, mit lauter Erinnerungen im Gepäck, die sie beim Erwachsenwerden begleiteten. Sie wollte in der Lage sein, zu lächeln, wenn sie an die Vergangenheit dachte, ihre Erinnerungen mit ihren Freundinnen teilen können. Sie wusste, dass Kindheitserinnerungen eines Menschen, die Geschichten seiner Familie und Freunde die Grundlage seines Lebens bilden, doch ihre, Antoinettes, Geschichten waren zu furchtbar, um sie zu erinnern, ganz zu schweigen davon, sie anderen zu erzählen.

Sie sah ihren reumütigen Vater an und wollte ihm glauben – doch sie tat es nicht.

Joe dachte, er hätte gewonnen, das spürte sie. Lächelnd bestellte er Tee und Scones. Antoinette beobachtete, wie er mit großem Appetit aß und mehrere Tassen Tee trank, während sie keinen Bissen hinunterbekam. Sie starrte ihn unverhohlen an und spürte die altbekannte Angst zurückkehren. Als sie klein war, verursachte ihr diese Furcht Übelkeit.

Schließlich stellte er seine Tasse auf die Untertasse und lächelte sie an. »Nun, mein Mädchen, wenn du fertig bist, können wir uns meinetwegen auf den Weg machen.« Ohne ihre offensichtliche Appetitlosigkeit zu kommentieren, forderte er sie auf, die Rechnung kommen zu lassen und zu bezahlen. Dann ergriff er ihren Arm und führte sie wie ein ganz normaler fürsorglicher Vater aus dem Café hinaus.

Antoinette und Joe saßen nebeneinander im Bus, der sie aus dem Zentrum Belfasts in den Vorort Lisburn brachte. Sie hatten im Oberdeck Platz genommen, damit er rauchen konnte. Sie beobachtete, wie er eine Zigarette drehte und mit der Zungenspitze langsam das Filterpapier benetzte, ehe er die Zigarette anzündete. Sie spürte, wie er entspannte, während er Rauchkringel in die Luft blies.

Sie atmete den Rauch ein, froh, dass der seinen Körpergeruch übertünchte, der sie seit jeher abgestoßen hatte. Sein Arm drückte gegen ihren, und sie hatte das Gefühl, als würde seine Körperwärme ihre Seite versengen. Sie wandte sich von ihm ab und sah zum Fenster hinaus. Doch statt der Umgebung erblickte sie sein Spiegelbild mit seinem unehrlichen warmen Lächeln, das sie so gut aus ihrer Kindheit kannte.

Als ihre Haltestelle kam, stiegen sie aus. In der einen Hand seinen kleinen Koffer, legte er die andere an ihren Ellbogen. Sie bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, während sie den Druck seiner Finger spürte, die sie zwangen, seinem raschen Schritt zu folgen. Mit jedem weiteren Schritt verstärkte sich das überwältigende Bedürfnis in ihr, seine Hand abzuschütteln. Doch in all den Jahren, da ihre Eltern ihre Gedanken kontrolliert hatten, war ihr Wille zerbrochen, und sie war unfähig, sich gegen den Wunsch ihres Vaters zu stellen.

In dem engen Flur angekommen, stellte er den Koffer auf den Boden. Judy lief herbei, um Antoinette zu begrüßen. Als Joe sie sah, ging er in die Hocke und streichelte grob den Kopf des Hundes. Als Judy ihn nicht stürmisch begrüßte, wie er meinte, dass es ihm zustehe, zog er sie an den Ohren und zwang sie, ihn anzuschauen. Judy, die eine derart harsche Behandlung nicht gewohnt war, entwand sich seinem Griff und suchte bei ihrem Frauchen Zuflucht. Sie versteckte sich hinter Antoinette, schmiegte sich an ihre Beine und lugte argwöhnisch dahinter hervor zu dem Eindringling.

Ein ärgerlicher Ausdruck huschte über Joes Gesicht. Auch Hunde hatten Joe Maguire gefälligst zu mögen.

»Judy, erinnerst du dich nicht an mich?«, fragte er in jovialem Ton, der jedoch seinen Unmut nicht zu verbergen vermochte.

»Sie ist alt geworden, Papa«, sagte Antoinette schnell, in der Hoffnung, mit dieser Erklärung ihren Hund beschützen zu können.

Vorerst schien er das zu akzeptieren. Er betrat das kleine Wohnzimmer, setzte sich in den bequemsten Sessel und nahm sowohl sie als auch die häusliche Umgebung mit einem zufriedenen Grinsen in Augenschein.

»Nun, Antoinette, bist du nicht froh, deinen alten Vater wieder zu Hause zu haben?« Spott schwang in seiner Stimme mit. Ihr Schweigen als Zustimmung wertend, sagte er: »Dann sei ein liebes Mädchen und mach mir eine Tasse Tee.« Als wäre der Gedanke ihm nachträglich gekommen, sagte er, indem er zu dem Koffer im Flur deutete: »Aber bring zuerst mein Gepäck hinauf in das Zimmer von mir und deiner Mutter.«

Als sie sich bückte, um den Koffer hochzuheben, sah sie aus dem Augenwinkel den selbstzufriedenen Ausdruck, der sich auf seinem Gesicht breitmachte. Jetzt wusste er, dass seine zweijährige Abwesenheit die jahrelange Abrichtung seiner Tochter nicht zunichtegemacht hatte. Nein, Antoinette war kein rebellischer Teenager geworden, wie er vielleicht befürchtet hatte – so viel war gewiss.

Sie sah das Lächeln und verstand es. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie den Koffer. Seine Autorität blieb ungebrochen, dessen war sie sich bewusst. Gleichzeitig wusste sie, dass sie den Groll verbergen musste, der zusehends in ihr aufstieg. Als sie mit dem Koffer zur Treppe ging, spürte sie, wie er jeden ihrer Schritte verfolgte.

Oben angekommen, stellte sie den Koffer rasch ins Schlafzimmer ihrer Eltern und vermied es, das Bett anzuschauen, das er von nun an wieder mit ihrer Mutter teilen würde. Dann begab sie sich in die Küche, wo sie wie ein Roboter den Teekessel füllte und auf die Herdplatte setzte. Sofort stiegen Erinnerungen an andere Gelegenheiten auf, bei denen sie das Ritual des Teemachens als Verzögerungstaktik genutzt hatte.

Ihre Mutter kam ihr in den Sinn. Innerlich verfluchte sie Ruth und stellte ihr zum wiederholten Mal die Fragen, die so lange unbeantwortet geblieben waren: »Mami, wie kannst du mich dieser Gefahr aussetzen? Liebst du mich denn kein bisschen? Bedeuten dir diese letzten beiden Jahre, die wir beide allein verbracht haben, überhaupt nichts?«

Doch jetzt kannte sie die Antworten auf ihre Fragen.

Das Pfeifen des Teekessels unterbrach ihre Grübeleien, sie schaltete die Platte aus und brühte den Tee auf. Sie hatte noch lebhaft in Erinnerung, wie ärgerlich ihr Vater reagierte, wenn man ihn warten ließ. Also stellte sie rasch zwei Tassen auf ein Tablett, goss Milch in ein Kännchen, trug das Tablett zu ihm hinein und setzte es auf dem Couchtisch ab. Beim Einschenken achtete sie darauf, zuerst die Milch in seine Tasse zu geben, dann zwei Teelöffel voll Zucker, genau so, wie ihr Vater seinen Tee haben wollte.

»Du hast das Teemachen nicht verlernt, Antoinette. Und nun sag mir, hast du deinen alten Vater vermisst?«

Bei der Erinnerung an die vielen Male, da er sie mit ähnlichen Fragen gequält hatte, musste sie blinzeln. Fragen, die sie nie korrekt hatte beantworten können, die an ihrem Bewusstsein genagt und sie zutiefst verstört hatten.

Ehe sie antworten konnte, ließ ein lautes Klopfen an der Haustür Judy anschlagen und erlöste Antoinette aus ihrer Not. Ihr Vater machte keine Anstalten, seine bequeme Position im Armsessel aufzugeben, sondern überließ es ihr, nachzusehen, wer gekommen war.

Dankbar, dass sie um eine Antwort herumkam, ging sie zur Haustür und öffnete sie. Ein schmaler Mann in mittleren Jahren stand vor ihr. Seine sandfarbenen Haare waren rechts gescheitelt, und in seinen grauen Augen hinter der goldgefassten Brille lag kein Funken Wärme. Über seinem dunklen Anzug trug er einen dreiviertellangen Gabardinemantel, dessen oberste Knöpfe offen standen, sodass sie den sorgfältig gebundenen Knoten seiner gestreiften Krawatte über seinem blendend weißen Hemd erkennen konnte.

Sie hatte ihn noch nie gesehen, und nachdem sie es nicht gewohnt war, Besucher zu empfangen, lächelte sie ihn unsicher an, während sie darauf wartete, dass er sein Anliegen vorbrachte.

Er sah sie kühl an, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Dann öffnete er eine schmale Brieftasche und hielt ihr seinen Dienstausweis hin.

»Hallo«, sagte er. »Ich bin vom Sozialamt. Bist du Antoinette?«

Wieder dieser Name, den sie so hasste. Der Name, der so viele Erinnerungen wachrief an jemanden, der sie nicht mehr sein wollte. Der Name, den sie während des Gefängnisaufenthalts ihres Vaters kaum mehr gehört hatte, war am Tag seiner Freilassung plötzlich wieder präsent. Jedes Mal, wenn er fiel, spürte sie, wie Tonis Identität ihr mehr und mehr entglitt. Den alten Namen aus dem Mund ihres Vaters zu vernehmen ließ sie wieder zu der verschreckten Vierzehnjährigen werden, die sie war, als er verurteilt wurde. Doch nun nahm ihn auch dieser Fremde in den Mund. Mit einem unguten Gefühl blickte sie ihn weiter fragend an. Warum erhielt sie jetzt Besuch vom Sozialamt?, fragte sie sich. Früher hatten die sich doch auch kaum um sie gekümmert.

»Kann ich hereinkommen?«, fragte er. Auch wenn er die Worte in eine Frage gekleidet hatte, klangen sie eher wie ein Befehl. »Ich muss mit dir und deinem Vater reden.«

Sie nickte und trat zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Dann führte sie ihn ins Wohnzimmer. Der Sozialarbeiter nahm die häusliche Atmosphäre mit unverhohlenem Missfallen in Augenschein. Antoinette, die seine Reaktion richtig interpretierte, war sich augenblicklich seiner Aversion ihr gegenüber bewusst. Ihre höfliche Natur zwang sie jedoch, ihm Tee anzubieten, was er verächtlich ablehnte.

Er war offensichtlich nicht gekommen, um ihr zu helfen, sondern hatte sich bereits sein Urteil gebildet und sie für schuldig befunden. Schuldig wofür genau, das wusste sie nicht.

Sie setzte sich auf den harten Holzstuhl und umklammerte die Hände im Schoß, um das Zittern zu kontrollieren, das sie wieder befiel. Der Besucher nahm indes in dem einzig weiteren bequemen Sessel Platz. Sorgfältig zupfte er die Bügelfalte seiner Hose zurecht. Dabei gab er den Blick auf einen blassen Streifen Haut über seinen Socken frei. Antoinette entging nicht, dass seine spitzen Knie seinen Bemühungen zum Trotz den Hosenstoff ausbeulten. Seine Füße, die er sorgfältig nebeneinander platziert hatte, steckten in schwarzen Schuhen, die so glänzten, dass sie sich fragte, ob er sich darin spiegeln konnte, wenn er sich hinabbückte, um die Schnürsenkel zu binden.

Sein käsig weißes Gesicht mit den schwammigen Zügen wandte sich ihrem Vater zu. Während er sie zunächst völlig ignorierte, begann er sich im Plauderton mit ihm zu unterhalten. Oberflächlich betrachtet wirkte er wie ein harmloser schmächtiger Mann. Doch etwas an ihm – seine kalten Augen, seine pingelige Erscheinung, die affektierte Art, wie er ihr seinen Dienstausweis präsentiert und sich seine Aktentasche in den Schoß gelegt hatte – ließ sie in Habtachtstellung verharren.

Schließlich lenkte er das Gespräch auf den Zweck seines Besuchs: Er wollte wissen, welche Zukunftspläne Joe hatte. Ein frisch aus der Haft Entlassener habe Anspruch auf Beistand bei seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft, erklärte er. Es zähle zu den Pflichten eines Sozialarbeiters, sicherzustellen, dass von amtlicher Seite die nötige Hilfe angeboten werde, um diesem Grundsatz Rechnung zu tragen.

»Und, Joe, haben Sie schon irgendwelche Bewerbungen laufen?«

Joe bejahte die Frage, er habe demnächst einen Vorstellungstermin bei der Armee, wo man zuverlässige Mechaniker suche. Mit seiner Berufserfahrung und seinen guten Zeugnissen sowie seiner Dienstzeit während des Krieges war er optimistisch, eingestellt zu werden.

Aufgrund der verstohlenen Blicke, die der Fremde ihr gelegentlich zuwarf, ahnte Antoinette, dass es nicht nur um die »Wiedereingliederung« ihres Vaters ging. Sondern dass der Sozialarbeiter auch ihretwegen gekommen war.

Offensichtlich zufrieden mit Joes Antwort, sah dieser sie an, auch wenn seine nächste Äußerung sowohl an den Vater als auch die Tochter gerichtet war.

»Sie beide müssen sich betragen, haben Sie verstanden?«

Antoinette sah kurz Wut im Blick ihres Vaters aufflackern, doch es gelang ihm, den Impuls rasch zu unterdrücken.

»Ja«, murmelte er. Er spürte wohl, dass eine ausführlichere Antwort von ihm erwartet wurde, also schenkte er dem Beamten sein charmantestes Lächeln und sagte in reumütigem Ton: »Ich habe meine Lektion gelernt. Jetzt will ich nur noch eines – mich mit meiner Frau aussöhnen. Sie hatte es nicht leicht, während ich weg war, und ich habe einiges wiedergutzumachen.«

»Nun, Joe, und Sie lassen auch die Finger vom Alkohol, nicht wahr?«

Zu Antoinettes Erstaunen stand ihr Vater aus dem Sessel auf, ging die paar Schritte, die ihn von dem Besucher trennten, und reichte ihm die Hand. »Oh, das werde ich, machen Sie sich keine Sorgen«, erklärte er immer noch lächelnd.

Der Sozialarbeiter, der offenkundig der Meinung war, seiner Pflicht Genüge getan zu haben, erhob sich, nahm seine Aktentasche und wandte sich zum Gehen. Doch dann drehte er sich nochmals zu Antoinette um, bedachte sie mit einem verächtlichen Blick und sagte: »Und du, Antoinette, bist auch anständig, haben wir uns verstanden?«

Als sie sah, dass er auf eine Antwort wartete, sagte sie leise: »Ja.«

Zufrieden, sie zum Abschluss nochmals gedemütigt zu haben, verließ er das Zimmer. Sie folgte ihm durch den Flur, um ihn hinauszubegleiten, und als die Tür hinter ihm zufiel, spürte sie, wie die letzten Reste ihres neu gewonnenen Selbstvertrauens in sich zusammenfielen. Die zwei Jahre, in denen ihr Vater seine Haftstrafe abgesessen hatte, waren wie ausgelöscht. Erneut war sie die Vierzehnjährige, der man die eigentliche Schuld für das Vergehen ihres Vaters gab und die man deswegen schnitt.

Während sie hörte, wie sich die Schritte des Sozialarbeiters draußen entfernten, lehnte sie sich an die Wand im Flur und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen, ehe sie ihrem Vater wieder gegenübertrat. Währenddessen rief sie sich die Worte des Richters am Tag der Verurteilung ins Gedächtnis. »Die Leute werden dir die Schuld geben … und ich sage dir, dass du rein gar nichts dafür kannst.« Nie hatte sie sich gegen das schmutzige Gerede der Leute wehren können. Es war, als hätte es auf sie abgefärbt, und jetzt vermochten nicht einmal mehr die Worte des Richters sie zu trösten.

Wieder hatte sie das Gefühl, auf Gedeih und Verderb der Welt der Erwachsenen ausgeliefert zu sein. Wieder hatte man sie betrogen, genau wie damals, als das Verbrechen ihres Vaters ans Licht gekommen war.

Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück mit der bangen Sorge im Herzen, in welche Laune der Besuch des Sozialarbeiters ihren Vater wohl versetzt haben mochte. Doch er zeigte keinerlei Reaktion auf den ungebetenen Gast, sondern hielt ihr seine Tasse entgegen, damit sie ihm nachfüllte. Dann sagte er: »Sprich mit deiner Mutter nicht über diesen Mann, Antoinette. Sie hat schon genug Sorgen.«

Um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, bedachte er sie mit einem einschüchternden Blick. Dann trank er schlürfend seinen Tee. Der Besuch des Sozialarbeiters sollte mit keinem Ton mehr erwähnt werden.