Antoinette saß auf einer Holzbank vor dem Büro der Schulleiterin der Sekretärinnenschule. In ihrer Tasche hatte sie die Semestergebühr. Nach zwei Jahren eisernen Sparens hatte sie endlich genug Geld zusammen, um ihr Vorhaben wahrzumachen. Nun fragte sie sich nervös, ob man sie annehmen würde. Zwar hatte sie aufgrund ihrer Bewerbungsunterlagen eine vorläufige Zusage erhalten, aber die endgültige Entscheidung hing von ihrem Bewerbungsgespräch mit der Schulleiterin, Miss Eliot, ab.
Am Morgen hatte sie das Haar ausgebürstet, um ihre modische Hochfrisur in einen nüchternen Bob zu verwandeln. Auch hatte sie nur sparsam Make-up aufgelegt. Dann hatte sie einen ihrer schlichten Röcke und Pullover angezogen, die sie in Wales gekauft hatte. Sie wünschte inständig, genau wie die anderen Mädchen auszusehen, die sich für die Schule bewarben.
Doch in einem unterschied sie sich von ihren Mitbewerberinnen – sie wurde von keinem Elternteil begleitet. Weder Mutter noch Vater saßen neben ihr. Nun, das ließ sich eben nicht ändern, sagte sie sich. Sie musste diesen Schritt allein tun.
Plötzlich spürte sie neugierige Blicke auf sich: von einem Mädchen etwa ihres Alters und deren Mutter. Die beiden trugen ähnliche, pfiffig geschnittene Mäntel mit Pelzkrägen und flache, polierte Lederschuhe, passend zu den Handtaschen auf ihrem Schoß, die sie mit ihren lederbehandschuhten Händen umklammerten. Sie wirkten entspannt und ungezwungen, und das Mädchen schien dem bevorstehenden Vorstellungsgespräch voller Selbstvertrauen entgegenzusehen.
Antoinette war als Letzte an der Reihe. Als sie das Büro der Direktorin betrat, sah sie sich einer stattlichen Dame Ende fünfzig gegenüber, die hinter ihrem Schreibtisch saß. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm und hatte ihr dickes Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten im Nacken geschlungen. Auf Antoinette machte sie einen strengen Eindruck. Miss Eliot wirkte zunächst erstaunt, dann runzelte sie missbilligend die Stirn, als sie sah, dass das junge Mädchen nicht in Begleitung eines Erwachsenen erschienen war.
»Du bist Antoinette Maguire, nicht wahr? Bist du allein?«, fragte sie brüsk.
»Ja.« Sie wusste nicht, wie sie das Fehlen ihrer Eltern entschuldigen sollte, also schwieg sie lieber.
Miss Eliot musterte sie neugierig. »Nun, normalerweise ist es üblich, dass ein Elternteil beim Vorstellungsgespräch dabei ist. Falls man dir einen Platz anbietet, muss ich schließlich die Frage der Schulgebühren mit jemandem klären.«
Antoinette wusste, dass es eine Warteliste mit Mädchen gab, die gern eine Ausbildung an der renommierten Schule machen wollten. Angesichts der tadelnden Miene von Miss Eliot beschlich sie das Gefühl, dass die Tatsache, dass sie allein gekommen war, ihr zum Nachteil zu gereichen drohte. Aber sie hatte nicht zwei Jahre lang eisern gespart, um sich so einfach geschlagen zu geben!
Sie straffte den Rücken und sah Miss Eliot in die Augen. »Ich habe die Schulgebühr in bar dabei. Das Geld habe ich in den letzten zwei Jahren selbst gespart.«
Einen Augenblick lang wirkte die ältliche Dame verblüfft. Aber dann wurde ihr Gesichtsausdruck weicher. »Du willst also unbedingt Sekretärin werden, meine Liebe?«
Antoinette überlegte, was sie sagen sollte, und beschloss dann, dass es das Beste wäre, bei der Wahrheit zu bleiben. »Nein«, sagte sie ehrlich, »es ist nur so, dass ich unbedingt einen Schulabschluss brauche mit einem Zeugnis, aus dem hervorgeht, dass ich erst mit achtzehn die Schule verlassen habe, statt schon mit vierzehn, wie es jetzt der Fall ist.« Sie war sich sicher, dass Miss Eliot jede Ausflucht durchschaut hätte, also machte sie sich erst gar nicht die Mühe, irgendwelche Erklärungen zu erfinden.
Angesichts der beherzten Offenheit des jungen Mädchens gestattete sich Miss Eliot ein flüchtiges Lächeln. »Setz dich, bitte.«
Antoinette nahm erleichtert auf dem Besucherstuhl Platz. Sie wusste, dass sie die erste Hürde genommen hatte. Der Rest des Vorstellungsgesprächs ging schnell und reibungslos vonstatten. Als Miss Eliot sie bat, ein paar Formulare auszufüllen und ihre Semestergebühr zu bezahlen, hatte Antoinette das Gefühl, als wären erst wenige Minuten seit ihrem Eintreten vergangen. Dann hieß die Direktorin sie mit einem Handschlag als Schülerin am Belfast Secretarial College willkommen.
Bei ihrer Rückkehr aus dem Feriendorf war Antoinette zu Hause ein überaus frostiger Empfang bereitet worden – sie hatte nur vorgehabt, ein paar Nächte dort zu wohnen, bis sie die Zusage für die Sekretärinnenschule hatte, um sich dann ein Zimmer zu suchen. Ihr Vater beachtete sie gar nicht und blieb noch öfter als sonst von zu Hause weg, während ihre Mutter ihr äußerst kühl begegnete und sie drängte, sich ein Zimmer zu suchen.
»Du weißt, was wir vereinbart hatten, Antoinette«, sagte sie. »Du musst ausziehen. Dein Vater will dich nicht länger hier haben. Schließlich kannst du jetzt sehr gut allein für dich sorgen.«
Sobald Antoinette die Zusage hatte, machte sie sich auf Zimmersuche. Dank dieser Zusage würde es sehr viel einfacher sein, eine Vermieterin zu finden, die bereit wäre, sie aufzunehmen, denn so konnte sie argumentieren, dass sie in der Nähe der Schule wohnen wolle. Fast auf Anhieb fand sie ein möbliertes Zimmer in einem Haus im Studentenviertel in der Nähe der Malone Road, in dem eine Wohngemeinschaft lebte. Es war zwar nicht so gepflegt, wie sie es sich gewünscht hätte, aber es war billig, und die Vermieterin war bereit, es ihr ohne viele Fragen zu überlassen. Außerdem wollte Antoinette so schnell wie möglich von ihrem Elternhaus wegkommen, in dem sie ganz offensichtlich nicht mehr erwünscht war.
Sie überreichte der Vermieterin die Kaution und sagte, sie würde gern sofort einziehen. Dann ging sie zurück, um ihre Sachen zusammenzupacken. Ihre Eltern waren beide nicht da, und so verließ sie das Pförtnerhäuschen ohne jeden Abschied.
Ich müsste doch eigentlich traurig sein, dachte sie, während sie mit dem Koffer in der Hand die Treppe hinabging. Aber sie fühlte nichts. Was nicht weiter verwunderlich war, denn seit Judy nicht mehr da war, die dem Haus wenigstens eine Spur Wärme und Geborgenheit verliehen hatte, war es ein kalter Ort für sie geworden.
In der Annahme, nie mehr zurückzukehren, schloss sie die Tür hinter sich.
Am ersten Semestertag wachte Antoinette früh auf. Sie blickte sich in ihrem trostlosen Zimmer mit dem ausgetretenen Teppich um, dessen Muster so stark verblichen war, dass man es kaum mehr ausmachen konnte. Es war spärlich möbliert – zwei zerschrammte Holzstühle an einem ebenso zerschrammten Tisch, am Fenster ein Armsessel. Sie hatte zwei Kissen mit bunten Bezügen gekauft, um dem Zimmer wenigstens etwas Farbe zu verleihen, aber ihren Bemühungen zum Trotz sah es noch immer trostlos aus. Dennoch sagte sie sich, sie könne sich glücklich schätzen, überhaupt ein Zimmer gefunden zu haben. Die meisten Vermieterinnen hätten sich geweigert, einer Minderjährigen, die noch zur Schule ging, ein Zimmer zu vermieten. Wahrscheinlich hatte Antoinettes Bereitschaft, an Ort und Stelle die reichlich bemessene Kaution zu leisten, ihr das schäbige Zimmer gesichert.
Ihr erster Tag an der Sekretärinnenschule war gekommen: Heute würde sie die Ausbildung beginnen, die es ihr in absehbarer Zeit ermöglichen würde, dieses Loch zu verlassen, und die ihr den Weg zu einem neuen Leben weisen würde.
Sie streckte die Glieder aus und kletterte aus dem Bett mit der durchhängenden Matratze. Verschlafen stapfte sie auf den Flur hinaus und in die Gemeinschaftsküche. Sie hatte am Vorabend gebadet, um am Morgen nicht vor dem Badezimmer Schlange stehen zu müssen, zusammen mit den fünf weiteren Mietern, mit denen sie sich das Haus teilte. Die anderen waren alle ausgegangen, sodass sie das Bad ganz für sich hatte. Nachdem sie den Münzzähler mit ausreichend Münzen gefüttert hatte, hatte sie lange und genüsslich in der Emailwanne gelegen, ohne gestört zu werden.
Beim Anblick des schmutzigen Geschirrbergs in der Spüle und der verdorbenen Essensreste auf dem Resopalesstisch rümpfte sie die Nase. Vergeblich suchte sie eine saubere Tasse, bis sie schließlich seufzend und mit spitzen Fingern eine aus dem kalten Abwaschwasser fischte und sie unter laufendem Wasser spülte. Während sie darauf wartete, dass das Teewasser kochte und die Brote fertig getoastet waren, spürte sie einen Anflug von Heimweh nach dem Pförtnerhäuschen.
Aber nach dem Leben, wie es war, bevor er gekommen ist, ermahnte sie sich selbst. Nein, sagte sie sich dann, hier geht es mir besser. Nachdem sie sich Tee gemacht und den Toast mit Butter bestrichen hatte, nahm sie das Frühstück mit in ihr Zimmer. Danach zog sie sich an und griff zu der Tasche mit den benötigten Büchern, die sie sich besorgt hatte.
Zu Fuß brauchte sie zur Schule nur eine halbe Stunde, und sparsam wie sie war, verzichtete sie auf den Bus. Es war ein freundlicher Herbsttag, und während sie durch die Straßen Belfasts schritt, hob sich ihre Stimmung. Im Grunde fühlte sie sich jetzt wie die Studentin, die sie immer hatte werden wollen.
Antoinettes Finger bewegten sich ungelenk über die Tastatur und drückten die Tasten, die unter einem schwarzen Metallschirm verborgen waren, damit man die Buchstaben nicht sah.
Konzentrier dich, ermahnte sie sich und sah in das Übungsbuch. »A, S, D, F«, murmelte sie leise und bemühte sich, die richtigen Tasten zu finden. Sie seufzte. Gab es tatsächlich Menschen, die sich tagaus, tagein mit diesen Maschinen abquälten? Würde sie es je lernen? Während sie die frustrierende Übung wiederholte, erschien ihr das ein Ding der Unmöglichkeit.
»Konzentrier dich, Antoinette!«, sagte Miss Eliot streng. Die Schulleiterin ging zwischen den Schreibtischreihen auf und ab und überwachte die Blindschreibübungen der Mädchen. »Auf Akkuratesse kommt es an, nicht auf die Geschwindigkeit«, erklärte sie zum soundsovielten Mal.
Die plumpe kleine Schreibmaschine mit dem schwarzen Schirm über der Tastatur schien Antoinette zu verhöhnen, während sich ihre Finger um einen gleichmäßigen Rhythmus bemühten. Draußen war es sonnig und schön, und drinnen beugten sich zwanzig Köpfe, allesamt mit züchtigen Frisuren – nirgendwo war über die Schreibmaschinen hinweg ein modischer Beehive zu sehen. Achtunddreißig Hände hüpften rhythmisch über die Tastaturen, nur Antoinette hatte das Gefühl, als wären ihre Finger über Nacht geschwollen. Irgendwie waren sie zu widerspenstigen Anhängseln geworden, die immer wieder von den Tasten abrutschten und sich weigerten, ihr zu gehorchen.
Endlich war die Schreibmaschinenstunde vorbei. Danach hatten sie Stenografie. Antoinette schlug ihr Buch auf und betrachtete entmutigt die Reihen verschnörkelter Zeichen, die keinerlei Bedeutung für sie hatten.
Wie soll ich je lernen, diese Kürzel zu schreiben?, fragte sie sich verzweifelt, während sie versuchte, die sonderbaren kursiven Zeichen mit den zahlreichen Punkten und Schlaufen zu entziffern, die Mr Pitman an die Tafel malte. Sie wusste, dass sie es irgendwie schaffen musste. Antoinette war fest entschlossen, nie wieder kellnern zu müssen, sondern sich eine Anstellung zu suchen, für die eine ordentliche Qualifikation vorausgesetzt wurde.
Am Ende der ersten Stenografiestunde war sie gerade mal in der Lage, die Briefanrede Dear Mr Smith zu stenografieren, aber es war ihr noch immer ein Rätsel, wie sie je einen ganzen Brief in Kurzschrift bewerkstelligen sollte.
Die letzte Stunde vor der Mittagspause war Buchhaltung, und endlich konnte sie sich ein wenig entspannen. Durch ihre Arbeit im Coffeeshop, wo sie oft Rechnungssummen im Kopf gerechnet hatte, war sie es gewohnt, mit Zahlen umzugehen. Sie merkte, dass sie die Einzige war, die sich mit dem Rechnen leichttat, unterdrückte jedoch ein selbstzufriedenes Lächeln. Keinesfalls wollte sie die Aufmerksamkeit der anderen Mädchen auf sich ziehen oder gar in die Verlegenheit kommen, erklären zu müssen, woher sie ihre Kopfrechnenkünste hatte.
Endlich kam die ersehnte Mittagspause. Als sie sah, wie ihre Mitschülerinnen sich grüppchenweise zusammentaten, um gemeinsam in die Pause zu gehen, nahm Antoinette rasch ein Buch zur Hand und begab sich in ein nahegelegenes Café. Sie hatte nicht vor, sich unter ihre Klassenkameradinnen zu mischen. Wie so oft fürchtete sie sich vor unangenehmen Fragen. Allein die Tatsache, dass sie allein in einem möblierten Zimmer wohnte, würde verständnislose Mienen hervorrufen. Sie stellte sich das wohl behütete Zuhause der anderen Mädchen vor: auf den Böden dicke Teppiche, auf den Anrichten dekoratives Tafelsilber und in den Kaminen ein behagliches Feuer. Es roch nach Möbelpolitur und Blumen, und abends waberten Essensdüfte durchs Haus.
Anders als Antoinette mussten sich diese Mädchen bestimmt nicht mit Lebensmittelpreisen herumschlagen oder mit der Frage, wie viel Münzen sie für den Wasserzähler im Bad zurücklegen müssten oder ob das Geld für die Miete reichen würde. Bestimmt ging keine von ihnen zu Fuß zum College, um sich das Busgeld zu sparen. Nein, morgens wurden sie von ihren Müttern zur Schule gefahren, und beim Nachhausekommen erkundigten sich liebevolle Eltern nach ihrem Schultag.
Vom Sehen kannte sie die Art Elternhaus, aus dem diese Mädchen stammten, inzwischen ganz gut. Auf ihren abendlichen Spaziergängen, die sie unternahm, um der klaustrophobischen Enge ihres möblierten Zimmers zu entfliehen, durchstreifte sie die gutbürgerlichen Vororte Belfasts und kam an Häusern vorbei, in denen Menschen wie ihre Klassenkameradinnen lebten. Die großen Panoramafenster gaben den Blick frei auf Familien, die am Esstisch versammelt waren und sich bei gedämpftem Licht lebhaft unterhielten.
Mädchen mit einem solchen Zuhause strahlten eine ganz bestimmte Selbstsicherheit aus, wie sie einem nur ein unbeschwertes Leben in behüteten Verhältnissen verleiht. Die Weichen für ihr zukünftiges Leben waren bereits gestellt: für die Jungen ein Studium mit anschließender Karriere; für ihre Schwestern eine angesehene, nicht allzu ermüdende Bürotätigkeit, ehe sie heirateten und es sich zu ihrer vorrangigen Aufgabe machten, sich um ihre Familie zu kümmern.
Während sie in dem Café bei ihrem einfachen Mittagsimbiss saß, dachte sie an ihr liebloses Zimmer, das zurzeit ihr Zuhause war, an die schmuddelige Gemeinschaftsküche, in deren Spüle sich immer Berge schmutzigen Geschirrs stapelten, die Toilette, wo sie bei jedem Gang ihre eigene Klorolle mitbringen musste, und das Gemeinschaftsbad mit der angeschlagenen Emailbadewanne. Bei der Vorstellung, wie sie jedes Mal die Wanne reinigen und von dem unappetitlichen Schmutzring befreien musste, den zu entfernen der vorige Besucher nicht für nötig gehalten hatte, verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Und als sie sich die Trostlosigkeit ihres Zimmers vergegenwärtigte und wie kalt es sich anfühlte, nach Hause zu kommen, ohne von ihrem Hund begrüßt zu werden, verspürte sie eine tiefe Leere in sich. Eine Welle der Einsamkeit schwappte über sie hinweg und drohte sie zu ersticken.
Sie schob dieses Gefühl beiseite und beschwor ein anderes Bild herauf. Ein Bild von sich selbst, wie sie in einem eleganten Kostüm, mit glänzenden Haaren und manikürten Nägeln in einem schicken Büro gegenüber ihrem gut aussehenden Chef am Schreibtisch saß und ein Diktat aufnahm. Im Geiste sah sie sich, einen Notizblock in der Hand, vom Stuhl aufstehen, um sich vor eine hochmoderne elektrische Schreibmaschine zu setzen, deren Tasten nicht unter einem schwarzen Metallschirm verborgen waren. Sie sah, wie ihre Finger flink darübertanzten, während sie völlig fehlerfrei einen Brief tippte und ihn dann ihrem Chef zur Unterschrift reichte, der mit einem dankbaren Lächeln zu ihr sagte: »Ich weiß nicht, was unsere Firma ohne Sie täte.«
Sie bestellte sich eine zweite Tasse Kaffee und spann den Tagtraum weiter, auch dann noch, als sie sich bereits wieder auf dem Weg zur Schule befand.
Das Semesterende näherte sich und mit ihm das Zwischenexamen. Antoinette, die die Schule als furchtbar monoton und langweilig empfand, hatte bereits beschlossen, nach der Zwischenprüfung abzugehen und sich eine Arbeit zu suchen. Auch wenn sie die einjährige Ausbildung nicht abschloss, hätte sie wenigstens ein Zeugnis in der Tasche, aus dem hervorging, dass sie erst mit siebzehn die Schule verlassen hatte, das Maschinenschreiben beherrschte sowie über Grundkenntnisse in Buchhaltung und Stenografie verfügte. Das müsste doch ausreichen, um wenigstens zu Bewerbungsgesprächen eingeladen zu werden, dachte sie. Sie konnte es nicht erwarten, eine Arbeitsstelle zu finden, die ihr ein geregeltes Einkommen ermöglichte, sodass sie aus dem verhassten möblierten Zimmer ausziehen konnte. Sie meinte die Einsamkeit dort nicht mehr ertragen zu können. Während der zurückliegenden Monate hatte sie keine Freundschaften geschlossen, es gar nicht erst versucht. Sie betrachtete es als unabdingbar, für sich zu bleiben. Also versuchte sie, ihre Sorgen und Nöte in ihrem Inneren zu verschließen und sich nur auf die Zukunft zu konzentrieren, die doch besser sein musste als ihr gegenwärtiges Leben.
Sie bestand das Zwischenexamen und verließ die Schule. Auch wenn sie so lange von dieser Ausbildung geträumt hatte, bereute sie diesen Schritt nicht; was sie brauchte, hatte sie erreicht. Ausgestattet mit einem Zwischenzeugnis und einem persönlichen Empfehlungsschreiben von Miss Eliot, machte sie sich auf Arbeitssuche. Es dauerte nicht lange, und sie fand eine Stelle als Empfangsdame in einem kleinen Frisiersalon.
Die Arbeit war einfach, die Kolleginnen waren freundlich. Die Friseurinnen waren ganz anders als die damenhaften Mädchen aus gutem Haus, mit denen sie die Sekretärinnenschule besucht hatte; sie erinnerten Antoinette eher an die Mädchen, mit denen sie immer zum Tanzen gegangen war. Und doch gab es einen Unterschied: Damals hatte sie sich mit diversen Drinks Selbstsicherheit angetrunken, etwas, was sie tagsüber nicht tun konnte. Ohne den aufgesetzten Wagemut, den ihr der Alkohol verlieh, war es um ihr Selbstvertrauen nicht gut bestellt. Es war ihr unmöglich, in den neckischen Tonfall der Friseurinnen mit einzustimmen. Im Gegenzug hielten diese sie für unnahbar und ließen sie nach wenigen Anläufen, sie mit einzubeziehen, links liegen.
Auf perverse Weise war dies genau das, was sie wollte. Obwohl sie sich nach der Freundschaft zu Gleichaltrigen sehnte, erstarrte sie, sobald jemand versuchte, ihr nahezukommen. Ihre Kolleginnen mochten das Mädchen tolerieren, ja vielleicht sogar schätzen, das sie vorgab zu sein: die Abgängerin von der Sekretärinnenschule, die mit einem gepflegten Akzent sprach. Doch wehe, sie erfuhren von ihrer Vergangenheit, dachte Antoinette, dann würden sie ihr die kalte Schulter zeigen. Also ließ sie die jungen Frauen im Glauben, dass sie noch zu Hause wohnte, und war fest entschlossen, ihnen keinen Einblick in ihre wahren Lebensumstände zu gewähren. Aber solange sie nicht mehr Geld verdiente, konnte sie nicht aus dem möblierten Zimmer ausziehen. Sie musste unbedingt ihre Ersparnisse aufstocken, die während des halben Jahrs, in dem sie nicht gearbeitet hatte, durch die Schulgebühr und die Lebenshaltungskosten nahezu aufgebraucht worden waren.
Bis dahin würde sie weiterhin für sich bleiben und die Einsamkeit ertragen, so gut es ging.