Auch wenn ich sie immer wieder verscheuchte, diese Erinnerungen kehrten hartnäckig zurück. Während ich bei schwindendem Tageslicht dasaß, nahm ich die bedrohliche Gegenwart meines Vaters im Zimmer wahr, des Mannes, der sein ganzes Leben lang Zwang ausgeübt hatte, dem alle Logik und jedes vernünftige Denken fremd gewesen waren.
Es war der Morgen nach seinem Tod, und ich befand mich in seiner letzten Wohnstatt, einem kleinen, weiß verputzten Reihenhaus im Zentrum von Larne. Er hatte es kurz nach dem Tod meiner Mutter bezogen. Zu meinem Bedauern hatte er das Haus, wo sie die letzten Jahre gemeinsam verbracht hatten und das Ruth so geliebt hatte, binnen weniger Wochen nach ihrem Dahinscheiden verkauft.
Nachdem ich die Tür aufgeschlossen hatte, war ich in einen kleinen fensterlosen Flur getreten. Ich stand gegenüber der Treppe mit ihrem ausgeblichenen dunklen Teppich, aber noch mied ich es, die oberen Räume zu betreten. Stattdessen öffnete ich die Wohnzimmertür.
Ein kleines Sofa mit kaputten Sprungfedern und verschossenem bordeauxfarbenem Bezug, der an den Armlehnen abgewetzt war, stand gegenüber einem großen Fernseher. Was, fragte ich mich, hatte er nur mit dem Sofa angestellt, das meine Mutter eigenhändig mit hübschem Chintz bezogen hatte? Von den zahlreichen Kissen mit pastellfarbenen Hüllen, die sie auf sämtliche Sitzgelegenheiten drapiert hatte, war nichts zu sehen. Statt der von meiner Mutter so geliebten grazilen, in zartem Blau und Weiß gehaltenen Dresdner Porzellanfiguren standen auf dem Kaminsims eine billige Uhr und daneben eine glänzende Porzellantigerkatze, deren Herkunftsland in irgendwelchen für mich unleserlichen asiatischen Schriftzeichen auf dem Sockel eingestempelt war.
Der offene Kamin, der eigentlich einem gemütlichen Holzkohlefeuer vorbehalten war, wurde von einem hässlichen Gasofen eingenommen, und in dem Regal daneben hatte Joes Sammlung an Tanzturnierpokalen die Bücher meiner Mutter ersetzt. An einem dieser staubfreien goldfarbenen Pokale lehnte ein verloren wirkendes winziges Foto. Es zeigte Antoinette im Alter von drei Jahren in einem Kleidchen aus farbenfrohem Gingan, das ihre Mutter vor vielen Jahren genäht hatte. Mein Vater hatte es aus seinem Silberrahmen gelöst, sodass es sich an den Ecken wellte. Ich nahm es und legte es in meine Brieftasche.
Ich war froh, dass dieses kleine reizlose Haus so wenige Erinnerungen für mich barg. Zwar war ich vor ein paar Monaten schon einmal hier gewesen, aber da war mir nicht aufgefallen, wie wenig an das gemeinsame Leben meiner Eltern gemahnte. Es gab nicht einmal ein Foto von meiner Mutter. Es war, als wäre mit ihrem Tod ihr Andenken ausgelöscht worden.
Um die abgestandene Luft zu vertreiben, zog ich trotz der winterlichen Kälte die Fenster weit auf. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein, damit der vertraute Tabakgeschmack den bedrückenden Mief des Hauses vertrieb.
Seine Gegenwart war überall zu spüren: seine Pantoffeln neben dem Armsessel, dessen Überzug vom vielen Gebrauch glänzend geworden war und an dessen Rückenlehne ein speckiger Fleck prangte, dort, wo sein Kopf geruht hatte. Der Aschenbecher auf dem Kaffeetisch, den er bei meinem letzten und einzigen Besuch für mich dorthin gestellt hatte. Mit sechzig hatte er es geschafft, seiner Zigarettensucht abzuschwören. Meine hatte begonnen, als ich von zu Hause weggegangen war.
Ich fragte mich, was dieser Aschenbecher mir sagen sollte. Hatte mein Vater gehofft, dass ich ihm verziehen hatte und meinen Besuch wiederholen würde? Dachte er wirklich, dass seine Schuld so gering wog und ich nur meiner Selbstsucht wegen in England blieb? Konnte er sich selbst so sehr betrügen? Weder hatte ich Antworten auf diese Fragen, noch würde ich jemals wieder in der Lage sein, sie ihm zu stellen, also tat ich sie mit einem geistigen Schulterzucken ab. Vor Jahren schon hatte ich es aufgegeben, die Gedanken meines Vaters zu ergründen.
In der Küche standen eine Tasse und eine Untertasse auf dem Abtropfbrett, und ein gebügeltes cremefarbenes Hemd hing auf einem Drahtkleiderbügel an einem Haken in der Nähe der Tür, als wartete es darauf, dass mein Vater käme, um es in den Schrank zu hängen.
Die früheren Haustiere meiner Eltern – ein großer, gutmütiger goldener Labrador und zwei Katzen – waren einige Jahre vor meiner Mutter gestorben. Wieder kam mir in den Sinn, mit wie viel Liebe die beiden ihre Tiere überhäuft hatten, und wischte zum soundsovielten Mal die Frage beiseite: Wenn sie doch in der Lage gewesen waren, vierbeinigen Kreaturen Liebe und Mitgefühl entgegenzubringen, warum nicht ihrem eigenen Kind?
Ich öffnete die Hintertür und warf einen Blick in den verwahrlosten Garten. Als ich mich wieder umwandte, wäre ich beinahe über die Golfschläger meines Vaters gestolpert. Wieder spürte ich die dunkle Wolke der Depression auf meinen Schultern und schob sie entschlossen weg.
»Herrgott noch mal, Toni«, sagte ich ungeduldig zu mir selbst. »Er ist gestorben. Kümmere dich endlich um die Durchsicht seiner Unterlagen, umso schneller kannst du wieder nach England zurück.«
Ich zwang mich dazu, den Wasserkessel auf den Herd zu stellen, und machte mir eine große Tasse Tee, jedoch nicht ohne vorher die Tasse mit kochendem Wasser auszuspülen. Dann nahm ich all meine Kraft zusammen und tat, weswegen ich gekommen war.
Die erste Aufgabe, die ich mir vorgenommen hatte, erschien mir am schwierigsten. In einer Schublade des Schreibtischs fand ich ein Notizheft, das meiner Mutter als Haushaltsbuch gedient hatte. Mit peniblen Reihen in ihrer sorgfältigen Handschrift gefüllt, war es die Bilanz eines äußerst genügsamen Lebens. Daneben lagen die Kontoauszüge. Mein Vater war geizig gewesen und hatte wenig ausgegeben. Seine Ersparnisse waren höher als erwartet. Aus den Auszügen ging auch hervor, dass er neben seiner monatlichen Rente noch weitere Einkünfte gehabt hatte. Mehrmals waren größere Beträge eingegangen. Einer rührte von dem Verkauf des Hauses her, das meine Eltern zuletzt besessen hatten, andere wiederum aus den Verkäufen der Antiquitäten, die meine Mutter im Laufe ihrer Ehe mit viel Liebe zusammengetragen hatte. Sie hatte die Porzellanfiguren und anderen Nippes, die sie auf Flohmärkten und in Trödelläden zu Schnäppchenpreisen erstanden hatte, gehegt und gepflegt. Bei jedem meiner Besuche hatte sie mir stolz ihr neuestes Fundstück präsentiert.
Meine Mutter hatte zwei Dinge geliebt – ihren Garten und ihre Antiquitäten. Nur aus diesen beiden Hobbys schöpfte sie ein wenig Glück. Mit ihrem Tod war mit beidem Schluss. Der alte Mann sorgte dafür, dass in seinem kargen Haus jede Spur von diesen Leidenschaften verschwand.
Er hatte nicht lange gebraucht, um sie aus seinem Leben zu tilgen. Am Tag nach ihrem Tod fuhr ich zum Haus meiner Eltern. Zu ihrem Gedenken war ich entschlossen, meinen Groll auf meinen Vater unter Verschluss zu halten, hatte er sich doch am Vorabend geweigert, zu ihr ins Hospiz zu kommen, um Abschied von ihr zu nehmen. Während ich die ganze Nacht an ihrem Bett saß, hatte der Mann, den sie so viele Jahre lang geliebt hatte, es vorgezogen, sich im British Legion Club zu betrinken.
Doch so groß meine Wut auf ihn auch sein mochte, so sehnte ich mich nach der Gegenwart eines Menschen, der sie gut gekannt und ebenfalls geliebt hatte. Ich wollte durch ihren Garten spazieren, der unter ihren Händen entstanden war, ein letztes Mal ihre Porzellansammlung betrachten und ihre Gegenwart spüren. Ich wollte sie als die Mutter in Erinnerung behalten, die sie mir gewesen war, bis ich sechs wurde: die Mutter, die mit mir gespielt hatte, die mir Gutenachtgeschichten vorgelesen und mich auf den Schoß genommen und mich liebkost hatte. Das war die Mutter, die ich immer geliebt hatte. Die andere Mutter – die ihr Kind geopfert hatte, um ihren Traum einer glücklichen Ehe inszenieren zu können, und sich nie zu ihrer Schuld bekannt hatte – wollte ich vergessen.
Als ich in dem ehemaligen Bauernhaus ankam, das meine Eltern einige Jahre zuvor renoviert hatten, war ich bereit, meine Wut in Schach zu halten und eine Tasse Tee mit meinem Vater zu trinken. Es war mir ein Bedürfnis, die endgültige Akzeptanz ihres Todes noch ein wenig aufzuschieben und ein paar Erinnerungen mit ihm zu teilen, so wie es jede normale Tochter getan hätte. Ich stieg aus dem Wagen, ging zu der blau gestrichenen Haustür und wollte sie öffnen, doch sie war verschlossen. Bereits in diesem Moment war mir klar, dass ich mich gehörig getäuscht hatte, als ich hoffte, auch nur auf ein Mindestmaß an Normalität zu treffen.
Ich betätigte den Türklopfer aus Messing und trat zurück.
Dann hörte ich seine schlurfenden Schritte und das Geräusch des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde. Mein Vater öffnete die Tür und blieb demonstrativ in der Öffnung stehen, um mir den Weg zu versperren. Aus blutunterlaufenen Augen, die tief in seinem aufgedunsenen Gesicht lagen, starrte er mich an. Sein Aussehen war nicht etwa seiner Trauer geschuldet, sondern, wie ich unschwer seiner Fahne entnehmen konnte, seinem heftigen Alkoholkonsum.
»Was willst du?«, fragte er barsch. Ein Anflug meiner alten Kindheitsangst ließ mich unweigerlich ein Stück zurückweichen. Ich straffte die Schultern, um es zu verbergen, aber es war zu spät. Er hatte meine Reaktion bereits bemerkt, und ein triumphierendes Funkeln trat in seine Augen. »Nun, Antoinette, ich habe dich etwas gefragt.«
Obwohl ich meinen Vater ja kannte, überraschte mich, wie aggressiv er war, hatte ich doch gedacht, einen trauernden Ehemann vorzufinden.
Fest entschlossen, mich nicht beirren zu lassen, sagte ich: »Ich bin gekommen, um nach dir zu sehen und zu fragen, ob du Hilfe beim Aussortieren von Mutters Sachen brauchst. Und wo ich schon mal da bin, dachte ich, wir könnten eine Tasse Tee zusammen trinken.«
»Warte hier.« Er schlug mir die Tür vor der Nase zu, und ich stand völlig verdattert da.
Gewiss würde er doch die Beisetzungsformalitäten mit mir besprechen wollen, dachte ich. Ich war ihr einziges Kind.
Aber das tat er nicht.
Nach ein paar Minuten ging die Tür wieder auf, und er warf mir einige prall gefüllte schwarze Müllsäcke vor die Füße.
»Hier sind die Kleider von deiner Mutter«, sagte er. »Du kannst sie ja zu einem Wohlfahrtsladen bringen. Aber pass auf, dass sie nicht hier in der Nähe landen, ich will nämlich nichts davon wiedersehen.«
Mit diesen Worten schlug er mir abermals die Tür vor der Nase zu. Wieder hörte ich Schlüsselgeräusche, während ich völlig perplex auf der Schwelle stand, die schwarzen Plastiksäcke zu meinen Füßen, aus denen die Kleidungsstücke meiner Mutter quollen.
Er war selbst zu geizig, ihre Koffer herzugeben, dachte ich ungläubig und machte mich daran, die Säcke in meinem Wagen zu verstauen.
Erst nach der Beerdigung entdeckte ich, dass er heimlich begonnen hatte ihre persönlichen Wertgegenstände zu veräußern. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass ich ihm auf die Schliche kam, und hatte mich deswegen nicht ins Haus lassen wollen. Um meine Meinung scherte er sich zwar einen Dreck, aber gewiss wollte er nicht, dass sich sein würdeloses Tun herumsprach.
Beim Durchsehen der Kontoauszüge wurde mir klar, dass er es nicht aus wirtschaftlicher Not getan hatte, sondern aus reiner Gier. Um sich immer wieder von neuem an den eingegangenen Beträgen zu ergötzen. Den vom vielen Durchblättern fleckig gewordenen Auszügen nach zu urteilen, hatte er seine Habgier gehörig ausgekostet.
Gewiss hätte meine Mutter gewollt, dass ich ein paar Erinnerungsstücke aus ihrer Sammlung bekam, und selbst wenn es nur eines der Teile gewesen wäre, die ich ihr selbst geschenkt hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie, als sie im Sterben lag und noch bei vollem Bewusstsein war, ihm keine entsprechenden Anweisungen erteilt hatte.
Während ich mir wieder einmal das Ausmaß der Boshaftigkeit meines Vaters vergegenwärtigte, hatte ich das Gefühl, die Wände um mich herum würden sich auf mich zubewegen, um mich zu zerquetschen.
Wieder rief ich mir unser Gespräch ins Gedächtnis, bei dem ich erfuhr, dass er ihr gemeinsames Haus noch vor ihrem Tod zum Verkauf angeboten hatte und bereits drei Tage nach ihrem Dahinscheiden Händler ins Haus strömten, um die Wertgegenstände in Augenschein zu nehmen.
»Du hast die Erinnerungen an ihr ganzes Leben verscherbelt«, schrie ich ihn am Telefon an.
»Nun, es gehört jetzt alles mir, und ich kann damit machen, was ich will«, erwiderte er nur. »Dumm, dass deine Mutter kein Testament gemacht hat und du umsonst deine Zeit an ihrem Krankenbett verschwendet hast, um auf ihren Tod zu warten.«
Das war mein letztes Gespräch mit ihm, bis eines Tages das Sozialamt bei mir anrief, um mir mitzuteilen, mein Vater zeige Anzeichen von Senilität und ob ich ihn nicht besuchen kommen wolle. Er hatte darum gebeten, mich zu benachrichtigen, in der Annahme, dass mein tief verwurzelter Gehorsam nach all den Jahren noch immer intakt war.
Wider besseres Wissen fuhr ich nach Irland und besuchte ihn in seinem Haus, nur um Zeugin zu werden, wie er drei Generationen von Frauen mit seinem Charme becircte. Da saß er und hielt Hof vor einem ungleichen Frauentrio – der zuständigen Sozialarbeiterin, seiner Pflegerin, die täglich zu ihm kam, und einer befreundeten älteren Frau. Als ich das Wohnzimmer betrat, schenkte er mir ein selbstgefälliges Lächeln.
»Ah, da ist ja meine kleine Tochter. Endlich ist sie gekommen, um ihren alten Vater zu besuchen!«, rief er mit spöttischem Unterton, in dem auch Triumph mitschwang. Von Dankbarkeit keine Spur.
Während ich nun erneut in seinem Haus saß, spürte ich, wie seine Gegenwart verwehte, während die kalte Luft durch die Räume strömte. Mir wurde bewusst, dass es hier nichts von mir gab – nichts, was mich an die Vergangenheit erinnerte, nichts, was mich hätte trösten können, aber auch nichts, was mir Angst einflößte. Von den persönlichen Dingen meiner Mutter war nur der Schreibtisch geblieben, wo ich das Notizbuch, jenen Brief und drei Fotos gefunden hatte.
Vergeblich suchte ich im Wohnzimmer nach weiteren Fotos von meiner Mutter und mir, nach etwas, was mich mit der Vergangenheit verband, aber da war nichts. Stattdessen lagen auf dem Couchtisch Fotos aus jüngerer Zeit. Sie zeigten meinen Vater zusammen mit Freunden im Wohnzimmer seines neuen Hauses, offensichtlich beim Feiern. Die Zecher prosteten breit grinsend mit ihren Gläsern in die Kamera. Auf dem abgebildeten Couchtisch waren Flaschen zu sehen, und daneben konnte man vage Glückwunschkarten erkennen. War der Anlass für das Gelage sein Geburtstag gewesen?, fragte ich mich. Ich nahm die Lupe meines Vaters zur Hand und versuchte, die winzige Schrift auf dem Foto zu entziffern. Nein, »Willkommen im neuen Heim« stand da. Also hatte er nur sechs Wochen nach ihrem Tod eine Einzugsparty abgehalten.
Wieder nahm ich das Foto und den Brief meines Vaters an meine Mutter zur Hand. Als könnte ich die darin enthaltenen Worte zusammen mit dem Papier zerstören, zerriss ich langsam den Brief. Doch noch während ich es tat, wusste ich, dass es ein vergebliches Unterfangen war; die Worte hatten sich bereits in mein Gedächtnis eingebrannt, und sie würden mich, noch lange nachdem ich das Haus meines Vaters wieder verlassen hatte, in meinen Träumen verfolgen.
Ich brachte es nicht über mich, die Fotos zu vernichten, stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich lange jenes anstarrte, das mich als kleines Kind zusammen mit meiner Mutter zeigte. Ein Fotograf hatte es offenbar gemacht, und die kleine Antoinette musste etwa ein Jahr gewesen sein. Sie saß auf den Knien ihrer Mutter, während die dreißigjährige Ruth in einem Kleid mit viereckigem Halsausschnitt, das Haar in weichen Wellen auf die Schultern herabfallend, sie mit beiden Händen hielt. Ruth hatte den Kopf leicht gebeugt, und ein stolzes Lächeln umspielte ihren Mund. Mutter und Kind wirkten glücklich und zufrieden.
Das kleine pummelige Mädchen in seinem hübschen Seidenkleidchen und mit seinem Schopf feiner Haare und dem breiten zahnlosen Lachen sitzt zufrieden auf den Knien seiner Mutter und umklammert mit dem Patschhändchen eine Rassel. Das Bild eines Kindes, das sich geliebt fühlt und vertrauensselig in die Kamera blickt.
Kurz kam mir der Gedanke, dass zu diesem Zeitpunkt weder die Mutter noch das kleine Kind ahnen konnten, dass wenige Jahre später ihre Welt aus den Fugen geraten würde. Seufzend legte ich das Foto umgedreht auf den Schreibtisch zurück.
Wieder dachte ich an den Schatten, der sich in den folgenden Jahren auf das Leben dieses Kindes gelegt hatte, und an die bittere Kindheit, die es später hatte ertragen müssen. Ich dachte an den Teenager, der aus ihr geworden war, und ihren unvermeidlichen Fall in den schwarzen Abgrund, der sich vor ihr auftat, nachdem sie bei ihrer Mutter auf immer offenkundigere Ablehnung gestoßen war.
Und wieder sah ich vor meinem geistigen Auge das trostlose möblierte Zimmer, wo Antoinette zusammengerollt auf dem Bett lag, unfähig, zu erwachen und einem neuen Tag ins Auge zu blicken. Wieder fühlte ich die abgrundtiefe Angst, in deren Fänge sie geraten war, die Angst vor einer absolut feindlichen Welt.