Siebzehn

Sie hatte sich genau aufgeschrieben, wie sie in das Feriendorf des Reiseunternehmens Butlins gelangte. Zuerst musste sie mit dem Zug nach Nordwales fahren. Dort würden Busse warten, um sie und die anderen Ferienjobber in das Feriendorf zu bringen.

In Liverpool fand sie auf Anhieb den Bahnhof, auch wenn ihr die Stadt im Vergleich zu Belfast riesig und beängstigend vorkam. Im Zug setzte sie sich auf einen Fensterplatz. Um den Job zu bekommen, hatte sie sich für achtzehn ausgegeben. Doch mit einem prüfenden Blick in den Spiegel und nach einer letzten Korrektur ihres Make-ups überzeugte sie sich davon, dass niemand ihr wahres Alter erraten würde. Während der Zug den Bahnhof verließ und die großstädtische Landschaft im Fenster an ihr vorüberzog, überließ sie sich ihren Tagträumen. Im Nullkommanichts erreichte sie ihren Zielbahnhof, wo sie rasch den richtigen Bus ausmachte, der in der Nähe des Bahnhofs stand. Einige junge Leute saßen bereits darin.

Antoinette suchte sich einen Platz und machte es sich bequem, während die Mädchen um sie herum fröhlich schwatzten. Es fühlte sich eher an, als würde sie in die Ferien fahren als zum Arbeiten. Vielleicht wird es ja nett, dachte sie hoffnungsvoll.

Der Bus passierte das Eingangstor, und sie hatte das Gefühl, als wäre das Feriendorf fast so groß wie Lisburn. Mit den vielen Straßen, die von Pubs, Restaurants und Läden gesäumt wurden, ähnelte es tatsächlich einer Kleinstadt. Hinter der Geschäfts- und Ladenzeile befanden sich Reihen mit einstöckigen Holzchalets sowie größere Gebäude, in denen die Speisesäle untergebracht waren. Wohin sie auch blickte, sah sie Urlauber in legerer Freizeitkleidung umherspazieren.

Mit Koffern und Taschen beladen stiegen die Ferienjobber aus und folgten einem der blau uniformierten Angestellten, der sie zu ihren Unterkünften führte. Der junge Mann erklärte ihr auf dem Weg zu ihrem Zimmer, dass man an den blauen Jacketts, von denen er ebenfalls eines trug, die so genannten Supervisoren erkennen konnte. Wann immer sie ein Problem habe, sollte sie sich an einen von ihnen wenden.

Antoinette teilte sich mit drei weiteren Mädchen ein Zimmer, und da sie als Letzte eintraf, musste sie mit der einzigen freien Schlafkoje direkt unter der Decke und einem schmalen Spind vorliebnehmen. Für die nächsten drei Monate würde dies ihr Zuhause sein. Sie blickte sich flüchtig um und fragte sich, wie vier Menschen auf so kleinem Raum leben konnten. Die vier Schlafkojen mit den dünnen Decken füllten beinahe das ganze Zimmer aus, sodass für den kleinen Tisch und die vier Stühle kaum mehr Platz war. Auf einem schmalen Geschirrschrank standen ein Wasserkessel, eine Teekanne, ein Milchkrug und Tassen. Aus den benachbarten Zimmern hörte man Stimmen und Musik durch die dünnen Sperrholzplatten der Wände.

Die drei Mädchen, mit denen sie sich das Zimmer teilte, sahen ganz und gar nicht aus wie die von ihrer Mutter ständig zitierten »anständigen Mädchen«. In ihren hautengen Klamotten, stark geschminkt und eine Zigarette im Mundwinkel, saßen sie am Tisch und lackierten sich die Nägel. Bei ihrem Eintreten blickten sie ohne großes Interesse hoch und wiesen auf den Spind, wo sie ihre Sachen verstauen konnte.

Nach einer Weile erhob sich eines der Mädchen und brühte Tee auf. »Magst du auch eine Tasse?«, fragte sie Antoinette und stellte die Kanne auf den Tisch.

»Ja, gern«, sagte Antoinette höflich.

»Dann hol dir eine Tasse«, erwiderte das Mädchen mit einem Nicken zum Geschirrschrank.

Antoinette tat wie ihr geheißen und setzte sich dann zu den anderen Mädchen an den Tisch.

»Wie heißt du?«, fragte eine.

»Toni.«

Die anderen kamen aus Nordengland, wie sie ihr erzählten, und waren alte Hasen bei Butlins – dies war schon ihre vierte Saison.

Antoinette sagte, sie sei zum ersten Mal hier. »Ich bin ziemlich aufgeregt«, fügte sie hinzu.

»Keine Angst«, antwortete die Jüngste des Trios, eine kleine quirlige Brünette. »Wir zeigen dir schon, wo’s langgeht. Jedenfalls wird’s dir nicht langweilig, es gibt jede Menge zu tun.«

»Und jede Menge Männer, mit denen wir es zu tun haben werden!«, sagte eine andere, eine hübsche Wasserstoffblondine, lachend.

Und schon begannen sie ausgiebig von ihren Abenteuern zu erzählen. Antoinette bemühte sich, eine ungezwungene Miene zur Schau zu tragen, während sie ihnen zuhörte. Einerseits wollte sie gern zu diesen Mädchen dazugehören, die so ganz anders waren als die Mädchen aus Irland, aber andererseits stieß sie die unbekümmerte Art, wie sie über Männer sprachen, ab.

Seit ihre Beziehung mit Derek in die Brüche gegangen war, spürte sie keinerlei Verlangen, einen anderen Mann kennenzulernen. Doch während sie den anderen Frauen zuhörte, wurde ihr allmählich klar, dass hier ganz andere Sitten herrschten. In Irland gab es einen strikten Verhaltenskodex zwischen den Geschlechtern, und die Jugendlichen hatten nicht ohne Weiteres Sex miteinander. Ganz anders hier. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass die Mädchen leichthin über Kondome redeten, als sei es das Normalste auf der Welt. Allein bei der Erwähnung des Wortes schauderte sie und spürte, wie das kaum erwachte Selbstvertrauen schon wieder zu schwinden begann.

Ihre neuen Zimmergenossinnen informierten sie, dass man im Feriendorf alle möglichen Arten von Männern antreffe. Die Taschen voller Geld, seien sie auf Vergnügen aus. Letztes Jahr hätten sich alle drei gleich zu Beginn der Saison einen Freund geangelt, dem im Laufe der Wochen weitere folgten, und dieses Jahr würden sie es genauso halten. Wann immer die zwei Wochen um waren, die normalerweise ein Ferienaufenthalt bei Butlins dauerte, gab es einen tränenreichen Abschied, nicht ohne einander zu versprechen, sich zu schreiben. Doch kaum traf der nächste Bus mit abenteuerlustigen jungen Männern ein, waren alle guten Vorsätze vergessen.

»Aber wollt ihr denn keinen festen Freund?«, fragte Antoinette und dachte an die Mädchen in Irland, die nichts anderes im Sinn hatten. Kaum war die Frage über ihre Lippen gekommen, erntete sie verdutzte Blicke aus drei Augenpaaren, und ihr wurde klar, dass sie sich als das naive Mädchen entlarvt hatte, das sie war.

»Warum soll man sich mit einem begnügen?«, rief eine aus. »Vor allem wenn alle vierzehn Tage eine neue Busladung mit Jungs in Spendierhosen angekarrt wird.«

Die Mädchen schütteten sich aus vor Lachen, während Antoinette spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Das ungute Gefühl beschlich sie, dass ihr Sommer doch nicht so angenehm werden würde wie erhofft.

Als die hübsche Brünette ihre Verlegenheit bemerkte, sagte sie: »Bist du etwa noch Jungfrau?«

Antoinette war so schockiert, dass sie beinahe laut aufgekeucht hätte. Nie im Leben hätte in Irland ein anständiges junges Mädchen eine solche Frage gestellt, geschweige denn darauf geantwortet! Verzweifelt überlegte sie, was sie sagen sollte. Verneinte sie es, würde sie sich mit ihnen gemeinmachen, und sie würden erwarten, dass sie es ihnen in puncto Männern gleichtat. Bejahte sie, wäre sie damit sofort zur Außenseiterin abgestempelt, etwas, was sie auf keinen Fall wollte.

Ihre Zimmergenossinnen indes erbarmten sich ihrer und bohrten nicht weiter nach. Angesichts ihrer Verwirrung und ihres offensichtlichen Ringens nach einer Antwort dachten sie wohl, dass sie schon mit einem Jungen geschlafen hatte, es aber nicht zugeben wollte. In ihren Augen war es beschämender, noch unschuldig zu sein, als bereits mit mehreren Jungen geschlafen zu haben.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte eine und sah sie eindringlich an.

Einen Moment lang überlegte Antoinette, ob sie lügen und sich für achtzehn ausgeben sollte, beschloss jedoch, dass sie ihr nicht glauben würden. »Ich bin siebzehn.«

Die Mädchen sahen einander an, dann Antoinette.

»Du weißt schon, dass du ein Risiko eingehst, nicht wahr?«, fragte die Brünette.

»Ja. Ich habe ein falsches Alter angegeben, weil ich unbedingt diesen Job bekommen wollte. Aber ihr sagt es doch niemandem, oder?«

»Wegen uns brauchst du dir keine Sorgen zu machen, von uns erfährt niemand ein Sterbenswort.«

»Versprochen?«

»Aber sicher. Uns ist es schnuppe, wie alt du bist«, sagte die Brünette, und die anderen nickten.

»Wenn du noch so jung bist, solltest du ohnehin nichts überstürzen!«, sagte die Blonde gutmütig.

Als die Mädchen fragten, warum sie hier sei, ließ sich Antoinette rasch eine Geschichte einfallen. Ihr Vater habe ihre Mutter verlassen, weswegen nicht genügend Geld für ihre Ausbildung vorhanden sei. Sie sei zum Arbeiten gekommen, um so viel wie möglich zu sparen. Sofort wusste sie, dass sie sich des Mitgefühls der älteren Mädchen sicher sein konnte. Das seltsame irische Mädchen mit dem vornehmen Akzent verwandelte sich vor ihren Augen in ein unschuldiges Ding, das ihres Schutzes bedurfte.

»Die Männer sind alle Scheißkerle!«, sagte eine, und die anderen pflichteten ihr eifrig bei.

»Wenn einer dich belästigt, kommst du zu uns!«, sagte die Blonde, und ihre beiden Freundinnen nickten abermals.

Antoinette, der so viel unerwartete Freundlichkeit guttat, fühlte sich mit einem Mal sicher und geborgen. Später nahmen die Mädchen sie mit zum Essen und zeigten ihr, wo sie sich für eine zusätzliche Abendschicht bewerben konnte.

»Aber an deiner Stelle würde ich bis morgen warten«, sagte eines der Mädchen.

»Ja, bis morgen Abend, dann weißt du, wie du dich nach einem ganzen Arbeitstag fühlst.«

»Und ein bisschen amüsieren solltest du dich ja auch«, meinte die Dritte im Bunde, während sie ihre Tour durch die Pubs begannen.

Die Pubs waren größer als die in Irland und vollgestopft mit den unterschiedlichsten Menschen. An manchen Tischen sah man ganze Familien mit drei Generationen, an anderen wiederum Cliquen junger Urlauber. Zuerst besuchten sie eine hell erleuchtete Bar mit einer großen Bühne, wo eine junge Frau einen Song von Connie Francis zum Besten gab. Die jungen Barkeeper kamen gar nicht damit nach, Fassbier auszuschenken und Cocktails zu mixen. Die Kellner bahnten sich einen Weg mit vollbeladenen Tabletts durch die Menge. Fröhliche Kinder mit Chipstüten in den Händen spielten Fangen zwischen den Beinen von Erwachsenen, während junge Mädchen kokett die langen Haare zurückwarfen und den jungen Männern schmachtende Blicke zuwarfen.

Antoinette schätzte sich glücklich, dass sie ihre frischgebackenen Zimmergenossinnen unter ihre Fittiche genommen hatten und ihr alles Wissenswerte über Butlins erklärten. Später am Abend kehrten sie beschwingt in ihr Chalet zurück, wo Antoinette zufrieden in ihrer Koje schlief, bis um halb sieben am nächsten Morgen ihr kleiner Wecker schrillte.

Im Gegensatz zu den anderen Mädchen fiel es Antoinette nicht schwer, früh aufzustehen. Sie kochte für alle Tee, was die anderen drei sehr zu schätzen wussten. Um Viertel nach sieben nahm das Trio Antoinette mit zu den großen Speisesälen, wo Hunderte von Urlaubern ihre drei Mahlzeiten in je zwei Schichten einnahmen. Sie brachten Antoinette zu einem der Supervisoren und eilten dann weiter zu ihrem jeweiligen Einsatzort. Der Supervisor reichte ihr ein kariertes Kleid, die Kellnerinnenuniform, und wies sie in ihre Aufgabe ein. Insgeheim war sie dankbar, durch ihre Arbeit im Coffeeshop auf den anstrengenden Servierjob vorbereitet zu sein. Sie wusste, was es bedeutete, viele Stunden am Stück zu stehen, und hatte vorsorglich bequeme flache Schuhe und Baumwollsocken angezogen. Sie bedachte einige der anderen Mädchen, die hübsche Pumps und Nylonstrümpfe anhatten, mit einem mitleidigen Blick. Bestimmt würden sie bis zum Abend Blasen an den Fersen bekommen.

Jede Kellnerin war für zehn Tische und eine Arbeitseinheit verantwortlich, wo das Besteck gespült wurde. Innerhalb von zwei Stunden mussten sie achtzig Menschen bedienen, anschließend die Tische abräumen und das Besteck waschen, ehe das Personal selbst seine Mahlzeit einnehmen durfte. Kaum hatten sie den letzten Bissen hinuntergeschlungen, mussten sie auch schon wieder aufspringen und die Tische für die nächste »Essenschicht« decken.

Damit es schneller ging, benutzten die Kellnerinnen Tellergestelle, mit denen sie durch die Gänge hetzten. Sie schoben die Teller lieblos vor die Gäste hin, um rasch wieder zu den Wärmewagen zurückzueilen und neue Teller aufzuladen. Und bei all dem Stress galt es, die ganze Zeit ein Lächeln aufzusetzen, denn die Mädchen fanden bald heraus, je breiter das Lächeln, umso großzügiger fiel das Trinkgeld aus, das die Gäste ihnen am Ende ihres Urlaubs gaben.

Das Abendessen war am aufwendigsten, denn es bestand aus drei Gängen. Das bedeutete, dass sie insgesamt 240 Teller servieren mussten. Bei alldem hatten es die Kellnerinnen abends besonders eilig, mit der Arbeit fertig zu werden, um rasch in ihre Chalets zurückzukehren und sich fürs Ausgehen fertig zu machen. Animiert von den Neonlichtern der zahlreichen Bars, brachte sich das junge Personal bei Einbruch der Dunkelheit in Ferienstimmung, genau wie die Urlauber des Feriendorfs selbst.

Antoinette hatte beschlossen, den Rat ihrer neuen Freundinnen zu befolgen und nur an fünf Abenden in der Woche zu arbeiten, um wenigstens zwei freie Abende für ihr eigenes Vergnügen zu haben.

Wie versprochen, nahmen ihre älteren Zimmergenossinnen sie unter ihre Fittiche, wenn sie mit ihnen ausging, und sie fühlte sich ein bisschen wie das Nesthäkchen.

Antoinette hatte sich um einen Abendjob in ebenjener Bar beworben, die sie und ihre neuen Freundinnen am Abend ihrer Ankunft als Erstes besucht hatten. Dort, so erklärten ihr die Mädchen, verkehrten vorwiegend Familien, und die seien in Sachen Trinkgeld spendabler als Jugendliche, die im Urlaub schnell knapp bei Kasse seien. Wenn ihr das Trinkgeld der Gäste während ihres Aufenthalts bei Butlins fürs Leben reichte und sie ihren ganzen Lohn sparen könnte, so überschlug Antoinette, würde sie am Ende des Sommers genug Geld zusammenhaben, um ein möbliertes Zimmer zu mieten.

Bald wurde das Leben im Feriendorf zur Routine. Tagsüber arbeitete sie als Kellnerin in einem der Speisesäle, ein wahrer Knochenjob. Dann zog sie sich rasch um und eilte zur Bar, um dort ihre Nachtschicht anzutreten. Die Bands, die dort auftraten, brachten mit ihrem Sound die Wände zum Wackeln, denn im Laufe des Abends drehten sie die Lautsprecher immer weiter auf, um das Geschnatter und Gelächter der Nachtschwärmer zu übertönen. Egal, wie alt die Gäste waren, eines hatten sie gemeinsam: Sie wollten sich amüsieren. Es herrschte eine ausgelassene Ferienstimmung, in der kein Platz für Traurigkeit war. Auch Antoinette wurde unweigerlich von der allgemeinen Euphorie angesteckt, und ihre Niedergeschlagenheit wegen der zerbrochenen Beziehung mit Derek verflog. Die Gedanken an ihre Eltern und die Zukunft, die sie in ihrer Heimat erwartete, drängte sie in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Das kann bis nach den Ferien warten, sagte sie sich.

Es gefiel ihr bei Butlins, sie mochte ihre neuen Kameradinnen, sie hatte einen Platz zum Schlafen, die viele Arbeit lenkte sie ab, und bei alldem hatte sie auch noch ihren Spaß. Also beschloss sie, das Beste daraus zu machen.

An ihren beiden freien Abenden stürzte sie sich ins Vergnügen. Morgens in den Speisesälen wurden die Feriengäste von den Lautsprechern mit den Worten »Guten Morgen, Urlauber!« begrüßt. Dann verkündete ein Animateur im roten Mantel das Programm mit allen geplanten Aktivitäten des Tages. Ob alt oder jung, für jeden war etwas dabei, und Antoinette und ihre Freundinnen hörten aufmerksam zu, was am Abend geboten wurde.

Am liebsten mochte Antoinette die »Talentabende«, wenn die Bühne den Laiendarstellern gehörte, die ihre Freizeitkleidung gegen schicke Abendklamotten eintauschten und ans Mikrofon traten, in der Hoffnung, womöglich entdeckt zu werden. Bei solchen Gelegenheiten verwandelte sich eine der Kellnerinnen, ein schüchternes Mädchen, das eine Brille mit Gläsern so dick wie Flaschenglas trug, in eine glamouröse Clubsängerin. Statt ihrer karierten Kellnerinnenuniform trug sie ein glitzerndes Kleid und statt Söckchen und Turnschuhen hochhackige Pumps. Ihre Brille ließ sie hinter der Bühne. Wenn sie dann »Summertime« anstimmte, wurde es still im Pub, und alle bekamen eine Gänsehaut, wenn ihre silberne Stimme den Raum erfüllte. Das Mikrofon in der einen Hand, die andere lose an der Seite herabfallend, blickte sie kurzsichtig ins Publikum, das sie nur als vage Schemen wahrnahm, während sie sich ganz den Klängen des berühmten Gershwin-Songs überließ. Wenn die letzten Takte verklangen, nahm sie mit einem beinahe erstaunten Lächeln den donnernden Applaus entgegen, als sei sie selbst überrascht von der hypnotischen Kraft ihrer Stimme. Dann huschte sie von der Bühne, um am nächsten Morgen wieder als die zurückhaltende, schüchterne Kellnerin im Speisesaal zu erscheinen.

An anderen freien Abenden besuchte Antoinette mit dem Trio die Aufführungen der angereisten Entertainer – der Sänger, Tänzer, Comedians und Zauberkünstler. Sie alle hofften, eines Tages von einem Talentscout entdeckt zu werden, der sie berühmt machen würde. Einige wenige sollten tatsächlich zu Ruhm gelangen, doch die meisten blieben namenlose Künstler, die sich mit drittklassigen Engagements über Wasser hielten. Am meisten hatten es Antoinette die Zauberkünstler angetan. Es faszinierte sie, wie sie Tauben unter Taschentüchern hervorzauberten oder die Illusion erweckten, sie würden ihre knapp gewandete Assistentin in zwei Hälften sägen, nur um sie hinterher heil und mit einem strahlenden Lächeln wieder aus der großen Kiste auftauchen zu lassen.

Zu ihrer großen Freude stellte sie nach ein paar Tagen fest, dass die Urlauber noch spendabler waren als erhofft. Jeden Abend zählte sie die Silbermünzen, die sie auf den Tischen hinterließen. Das bedeutete, dass sie nicht nur ihren ganzen Lohn, sondern sogar einen Teil des Trinkgeldes würde sparen können. Und um ihr Glück perfekt zu machen, erfuhr sie obendrein, dass das Management von Butlins beschlossen hatte, jedem, der bis zum Ende der Saison blieb, einen Bonus von zehn Shilling pro Woche zu bezahlen. Sie würde also nicht nur genug Geld für ein möbliertes Zimmer haben, sondern auch, um sich für die Sekretärinnenschule neu einzukleiden.

Da sie quasi Tag und Nacht arbeitete, kam sie gar nicht dazu, Heimweh zu haben. Ihrer Mutter schickte sie mehrmals eine Ansichtskarte, um ihr mitzuteilen, dass es ihr gut gehe, erhielt im Gegenzug jedoch nur einen kurzen Antwortbrief.

Eine Woche vor ihrer Abreise begleiteten ihre Freundinnen sie in die Stadt, wo sie sich neu einkleiden wollte. Noch wusste sie nicht, ob sie überhaupt einen Platz auf der Schule bekäme, die im Herbst begann. Vor ihrer Abfahrt nach Wales hatte sie zwar ihre Bewerbung eingereicht, aber sie würde erst bei ihrer Rückkehr erfahren, ob sie erfolgreich war.

Antoinette hatte sich vorgenommen, ihren Typ zu verändern, sie wollte damenhafter aussehen. So wie Charlotte an jenem verhängnisvollen Abend, das war der Stil, mit dem sie liebäugelte. Daher kaufte sie schlichte, aber elegante Röcke und Pullover. Wie drei Glucken wachte das Trio über sie und brachte sein Missfallen angesichts ihrer Wahl zum Ausdruck. Sie fanden die Teile viel zu bieder und fad und bevorzugten eindeutig eine kessere Mode. Lächelnd setzte sich Antoinette über ihre Ratschläge hinweg und bezahlte ihre Einkäufe. Auch wenn ihre Freundinnen die Nase rümpften, freute sie sich über die neu erstandenen Sachen und lud sie in das Café gegenüber zu Tee und Scones ein.

Der letzte Tag bei Butlins war gekommen. Antoinette wunderte sich darüber, wie schwer ihr der Abschied fiel. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie glücklich sie hier gewesen war. Bei all der Schufterei hatte sie Spaß gehabt und neue Freunde gewonnen. Weil sie die ganze Zeit zu tun gehabt hatte, war die Zeit im Nu vergangen, und sie konnte kaum glauben, dass die drei Monate herum waren. Plötzlich herrschte um sie herum eine nervöse Betriebsamkeit, alle packten ihre Koffer und machten sich bereit, in ihr normales Leben zurückzukehren.

»Sehen wir dich nächstes Jahr wieder?«, fragte eine ihrer Zimmerkameradinnen.

»Das hoffe ich«, entgegnete Antoinette.

»Dann bist du ja auch volljährig«, sagte eine andere schelmisch. »Und wir müssen nicht mehr all die Kerle verscheuchen, die dich umschwärmen.«

Antoinette lachte. Sie hatte die Rolle des Nesthäkchens sehr genossen und sich unter dem Schutz der älteren Mädchen wohl gefühlt. Ehe sie alle zu ihren Bussen strebten, die sie in verschiedene Richtungen bringen würden, umarmten sie sich und gelobten, nächstes Jahr wiederzukommen.

Als ihr Bus abfuhr, winkte Antoinette ihren Freundinnen, bis die drei nur noch Punkte waren, erst dann ließ sie sich auf den Sitz zurücksinken. Sie wusste nicht, was das nächste Jahr für sie bereithielt, und beim Gedanken an ihre Heimkehr überkam sie große Nervosität. Sobald sie in Belfast eintraf, würde sie ihr neues, unabhängiges Leben in die Hand nehmen müssen. Die Aussicht erfüllte sie mit Angst.

Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, nächstes Jahr wieder im Ferienlager zu arbeiten. Falls es möglich wäre, und sie sah keinen Grund, warum das nicht der Fall sein sollte.

An jenem Tag Anfang September ahnte Antoinette nicht, dass ihr Leben eine ganz andere Richtung nehmen würde. Und dass sie nicht wieder ins Ferienlager zurückkehren würde.