Neunzehn

Am liebsten hätte Antoinette die Augen nicht mehr aufgemacht. Das Tageslicht schmerzte, aber sie musste dringend zur Toilette. Widerstrebend schwang sie die Beine über den Bettrand und stellte zitternd die Füße auf den fadenscheinigen Teppichboden. Als sie mühsam aufstand, begann sich der Raum um sie herum zu drehen, und sie musste sich mit den Händen an der Wand abstützen. Schwankend erreichte sie die Tür und trat auf den kalten Flur hinaus.

Ihre Beine waren schwer, und die paar Meter bis zum Badezimmer kosteten sie unendlich viel Kraft. Sie sah in den Spiegel. Ein blasses Gesicht mit zwei roten Flecken auf den Wangen starrte zurück. Der Hals tat ihr weh, in ihrem Kopf hämmerte es, und sie hatte Gliederschmerzen.

Sie wusste, sie hatte sich eine schwere Grippe zugezogen, und spürte, wie sich ihre Augen beim Gedanken an ihr gemütliches Zimmer in dem Pförtnerhäuschen mit Tränen füllten. Als sie ein Jahr zuvor ebenfalls an einer Grippe erkrankt war, hatte ihre Mutter sie mit heißem Tee und schmackhaften Happen versorgt, um ihren Appetit anzuregen. Während sie daran dachte, meinte Antoinette noch immer die tröstende Berührung zu spüren, als ihre Mutter ihr mit der Hand die schweißnassen Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte. Wenn Ruth abends von der Arbeit nach Hause kam, hatte sie ihr die Kissen aufgeschüttelt und ihr das Abendessen auf einem Tablett gebracht, das sie ihr auf die Knie stellte, sodass sie es im Bett sitzend zu sich nehmen konnte. Und wenn Antoinette sich wieder zum Schlafen zurücklegte, hatte ihre Mutter ihr die Wolldecken um die Schultern drapiert.

Doch das war, bevor er zurückkam. In einer Zeit, als Ruth in der Lage war, ihrer Tochter jene mütterliche Liebe zu schenken, nach der sie so lechzte. Es schien, als hätte Antoinettes Krankheit bei Ruth das Gefühl ausgelöst, dass sie gebraucht wurde, und dass es erst dieses hilflosen Zustandes ihrer Tochter bedurfte, um sich zu gestatten, ihre Zuneigung zu zeigen, die sie meist unter Verschluss hielt. Antoinette hatte diesen Zustand zutiefst genossen und ihre Mutter dankbar von ihrem warmen Bett aus angelächelt. Für die Dauer ihrer Krankheit durfte sie wieder das Kind sein, das sie bis vor Kurzem auch noch gewesen war. Am liebsten hätte sie die Hand ihrer Mutter festgehalten, wie zehn Jahre zuvor. Doch stattdessen ballte sie die Hände unter der Bettdecke fest zusammen, um den Impuls zu unterdrücken.

Bei dieser Erinnerung empfand Antoinette eine überwältigende Sehnsucht nach Zuhause und danach, geliebt und umsorgt zu werden.

Mami würde mich in mein altes Bett stecken, dachte sie. Sie würde mich dort schlafen lassen, mir Tee bringen und Tomatensuppe mit dünn geschnittenem und mit Butter bestrichenem Brot. Leichte Krankenkost, die ihr auf die Beine helfen würde. Und wenn es ihr wieder gut genug ginge, um aufzustehen und die Treppen hinunterzusteigen, aber noch nicht so gut, um das Haus zu verlassen, würde sie ihren alten rosa Bademantel aus Frottierplüsch überziehen und sich ins Wohnzimmer vor den Kamin setzen. Die Füße auf dem kleinen, runden gepolsterten Schemel, würde sie ihr Lieblingsprogramm auf dem Schwarzweißfernseher anschauen.

Ein überwältigendes Bedürfnis, ihre Mutter zu sehen und sich von ihr verhätscheln zu lassen, überkam sie. Allein die Vorstellung, wie es wäre, wieder im Pförtnerhäuschen zu sein und sich in die Obhut ihrer Mutter zu begeben, ließ sie sich besser fühlen. Den Gedanken an ihren Vater blendete sie dabei völlig aus, seine Wut bei ihrem Anblick und ebenso seine Eifersucht, wenn ihre Mutter ihr Zuwendung schenkte.

Soll ich es wagen, hinzugehen?, fragte sie sich. Nur dieses eine Mal?

Seit sie ausgezogen war, hatte sie erst zwei Mal den Mut aufgebracht, ihr früheres Zuhause aufzusuchen. Beide Male hatte sie sich sicher sein können, ihrem Vater nicht zu begegnen. Sie hatte sich die Arbeitszeiten ihrer Eltern in ihrem kleinen Notizbuch notiert. Beide Male schien ihre Mutter angenehm überrascht von ihrem Besuch zu sein. Zum Abschied hatte sie ihr sogar kleine Essenspakete mitgegeben.

Da sie wusste, dass Ruth an diesem Morgen zu Hause und ihr Vater in der Arbeit sein würde, schob sie alle Zweifel beiseite. Ihr übergroßes Bedürfnis, sich in ein Kind zurückzuverwandeln und sich von ihrer Mutter trösten zu lassen, überwog alles andere. Ja, sie würde nach Hause gehen, beschloss sie.

Schnell zog sich Antoinette an, stopfte einen Pyjama und eine zusätzliche Garnitur Unterwäsche in eine Tasche und ging vor Fieber glühend zur Bushaltestelle. Während der Fahrt döste sie vor sich hin, bis der Bus die Haltestelle erreicht hatte, die beinahe vor der Türschwelle des Hauses lag. Die kleine Reisetasche in der Hand, ging sie unsicher zur Haustür des Pförtnerhäuschens, bis ihr einfiel, dass sie ja keinen Schlüssel mehr besaß. Sie hatte ihn an dem Tag, als sie ins Feriendorf gefahren war, auf Verlangen ihrer Eltern abgegeben. Also klingelte sie und lehnte den Kopf an die Mauer, weil ihr erneut schwindelig wurde.

Sie hörte Schritte, dann das Geräusch des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde. Die Tür ging auf, und ihre Mutter stand vor ihr. Ein besorgtes Lächeln trat in ihr Gesicht, aber es erreichte ihre Augen nicht.

»Liebes, was für eine Überraschung! Warum bist du nicht in der Arbeit?«

»Ich bin krank.« Noch während sie sprach, füllten sich ihre Augen mit Tränen, die ihr über die erhitzten Wangen rollten.

»Komm schnell herein, Liebes.« Ihre Mutter zog sie in den Flur, aus dem Blickfeld neugieriger Nachbarn. Mit ihrer Furcht vor dem Gerede der Leute und ihrem übergroßen Bedürfnis, den Schein zu wahren, wollte Ruth vermeiden, dass jemand ihre weinende Tochter mit einer Reisetasche in der Hand auf der Türschwelle stehen sah. Ruth schloss die Tür hinter sich.

»Ich muss mich hinlegen. Darf ich bitte in mein altes Zimmer?« Kaum hatte sie die Worte ausgestoßen, spürte Antoinette das Zögern ihrer Mutter.

Dennoch fragte Ruth mit etwas sanfterer Stimme: »Was fehlt dir denn, Antoinette?« Sie berührte flüchtig die Stirn ihrer Tochter. »Nun, du glühst ja richtig. Also gut, Liebes, dein Bett ist noch gemacht. Geh hinauf, ich bring dir eine Tasse Tee.«

Zum ersten Mal in all den Monaten fühlte sich Antoinette bei diesen Worten wieder beschützt und behütet. Kaum war sie in ihr altes Bett geschlüpft, erschien ihre Mutter auch schon, zog die Vorhänge zu, stellte den Tee auf ihren Nachttisch und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Ich habe in der Arbeit angerufen und gesagt, dass ich etwas später komme«, sagte sie. »Und du ruhst dich jetzt ein bisschen aus.«

Sobald ihre Mutter hinausgegangen war, fiel Antoinette in einen unruhigen Schlaf. Als sie ein paar Stunden später erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Orientierungslos starrte sie in die Dunkelheit, bis sie begriff, dass sie in ihrem alten Zimmer im Pförtnerhäuschen lag. Etwas hatte sie geweckt, und sie stützte sich auf die Ellbogen. Laute Stimmen drangen durchs Fenster herein – genau, davon war sie wach geworden. Sie erkannte den barschen Tonfall ihres Vaters, und die unverkennbare Wut darin versetzte sie in Angst. Sie konnte nicht hören, was sie sagten, aber sie wusste, dass ihr Vater wütend war, und zwar ihretwegen. Die sanftere Stimme ihrer Mutter sagte ihr, dass sie versuchte, ihn zu beschwichtigen.

Warum sind sie denn vor dem Haus?, fragte sich Antoinette überrascht. Die Abneigung ihrer Mutter, Streit in der Öffentlichkeit auszutragen, hatte bislang immer dazu geführt, dass alle Auseinandersetzungen in den eigenen vier Wänden stattfanden.

Wie sie es oft als kleines Kind getan hatte, rutschte Antoinette tiefer ins Bett hinein und zog sich die Bettdecke über die Ohren. Wenn sie sie nicht hören konnte, würden sie vielleicht weggehen, dachte sie absurderweise. Doch dann vernahm sie das Knarren der Treppenstufen und die leisen Schritte ihrer Mutter, die ihr Zimmer betrat. Aus einem Instinkt heraus stellte sich Antoinette schlafend. Ihre Mutter berührte sie sanft an der Schulter, dann hörte Antoinette die Worte, die sie so gefürchtet hatte.

»Bist du wach? Du musst aufstehen. Dein Vater hat gesagt, du musst gehen.«

Benommen öffnete Antoinette die Augen und blickte ihrer Mutter ins Gesicht, um nach irgendwelchen Anzeichen zu suchen, dass sich Ruth dieses eine Mal ihrem Mann widersetzen würde. Ein Anflug von Schuldgefühl huschte über ihr Gesicht, nur um augenblicklich eiserner Entschlossenheit zu weichen.

»Er weigert sich, ins Haus zu kommen, bevor du nicht gegangen bist. Er sagt, du bist ausgezogen und kannst nicht einfach nach Hause kommen, wie es dir passt. Du musst jetzt auf deinen eigenen Füßen stehen.«

Statt des üblichen herablassenden Klangs schwang in Ruths Stimme ein flehender Ton mit.

Antoinette suchte nach dem fürsorglichen Ausdruck, den sie zuvor im Gesicht ihrer Mutter entdeckt hatte, und hoffte, dass sie sich schließlich doch noch nachgiebig zeigen würde. Doch alle Spuren von mütterlicher Sorge waren verschwunden und der altbekannten Miene eines leidgeplagten Menschen gewichen. Ruth war wieder die Frau, die niemals Verantwortung übernahm und stattdessen die Schuld für ihr Unglück jemand anderem anlastete. In diesem Fall wie schon so oft Antoinette.

Zu krank, um mit ihrer Mutter zu streiten oder auch nur etwas zu erwidern, kämpfte sich Antoinette aus ihrem Bett, zog sich langsam an und ergriff ihre Tasche.

Später konnte sie sich lange nicht an die Einzelheiten jener Nacht erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie das Haus verlassen hatte.