Es begann mit rasenden Kopfschmerzen.
In den frühen Morgenstunden wurde sie davon wach. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde ihn eine riesige Faust eisern umklammern. Unerbittliche Finger schlossen sich um ihren Schädel, umfassten ihren Nacken und drückten zu, bis sich der Schmerz hinter ihren Augen breitmachte und ihre Sicht verzerrte.
Während des Tages verschwanden die Kopfschmerzen, doch sie fühlte sich lethargisch, ihre Glieder waren steif, ihr Geist war träge und schwerfällig. Ihre Konzentration ließ nach, und die Buchstaben der Bücher, die einst ihr Trost gewesen waren, verschwammen vor ihren Augen. Schließlich konnte sie nicht einmal mehr Zeitschriften lesen, und sie legte sie müde zur Seite.
Abends in ihrem möblierten Zimmer kam sie nicht zur Ruhe, fand keinen Schlaf. Ängste, Einsamkeit und Schuldgefühle vergifteten ihre Träume und machten ihre Nächte zu einer einzigen Qual. Selbst wenn sie irgendwann einschlief, war ihr keine Ruhe vergönnt. Stattdessen wurde sie an einen dunklen Ort entführt, wo Dämonen sie jagten.
Manchmal träumte sie davon, in die Tiefe zu fallen, und verdrehte im Schlaf den Körper, um den Aufprall zu mildern. Wenn sie erwachte, spürte sie, wie ihr Herz panisch pochte.
Eines Tages hatte sie zum ersten Mal einen Traum, der sie von nun an jede Nacht verfolgte. Er war um ein Vielfaches schlimmer als alle anderen und führte dazu, dass sie sich zwang, wach zu bleiben. Aus Angst, er würde wiederkehren, sehnte sie die Morgendämmerung herbei. Der Albtraum entführte sie in einen Wald, wo hohe Bäume so dicht wuchsen, dass ihr Blattwerk Himmel und Mondlicht verdeckte. Auf der Suche nach einem Ausgang irrte sie verzweifelt durch die Finsternis, während ihr nasse Zweige ins Gesicht peitschten und schleimige Pflanzen sich um ihre Fesseln rankten und sie am Laufen hinderten. Das Gefühl, gefangen zu sein, war zutiefst beängstigend, und im tiefen Dickicht lauerten Dämonen. Unsichtbare, feindselige Augen beäugten sie, darunter auch jene ihres Vaters. Sie spürte seine Gegenwart, spürte, wie er sie verhöhnte, während sie vergeblich zu fliehen versuchte.
Auch wenn sie in der Schwärze des Waldes nichts Konkretes ausmachen konnte, wusste sie, dass ihre Panik berechtigt und sie verloren war. Mit einem Mal gab es eine Erschütterung, und unter ihren Füßen tat sich ein gewaltiges Loch auf, und sie begann zu fallen. Sosehr sie auch dagegen ankämpfte, sich bemühte, an den Grubenwänden Halt zu finden, ihre Hände griffen ins klamme Nichts. Schließlich stürzte sie völlig unkontrolliert in die Tiefe, etwas Entsetzlichem entgegen.
Sie wusste, dass sie schlief, und kämpfte verzweifelt ums Erwachen, doch das gelang ihr erst, wenn sich ein stummer Schrei ihrer Kehle entrang. Leise wimmernd, keuchend und in Schweiß gebadet wachte sie schließlich auf, noch immer voller Angst, während der Albtraum allmählich verblasste. Sie hatte das Gefühl, gerade noch rechtzeitig erwacht zu sein, ehe sie nur wenige Sekunden später auf dem Boden jener schrecklichen Grube aufgeschlagen wäre.
Nunmehr wach, spürte sie eine düstere Vorahnung, dass sich bald etwas Katastrophales ereignen würde. Plötzlich überkam sie eine tiefe Verzweiflung darüber, dass sie noch am Leben war. Sie hielt sich die Handgelenke vors Gesicht und betrachtete die Narben, die von ihrem Selbstmordversuch vor über drei Jahren herrührten. Nacht für Nacht starrte sie auf die feinen blauen Venen unter der dünnen Haut ihres Unterarms und stellte sich vor, wie ein Rasiermesser sie durchtrennte.
Weiter stellte sie sich vor, dass sie wie damals hundert Aspirin schlucken würde. Aber dann kam die Erinnerung an die Übelkeit zurück, die ihren Körper krampfartig befallen hatte, nachdem man ihr den Magen ausgepumpt hatte. Wieder schmeckte sie die Galle, die in ihrer Kehle brannte.
Wenn es ihr nach dem Albtraum wieder gelang, einzuschlafen, wachte sie jedes Mal um Punkt halb fünf auf. Es war, als hätte ein böser Geist einen Wecker gestellt, um sie aus dem Schlaf zu reißen. Da es noch zu früh zum Aufstehen war, rollte sie sich enger zusammen und zwang sich, wach zu bleiben, um erneute Albträume fernzuhalten. Während sie vor sich hin döste, überkamen sie Erinnerungen an ihre Eltern, die nichts mehr von ihr wissen wollten. Dann dachte sie an ihre zahlreiche irische Verwandtschaft, die sich von ihr abgewandt hatte, und an die Menschen ihrer Heimatstadt, die sie zurückgewiesen hatten. Die Erinnerung an Derek und an seinen Gesichtsausdruck voll Abscheu, als er von ihrer Vergangenheit erfuhr, versuchte sie zu verscheuchen. Sie hatte das Gefühl, dass Dereks Reaktion stellvertretend für alle Menschen sei, wenn sie die Wahrheit über sie erfuhren.
Antoinettes Welt begann zu schrumpfen.
Sie schaffte es nicht mehr, zur Arbeit zu gehen, also rief sie im Salon an und meldete sich krank. Sie meinte krank zu sein, konnte jedoch nicht ausmachen, was genau mit ihr nicht stimmte. Sie wusste nur, dass die Welt zu einem beängstigenden Ort geworden war.
Wenn sie sich hinauswagte, hallte der Verkehrslärm schmerzhaft in ihrem Kopf wider, und sie hätte sich am liebsten mit den Händen die Ohren zugehalten. Wenn sie die Straße überqueren wollte, begann sie zu zittern. Jedes Auto schien es darauf abgesehen zu haben, sie zu zerstören, sie zu einem Krüppel zu machen. Panikattacken ließen ihre Beine erbeben, und sie hatte Angst, sie würden ihr den Dienst versagen, während sie ängstlich am Bordstein verharrte. Wagte sie es dann doch, die Straße zu überqueren, kostete sie jeder Schritt eine enorme Willensanstrengung.
Desgleichen, wenn sie ein Geschäft betrat. Auf jedem Gesicht meinte sie Feindseligkeit zu lesen. Wenn die anderen Kunden schwiegen, war sie überzeugt, sie hatten erst bei ihrem Eintreten zu reden aufgehört. Unfähig, den Ladeninhabern in die Augen zu sehen, murmelte sie ihre Wünsche und huschte rasch wieder hinaus, ihren Einkauf fest an sich gepresst.
Zu Hause angekommen, kroch sie die Treppe hinauf, inständig hoffend, dass die Türen der anderen Mieter geschlossen blieben, hinter denen sie feindseliges Getuschel zu hören glaubte. Eilig schlüpfte sie in ihr Zimmer und schloss sich in ihrem Refugium ein, wo sie die bösartigen Stimmen nicht mehr hörte. Wenn sie es notgedrungen verlassen musste, legte sie jedes Mal das Ohr an die Tür, um zu lauschen, ob auf dem Flur alles still war. Und bei dem leisesten Rauschen einer Wasserleitung oder der Toilettenspülung, dem Knarren von Treppenstufen oder Schritten irgendwo im Haus verharrte sie, um ja niemandem zu begegnen. Erst wenn sie sich sicher sein konnte, dass keiner in der Nähe war, nahm sie ihren Mut zusammen und trat auf den Flur.
An den Wochenenden störten lautes Lachen, schwere Schritte auf der Treppe, das Zuschlagen von Türen und dröhnende Musik aus den anderen Zimmern ihren Frieden. Sie steckte die Finger in die Ohren, um das Getöse auszublenden. Immer seltener verließ sie das Haus, und ihre Welt wurde täglich enger. Es konnte keine Rede mehr davon sein, dass sie zur Arbeit zurückkehrte, aber sie war nicht mehr Herr ihrer Sinne, weshalb ihr die Sorge darum, wie sie im nächsten Monat ihre Miete bezahlen sollte, erspart blieb. Noch hatte sie ein paar Rücklagen, doch sie war unfähig, sich zu überlegen, was sie tun würde, wenn sie aufgebraucht waren. Antoinette war mittlerweile vollkommen isoliert und orientierungslos, und nur der Wodka bot ihr kurzfristig eine Möglichkeit zur Flucht aus ihrer unerbittlichen Depression. Er war ihr einziger Trost.
Das Rührstück von der glücklichen Familie, das Ruth all die Jahre inszeniert hatte, war für Antoinette endgültig zu Ende gespielt. Sie hatte nun keine Rolle mehr. Seit ihre Mutter sie hinausgeworfen hatte, krank und allein wie sie war, hatte die nackte Wahrheit ihre Mauer des Selbstschutzes eingerissen, und Antoinette war völlig unfähig, mit diesem letzten Tiefschlag umzugehen. Eine dunkle Schwermut hatte sich auf ihren Geist gelegt, während ihr bewusst wurde, dass ihr Leben nur Betrug und Verzweiflung für sie parat hielt.
Warum konnte sie nicht glücklich darüber sein, dass ihre Eltern nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten? War sie nicht endlich befreit von ihnen? Aber Antoinette war zu stark von ihnen kontrolliert worden. Sie konnte mit der Unabhängigkeit und Freiheit nicht umgehen. Ein Hund, der jahrelang geschlagen worden ist, stirbt, wenn man ihn auf die Straße hinauswirft, weil er nicht allein für sich sorgen kann. Er drückt sich in den Ecken herum und traut keinem Lebewesen über den Weg, während er gleichzeitig auf eine freundliche Geste hofft. Zu den vielen Gefühlen, die auf ihn einstürmen, zählt bestimmt nicht Erleichterung über seine unverhofft gewonnene Freiheit.
Antoinette war nicht in der Lage, Hilfe zu suchen. Sie war zu krank, um überhaupt zu begreifen, dass sie dringend der Hilfe bedurfte. Und nun tauchten aus den tiefsten Winkeln ihres Bewusstseins all jene schrecklichen Erinnerungen auf, die die Wahrheit über ihr kurzes Leben preisgaben. Ringsherum konnte sie das Gewisper hören: Stimmen, die sie beschuldigten und verhöhnten, die sagten, dass niemand sie liebe und niemand sie je lieben würde. Stimmen, die sie aufforderten, zu verschwinden.
Völlig versteinert von ihrer Bemühung, den Schlaf und mit ihm die Albträume fernzuhalten, lag sie tagelang zusammengekauert in ihrem Bett. Ihre Augen schossen hin und her, auf der Suche nach den Gefahren, die in den Schatten der Dämmerung lauerten. Bis sie schließlich doch von ihrer Müdigkeit überwältigt wurde. Wenn sie dann von Vogelgesang erwachte, der keineswegs lieblich, sondern harsch in ihren Ohren klang, knüllte sie die Bettdecke zusammen und drückte sie an sich, am ganzen Leib zitternd, und konnte die Tränen, die stets zur Stelle waren, nicht länger zurückhalten.
Körperlose Stimmen schwebten in ihrem Zimmer. Sie wusste, wenn sie die Augen geschlossen hielt, würden sie irgendwann verstummen.
»Mach die Augen auf, Antoinette. Kannst du mich hören?«
Sie erkannte die Stimme ihrer Vermieterin, rollte sich aber noch enger zusammen. Dann hörte sie, wie die Frau wieder aus dem Zimmer ging. Kurz darauf kam sie zurück.
»Was hat sie denn, Doktor? Ich kriege sie einfach nicht wach.«
Eine andere Stimme meldete sich zu Wort. »Antoinette, ich bin Arzt. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen«, wiederholte er sanft.
Sie rührte sich noch immer nicht. Dann nahm sie eine Hand auf ihrem Gesicht wahr und Finger, die ihre Lider anhoben.
Sie sah Gesichter – die Gesichter ihrer Feinde, die auf sie herabstarrten. Antoinette schrie und schrie.
Einen flüchtigen Moment spürte sie einen scharfen Stich und sah, wie eine Nadel in ihren Arm glitt. Kurz darauf fühlte sie nichts mehr.