Zwölf

Antoinette ging zu ihrer ersten Verabredung. Zum ersten Mal fühlte sie sich so unbeschwert wie andere Mädchen ihres Alters. Der Junge hieß Derek und hatte sie in ein neu eröffnetes Lokal in Belfast eingeladen. Es handelte sich um das erste chinesische Restaurant in der Stadt, und Antoinette, die die chinesische Küche nur vom Hörensagen kannte, war aufgeregt.

Eine Woche zuvor hatte ein untersetzter blonder junger Mann sie um den ersten Tanz gebeten und war ihr den ganzen Abend lang kaum mehr von der Seite gewichen. Als ein Stehblues gespielt wurde, sagte er: »Du erinnerst dich wohl nicht mehr an mich, hm? Vor ein paar Monaten haben wir im Zelt in Lisburn schon einmal miteinander getanzt.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Oh ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte sie, als sie bemerkte, dass es sich um denselben Jungen mit dem rundlichen Gesicht handelte, mit dem sie damals den letzten Walzer getanzt hatte. »Du warst ganz schön dreist, nicht wahr?«, sagte sie neckend und sah ihn belustigt an, um ihre Worte abzumildern.

Derek erwiderte ihr Lächeln. Im Laufe des Abends fiel Antoinette auf, dass aus dem netten Jungen ein höflicher junger Mann geworden war. Er lud sie auf ein Erfrischungsgetränk ein, und obwohl sie durchaus einen Schuss ihres liebgewonnenen Wodkas darin vermisste, wurde dieser Mangel durch die Bewunderung in seinen Augen mehr als wettgemacht. Sie mochte es, wie er sie ansah, und strahlte zurück. In seinem sportlichen Blouson und der Cordhose hob er sich von den anderen Jungen seines Alters ab.

»Ich habe seit dem Abend, als wir miteinander getanzt haben, die ganze Zeit nach dir Ausschau gehalten«, gestand er ihr.

»Wirklich?« Sie konnte es kaum glauben. Sie war es gewohnt, je später der Abend wurde und je mehr die Jungen getrunken hatten, klebrige Hände abzuwehren, statt ehrliche Bewunderung zu erfahren. Offensichtlich ging es Derek nicht ums Knutschen, sondern er wollte sie näher kennenlernen und mehr Zeit mit ihr verbringen. Als er sie dann fragte, ob sie mit ihm zum Essen gehen wolle, war sie so überwältigt, dass es ihr schwerfiel, ihre Begeisterung zu verbergen.

Es war ihre erste Verabredung, etwas, wonach sich alle Mädchen ihres Alters sehnten. Am liebsten hätte sie ihre Freude und ihr Glück mit ihrer Mutter geteilt, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass Ruth es nicht gutheißen würde.

Die Wochen seit der Rückkehr ihres Mannes hatten ihren Tribut gefordert, und in letzter Zeit sah sie permanent unzufrieden aus. Die gute Laune, die ihr Mann am Vorabend von Judys Tod gehabt hatte, war schnell verflogen. Seitdem war er an den Wochenenden nur noch selten zu Hause; er hielt es nicht einmal für nötig, eine Entschuldigung vorzubringen.

Hätte Derek mich doch nur für Samstagabend eingeladen, dachte sie beim Nachhausegehen. Dann müsste ich meinen Eltern nichts davon erzählen. An einem Werktag konnte sie nicht einfach spät nach Hause kommen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Also würde sie doch mit ihrer Mutter reden müssen.

Sie wusste, dass ihre Erlaubnis, samstagabends auszugehen, nicht allein auf dem Gewohnheitsrecht beruhte, das in die Zeit vor der Freilassung ihres Vaters zurückreichte. Auch wenn er ihr es gern verboten hätte, hatte er es sich bisher verkniffen, denn er wusste, dass Antoinettes Beitrag zur Haushaltskasse seinen Teil erheblich minderte. Wenn er zu viel Druck auf sie ausübte, lief er Gefahr, dass sie von zu Hause auszog, sodass sich sein Beitrag erhöhen würde.

Wie so oft wünschte sich Antoinette mal wieder, zu einer normalen Familie zu gehören. Sie sehnte sich nach Eltern, die das Beste für ihr Kind wollten. Stattdessen hatte sie einen Vater, der sie schikanierte, und eine Mutter, der nur daran gelegen war, ihren Frieden zu haben, auch auf Kosten ihrer Tochter.

Ich könnte mir eine Ausrede einfallen lassen, überlegte sie weiter. Zum Beispiel, dass ich mit einer Freundin ins Kino gehe … Nein, Ruth würde mir nicht glauben. Sie weiß, dass ich keine engen Freundinnen habe. Sie würde weiterbohren, mich dazu zwingen, einen Namen zu nennen, und darauf bestehen, dass ich das Mädchen in den Coffeeshop mitbringe, um es ihr vorzustellen.

Die Mädchenclique, der Antoinette angehörte, traf sich immer nur, um gemeinsam tanzen zu gehen. Es gehörte sich nicht, dass ein Mädchen allein ein Tanzlokal aufsuchte. Abgesehen von dieser Unternehmung hatten sie kaum Kontakt untereinander, und das wusste Ruth sehr wohl. Wie sollte sie da plötzlich mit einer Freundin daherkommen?

Mit ihren sechzehn Jahren ahnte Antoinette, dass Freundschaften riskant waren. Mögliche Freunde stellten Fragen, und sie wollte keine Fragen beantworten, weder zur Gegenwart noch zur Vergangenheit. Sie gestattete sich erst gar nicht, sich einsam zu fühlen oder sich nach einer gleichaltrigen Freundin zu sehnen. Sie erinnerte sich noch zu gut, wie die Mädchen aus ihrer Klasse ihr damals den Rücken gekehrt hatten, als ihre Schwangerschaft ans Licht kam.

Auch machte sich Antoinette keinerlei Illusionen darüber, dass die Mädchen, mit denen sie zum Tanzen ging, von der Bildfläche verschwinden würden, sobald sie einen festen Freund hatten. Sie fand sich nicht nur mit ihrem mangelnden Interesse an ihr ab, sondern war im Gegenteil erleichtert, dass sie ihr so wenig Neugierde entgegenbrachten.

Ich werde es ihr sagen, beschloss sie. Wir werden ja sehen, was passiert.

Am nächsten Tag traf sie ihre Mutter allein in der Küche an.

»Ich habe eine Einladung bekommen«, sagte Antoinette so beiläufig wie möglich. »Ein junger Mann, er heißt Derek, will mit mir am Donnerstag zum Abendessen gehen. Ich habe zugesagt. Ist das in Ordnung?«

Aufmerksam beobachtete sie das Wechselspiel der Gefühle auf dem Gesicht ihrer Mutter: Sorge und Angst spiegelten sich darauf, aber auch ihr Widerstreben, ihrer Tochter eine so einfache und normale Bitte abzuschlagen.

Wovor hat meine Mutter so Angst?, fragte sie sich. Gewiss, sie beide hatten Angst vor ihrem Vater, jede auf ihre Weise, doch Antoinette spürte instinktiv, dass bei Ruth noch ein anderer Aspekt mitschwang. Vielleicht waren es die gleichen Bedenken gegenüber einer Freundschaft oder Beziehung, die auch Antoinette hegte. Denn eine Beziehung würde unweigerlich Fragen nach sich ziehen, auf die Antoinette Antworten finden müsste. Vielleicht würde sie eines Tages die Wahrheit sagen, und das Kartengebäude, das Ruth behutsam aufgebaut hatte, würde in sich zusammenstürzen.

Antoinette beobachtete, wie ihre Mutter mit ihren Zweifeln rang, ehe sie schließlich einen Seufzer ausstieß. »Na gut, von mir aus. Ich kann sehen, dass du dich darauf freust, und da du schon zugesagt hast, kann ich dich wohl nicht davon abhalten.« Dann fügte sie hinzu: »Aber ich glaube, es wäre besser, wenn wir Papa sagen, du gehst mit einer Freundin ins Kino. Dieser Junge soll dich nach eurem Abendessen zum Coffeeshop begleiten, dann können wir gemeinsam heimfahren, da ich Abendschicht habe.«

»Ist gut, danke, Mami.« Wenn das der Preis für die Erlaubnis war, mit Derek auszugehen, war sie gern bereit, ihn zu bezahlen, auch wenn sie sich darauf gefreut hatte, von ihm in seinem Wagen nach Hause gebracht zu werden. Sie wusste, dass ihre Mutter nur den häuslichen Frieden wahren wollte. Wie so oft ging sie lieber den Weg des geringsten Widerstands und machte sich zu Antoinettes Komplizin, um der Auseinandersetzung mit ihrem dominanten Mann aus dem Weg zu gehen.

Die Frage, warum ihr Vater gegen eine Verabredung mit einem Jungen sein könnte, schob Antoinette lieber beiseite. Ebenso die, warum ihre Mutter vorgeschlagen hatte, es vor ihm zu verbergen. Tief drinnen kannte sie die Antwort auf beide Fragen. Noch war sie jedoch nicht in der Lage, sich ihr zu stellen, also verdrängte sie sie lieber.

Am Abend vor ihrer Verabredung inspizierte Antoinette ihren Schrank. Sie nahm ein Kleid nach dem anderen heraus, um es wieder zu verwerfen. Schließlich blieb ihr Blick an ihrem Lieblingskleid hängen, dem gelben, doch das kannte Derek bereits, also kam es nicht in Frage. Wie die meisten modebewussten Mädchen ihres Alters ging in Sachen Klamotten Quantität vor Qualität. Sie liebte es, sich immer wieder in neuen Sachen zu zeigen und zu shoppen. Es gab nichts Verführerisches, als zuzusehen, wie ein neues Teil von einer Verkäuferin in Seidenpapier eingeschlagen und anschließend in einer schicken Tüte mit dem Logo einer angesagten Boutique darauf verschwand. Da sie meinte, sich nicht in denselben Sachen präsentieren zu können, die sie bereits zum Tanzen angehabt hatte, beschloss sie kurzerhand, ihre Ersparnisse anzuzapfen.

Am nächsten Morgen verließ sie früh das Haus, um vor der Arbeit die Boutique zu besuchen, wo sie bereits ein passendes Outfit im Schaufenster erspäht hatte. Insgeheim hoffte sie, dass das zweiteilige Ensemble noch da war, und zwar, noch wichtiger, in ihrer Größe. Und sie hatte Glück, die Schaufensterpuppe war noch mit dem gleichen Modell dekoriert, und zu ihrer großen Erleichterung war es genau ihre Größe. Sie probierte es an und betrachtete sich im Spiegel. Es war perfekt für ihr Rendezvous: ein gerade geschnittener marineblauer Rock mit passendem Pulli mit aufgesetzten weißen Bündchen und weißem Matrosenkragen.

Vor ihrem geistigen Auge komplettierte sie das Bild mit ihren weißen Schuhen und der weißen Handtasche. Sie bezahlte ihren Einkauf und ging rasch noch zu Woolworths, um einen blassrosa Lippenstift zu kaufen, obwohl sie mindestens ein Dutzend in einem ähnlichen Farbton besaß. Zum krönenden Abschluss spendierte sie sich einen Flakon Blue Grass, ihr Lieblingsparfüm, und trank dann zufrieden einen Cappuccino in einem nahegelegenen Café.

Eingerahmt von ihren Einkaufstüten, saß sie da und überließ sich ihren Träumen, in denen sie in feiner Gesellschaft verkehrte. Sie wurde auf Partys eingeladen, wo sie, von Kopf bis Fuß todschick gekleidet, von allen bewundert wurde. Im Geiste sah sie sich, ein Champagnerglas in der Hand und von ihren Bewunderern umringt, witzige Anekdoten zum Besten geben. Die Frauen musterten sie neidisch und baten sie um Modetipps.

Als sie einen Blick auf ihre Uhr warf, kam sie abrupt auf den Boden der Tatsachen zurück. Es war höchste Zeit, zur Arbeit aufzubrechen. Während sie im Coffeeshop Tische abräumte, Besteck und Gläser abtrocknete und Gäste bediente, lächelte sie die ganze Zeit vor sich hin. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: den bevorstehenden Abend.

Um halb sechs hatte sie Feierabend, anschließend ging sie zum Friseur. Während sie frisiert wurde, schminkte sie sich vor dem Spiegel. Zurück im Coffeeshop, zog sie sich um und setzte sich dann mit einem Cappuccino an einen der Tische, um mit einem möglichst ungezwungenen Gesichtsausdruck auf Derek zu warten.

Als ihre Mutter eintraf, fragte sie: »Und wie sehe ich aus, Mami? Wie findest du mein neues Outfit? Glaubst du, es wird Derek gefallen?«

»Sehr hübsch, Liebes«, lautete Ruths einziger Kommentar, und damit musste sie sich begnügen.

Derek kam pünktlich auf die Minute, und Antoinette stellte ihn ihrer Mutter vor. Im Gegensatz zu den Kellnerinnen musste Ruth als Geschäftsführerin keine Uniform tragen, und Derek schien sich auf Anhieb mit ihr zu verstehen.

Als sie Dereks zufriedene Miene sah, war Antoinette erleichtert. Mehr noch, an diesem Abend war sie stolz auf ihre Mutter: Mit ihrem englischen Akzent und ihrer eleganten Erscheinung erweckte Ruth den Eindruck, aus der respektablen Mittelklasse zu stammen. Ganz wie normale Eltern, die sich Sorgen um ihre minderjährige Tochter machten, wollte sie den jungen Mann kennenlernen, mit dem sie ausging, und sicherstellen, dass er sie zum vereinbarten Zeitpunkt zurückbrachte.

Ruth schien zu wissen, was Antoinette von ihr erwartete. Instinktiv verwandelte sie sich in die freundliche, großzügige Dame, die ihre Tochter für die Dauer dieses Abends in die Obhut eines jungen Mannes gab. Diese Mutter erblickte Antoinette zum ersten Mal. Als sie sich auf den Weg machten, fühlte sie sich wie ein ganz normaler Teenager.

Das Restaurant war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Im Gegensatz zu den üblichen Backsteinmauern anderer Belfaster Restaurants hatte dieses einen fliederfarbenen Anstrich, und statt der gängigen Jagdmotive schmückten Porträts von weißgesichtigen Frauen mit knallroten Lippen und exquisiten Gewändern die Wände. Die Frauen auf den Bildern trugen das dicke schwarze Haar zu einem Knoten geschlungen, was ihre schlanken Hälse betonte, und in ihren zarten, schmalen Händen hielten sie anmutig farbenfrohe Fächer. Die exotische Einrichtung und die fremdartige Musik im Hintergrund zogen Antoinette in ihren Bann. Sie hatte das Gefühl, einen flüchtigen Blick in eine völlig andere Kultur zu erhaschen, die sehr viel älter und geheimnisvoller war als ihre.

»Es ist wunderschön hier«, sagte sie, während sie an ihren Tisch gebracht wurden.

»Das freut mich«, erwiderte Derek. »Magst du Wein?«

Sie bejahte, und als die Kellnerin ihr die Speisekarte reichte, war sie ganz verwirrt von dem Angebot an Speisen, eine so fremd wie die andere. Als Derek ihre Not bemerkte, schlug er vor, für sie zu bestellen. Kurz darauf wurden zwei kleine Porzellanschalen mit Hühnersuppe und Zuckermais serviert.

Vorsichtig führte sie den Porzellanlöffel zum Mund und probierte. Es schmeckte köstlich. Bin gespannt auf die Hauptspeise, dachte sie.

Als Nächstes kam Chopsuey; um den irischen Geschmacksnerven entgegenzukommen, war es mit einem Spiegelei überzogen. Umständlich schaufelte sie mit den Stäbchen etwas von dem Essen in den Mund und – strahlte. Einen solchen Wohlgeschmack hatte sie nicht erwartet.

»Schmeckt es dir?« Derek sah sie lächelnd an.

Sie nickte und fragte sich, was er wohl denken würde, wenn er erfuhr, dass dies nicht nur ihr erstes chinesisches Essen, sondern ihre erste Verabredung überhaupt war. Doch ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, sie sollte es besser für sich behalten. Vielleicht würde sie es ihm sagen, wenn sie sich näher kannten. Ihre Unterhaltung geriet noch ein wenig steif: ganz wie die von zwei Teenagern, die versuchten, Erwachsene zu spielen. Oder das, was sie für erwachsen hielten.

Nachdem sie einen ziemlich klebrigen Likör und Kaffee getrunken hatten, war es auch schon Zeit, zu gehen. Derek, dem sehr daran gelegen war, sie rechtzeitig zurückzubringen, half ihr in den Mantel. Antoinette wusste wiederum, dass er sie wegen dieser strengen Auflage umso mehr respektierte. Als er sie fragte, ob sie am Samstag mit ihm ausgehen wolle, spürte sie, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, so sehr freute sie sich über seine Einladung. Er schlug ihr vor, ins Kino zu gehen, und sie stimmte spontan zu.

Sie kamen rechtzeitig im Coffeeshop an.

»Hattest du einen schönen Abend, Liebes?«, fragte Ruth.

»Oh ja, es war wunderbar«, antwortete sie glücklich. »Wir haben herrlich gegessen und …«

Sie konnte es kaum erwarten, ihrer Mutter jede Einzelheit zu schildern, doch diese unterbrach sie. »Gut. Aber du weißt, es ist besser, wenn du deinem Vater nicht erzählst, wo du warst. Das würde nur Probleme geben. Du solltest dich umziehen, bevor wir nach Hause fahren. Du verstehst das doch, Antoinette? Wir sollten deinen Papa nicht unnötig aufregen.«

Während sie ihre Mutter ansah, verflog ihre Freude schlagartig. Ruth wandte rasch ihren Blick ab, und Antoinette spürte, dass sie innerlich mit sich rang, ob sie ihrer Tochter erklären sollte, warum ihr Mann etwas gegen eine Verabredung seiner Tochter haben könnte. Doch Antoinette beschloss, sie nicht dazu zu ermuntern. Nichts sollte die Erinnerung an diesen schönen Abend verderben.