Am Abend, als Antoinette abreiste, kam Joe nicht nach Hause.
Sie wusste, dass er absichtlich seine Heimkehr hinauszögerte. Ihre Mutter tat so, als wäre es ein ganz normaler Tag, als würde ihre Tochter einfach nur in die Ferien fahren. Antoinette versuchte, sich das ebenfalls vorzumachen. Schließlich fuhr sie tatsächlich in ein Feriendorf, zwar zum Arbeiten, aber bestimmt würde sie auch ein bisschen Spaß haben.
Als ihr kleiner Koffer gepackt und sie reisebereit war, drehte sich Antoinette zu Ruth um. Sie kämpfte gegen ihr Bedürfnis an, sich in ihre Arme zu werfen, um sich wenigstens dieses eine Mal von ihr unterstützt zu fühlen. Aber sie wusste, dass jegliche Zuwendung seitens Ruth reine Schauspielerei gewesen wäre. Also hielt sie ihr nur die Wange hin, um einen kühlen Kuss entgegenzunehmen.
»Auf Wiedersehen, Liebes. Vergiss nicht, eine Postkarte zu schreiben, ja?«
»Nein, natürlich nicht, Mami«, sagte sie, unfähig, den tief in ihr verwurzelten Gehorsam abzulegen. Sie nahm den Koffer, trat über die Türschwelle nach draußen und folgte dem Fußweg in die Freiheit.
Es war nicht das erste Mal, dass sie von Nordirland nach England hinüberfuhr. In England geboren, war sie mit fünfeinhalb Jahren mit ihren Eltern in die Heimat ihres Vaters umgezogen.
Als der Bus im Hafen ankam, erinnerte sie sich beim Anblick des sanft auf den Wellen schaukelnden Schiffs an die Reise, die sie und ihre Mutter vor über zehn Jahren gemacht hatten. Auch Judy war damals schon dabei. Sie waren mit dem Zug von Kent nach Liverpool gereist, von wo aus sie die Fähre nach Belfast genommen hatten. Die Überfahrt dauerte zwölf Stunden. Ihr Vater war etwas früher nach Irland gereist, um ein Haus und eine Arbeitsstelle zu suchen. Er holte sie im Hafen ab.
Antoinette rief sich das aufregende Gefühl ins Gedächtnis, als sie, noch viel zu klein, um über die Reling zu blicken, von ihrer Mutter hochgehoben wurde. In den frühen Morgenstunden standen sie an Deck, als der Belfaster Hafen in der Ferne in Sicht kam. Es war ein wunderbarer Anblick, und mit kindlicher Vorfreude hatte sie ihrem neuen Leben entgegengesehen.
Es schnürte ihr die Kehle zu, wenn sie sich ihr jüngeres Ich vergegenwärtigte, das in der Menge der Wartenden Ausschau nach seinem Vater gehalten hatte. Damals war er in ihren Augen ein großer, gut aussehender Mann gewesen, der ihre Mutter zum Lachen brachte.
Zu Ruths Entzücken hatte Joe einen Wagen gemietet, um seine Familie im Hafen abzuholen und ihr den letzten Teil der Reise so bequem wie möglich zu machen. In eine warme karierte Decke gehüllt, saß das kleine Mädchen auf der Rückbank und reckte den Hals, um ja nichts zu verpassen von dem neuen Land, in dem sie von nun an leben würden. Aufgeregt zeigte sie Judy, die neben ihr saß, die Landschaft, die draußen vorbeizog. Wehmütig erinnerte sich Antoinette an den begeisterten Empfang, den die große irische Familie ihres Vaters ihnen bereitete. Alle warteten in dem winzigen Reihenhaus ihrer Großeltern und konnten es nicht erwarten, das jüngste Mitglied der Familie zu begrüßen und es nach Strich und Faden zu verwöhnen.
Als jüngstes Enkelkind lernte sie bald ihre mollige, weißhaarige irische Großmutter lieben, ebenso wie ihren schweigsamen Großvater, ihre Tanten, Onkel und zahlreichen Cousins und Cousinen.
Als Antoinette elf war, zogen ihre Eltern mit ihr nach Südengland zurück, in der Hoffnung, dort das Glück zu finden, das ihnen bislang versagt geblieben war. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon nicht mehr das glückliche Kind, das auf der Fähre nach Irland gereist war. An seine Stelle war ein blasses, deprimiertes und einsames Mädchen getreten, das seit fünf Jahren von seinem Vater missbraucht wurde. In England war Antoinette unglücklich, und als man ihr nur zwei Jahre später sagte, sie würden nach Irland zurückkehren, fiel ihr ein Stein vom Herzen.
Mit ihren dreizehn Jahren war sie nur noch ein blasser Schatten der kleinen unternehmungslustigen Antoinette, als die sie beim ersten Mal so hoffnungsvoll in die irische Heimat ihres Vaters gereist war. Zwar freute sie sich darauf, die Schule zu beenden, und hoffte, später zur Universität zu gehen, doch ihre Begeisterung war längst von anderen Gefühlen überlagert worden. Ihre Welt war zu einem grauen Ort geworden, und selbst die Aussicht, ihre große irische Verwandtschaft wiederzusehen, vermochte die dunklen Wolken der Depression, die über ihr schwebten, nicht zu vertreiben. Sie fühlte sich in einem Leben gefangen, aus dem es keinen Ausweg gab, und nur Judy spendete ihr Trost.
Antoinette schob die Erinnerungen weg, die der Anblick der Fähre heraufbeschworen hatte. Sie wollte ihre Eltern vergessen und die Tatsache, dass sie sie vor die Tür gesetzt hatten. Und sie wollte vorerst nicht daran denken, dass sie, abgesehen von den kommenden Wochen in England, bald kein Dach mehr über dem Kopf haben würde.
Ich denk jetzt nicht daran. Das kann bis zu meiner Rückreise warten, sagte sie sich immer wieder. Jetzt konzentriere ich mich auf das vor mir liegende Abenteuer. Ich werde den ganzen Sommer über arbeiten, Geld verdienen und, vor allem, Leute kennenlernen, die nichts über meine Herkunft wissen.
Während sie die Gangway emporstieg und ihre Kabine suchte, zwang sie sich zu einem fröhlichen Lächeln. Sie wollte erst einmal allein sein. Sie war entschlossen, Antoinette an der irischen Küste zurückzulassen und bei ihrer Heimkehr als Toni von Bord zu gehen.
Toni würde nach dem neuesten Schrei gekleidet sein und das Haar modisch zurückgekämmt tragen. Dazu ein extrem blasses Make-up und dick aufgetragene Wimperntusche. Toni würde ein Mädchen aus glücklichem Elternhaus sein, nach den Ferien die Sekretärinnenschule besuchen und neue Freunde gewinnen.
Sobald sie in der Kabine war, begann sie ihre Verwandlung. Sie zog die Sachen – den grauen Rock und das verhasste blaue Twinset – aus, in denen sie von zu Hause weggegangen war, und verstaute sie ganz unten in ihrem Koffer. Stattdessen schlüpfte sie in ihre neue hautenge Jeans, ein weißes T-Shirt und ein Paar Pumps aus weichem Leder. Sie stellte sich auf den einzigen Stuhl der Kabine und bewunderte sich in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken, ehe sie wieder hinunterhüpfte, um ihren Schminkbeutel zur Hand zu nehmen. Sie brauchte nur wenige Minuten, um ihr trauriges Gesicht in das eines hoffnungsvollen Teenagers zu verwandeln. Dann toupierte sie rasch das Haar und besprühte es großzügig mit Haarspray.
Wie eine gehäutete Schlange hatte sie ihre frühere Identität abgestreift. Wieder betrachtete sie sich im Spiegel und erblickte ein zuversichtliches Mädchen, das sich auf die Sommermonate freute. Plötzlich war sie optimistisch und voller Hoffnung.
In ihrer neuen Gestalt verließ sie die Kabine und ging in die Bar. Sehnsüchtig glitt ihr Blick über die Spirituosen und blieb an der Wodkaflasche hängen. Obwohl sie wusste, dass sie leicht als achtzehn durchging, traute sie sich nicht, einen Wodka zu bestellen, aus Angst, ihr wahres Alter könnte entdeckt werden. Stattdessen bestellte sie einen Kaffee. Sie ging damit zu einem kleinen Tisch, setzte sich und beobachtete die anderen Passagiere, die grüppchenweise zusammensaßen. Dabei fragte sie sich, ob welche darunter waren, die dasselbe Reiseziel hatten wie sie.
Mit einem lauten Rattern wurde die Gangway eingezogen, kurz darauf erbebte das Schiff und setzte sich in Bewegung.
Antoinette blickte zu einem Bullauge hinaus und verfolgte, wie Belfast immer weiter in die Ferne rückte, während das riesige Schiff den Hafen verließ und auf das offene Meer hinausglitt. Erst als nur noch der silbrige Mond sein blass schimmerndes Licht auf die Irische See warf, wandte sie den Blick ab. Dann ging sie in ihre Kabine zurück und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen stand sie auf und schlüpfte in das Gewand ihrer neuen Identität. Dann nahm sie ihren Koffer und begab sich an Deck, um zuzusehen, wie sie in den Liverpooler Hafen einliefen.