Eine Stunde nachdem der Arzt Antoinette in ihrem Zimmer besucht und ihr eine Beruhigungsspritze gegeben hatte, wurde Antoinette zum zweiten Mal in ihrem kurzen Leben in die Klinik eingeliefert. Wieder kam sie auf die offene psychiatrische Station der Nervenheilanstalt, eines düster-drohenden Gebäudes am Stadtrand von Belfast.
Die psychiatrische Abteilung war in einem eigenen Gebäudeteil etwas abseits vom Haupttrakt untergebracht. Mit ihrer freundlichen Einrichtung sollte den Patienten das Gefühl vermittelt werden, dass sie sich in einer anderen Welt befanden als die Langzeitinsassen der geschlossenen Abteilung. Und doch dräute vor ihren Augen das rote Backsteingebäude, das aus einer anderen Zeit herrührte, gleichsam als Mahnmal dessen, wo sie landen würden, sollten sie nicht auf die ihnen zugedachte Behandlung ansprechen. In diesem Fall würde man sie binnen fünf Minuten von einem Trakt in den anderen schaffen können, hinüber in diese andere Welt; eine Welt mit vergitterten Fenstern, in der man sie in verwaschene Kittel steckte und sie mit schweren Medikamenten ruhigstellte.
Bereits am Tag nach ihrer Einlieferung hatte Antoinette ihre erste Elektroschockbehandlung.
Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen, ihr war übel, und neben ihrem Bett stand eine kleine Schüssel, in die sie sich immer wieder übergab. Als sie die Augen öffnete, sah sie eine verschwommene Gestalt in einem blauweißen Kleid. Sie hörte ein Wirrwarr sinnloser Laute, darunter auch das Wort »Antoinette«, das mehrmals wiederholt wurde, doch sie erkannte ihren eigenen Namen nicht mehr.
Langsam kehrten ihre körperlichen Kräfte wieder zurück und mit ihnen die wispernden Stimmen. Sie waren auch hier um sie, versetzten sie in Angst und Schrecken. Im verzweifelten Versuch, ihnen zu entkommen, sprang sie aus dem Bett, floh aus dem Zimmer und lief den Flur entlang. Doch das Geflüster verfolgte sie. Ihr langes Krankenhausnachthemd flatterte um ihre nackten Knöchel und brachte sie beinahe zum Stolpern, während sie ihren Verfolgern zu entkommen versuchte. Erst als sie blind vor Tränen gegen eine Wand rannte, blieb sie stehen. Sie ließ sich an der Wand entlang zu Boden gleiten, während sie die Fäuste gegen die Ohren presste. Vergeblich indes, denn die Stimmen ließen sich nicht ausblenden.
Hände griffen nach ihr, um sie hochzuheben, doch sie sträubte sich dagegen. Wieder hörte sie diesen Namen. Sie wollte sie bitten, ihr nicht weh zu tun, aber sie hatte die Fähigkeit verloren, Worte zu bilden. Nur eine animalisch anmutende, verzweifelte Klage kam über ihre Lippen.
Wieder wurde ihr eine Nadel in den Arm gestochen. Dann wurde sie hochgehoben und in einen Rollstuhl gesetzt und in den Krankensaal zurückgeschoben. Dort legte man sie in ihr Bett, wo sie in einen gnädigen Schlaf fiel.
Als sie erwachte, saß ein Mann an ihrem Bett.
»Na, aufgewacht?«, fragte er, als sie blinzelnd die Augen aufschlug. Verwirrt versuchte sie, den Blick auf ihn zu fokussieren. Aber sie verstand ihn nicht.
»Erinnerst du dich nicht an mich, Antoinette? Ich war einer der Ärzte, die dich behandelt haben, als du vor zwei Jahren schon mal hier warst.«
Nein, sie erinnerte sich nicht. Sie wusste weder, wo sie vor zwei Jahren gewesen war, noch, wo sie sich jetzt befand, und drehte den Kopf weg, um die Worte nicht hören zu müssen. Seine Stimme log und verhöhnte sie genauso wie die anderen. Das Gesicht noch immer abgewandt, presste sie die Augen fest zu, in der Hoffnung, er würde weggehen. Schließlich bemerkte sie, wie er das Zimmer verließ. Dann öffnete sie wieder die Augen und betrachtete ängstlich ihre Umgebung.
Die Vorhänge, mit denen man das Bett abschirmen konnte, waren zurückgezogen, und sie sah Menschen vorbeigehen, die sie anstarrten. Wütend lehnte sie sich über den Bettrand, zerrte an den Vorhängen und zog sie zu. Dies war ihr persönlicher Raum, sie duldete keine Eindringlinge hier.
Später halfen ihr zwei Schwestern, sich einen Bademantel anzuziehen, dann stützten sie sie auf beiden Seiten und begleiteten sie in den Speisesaal. Dort drehte sie den Stuhl zur Wand. Wenn sie keine anderen Menschen sah, so dachte sie, würde auch sie nicht von ihnen gesehen werden.
Ihr Geist war verwirrt. Sie war benommen und desorientiert, und sie suchte noch immer nach der völligen Vergessenheit, aber die Medikamente hatten dafür gesorgt, dass sie nicht mehr wusste, weshalb sie vergessen wollte.
Wenn die Schwestern mit ihr sprachen, weigerte sie sich, ihnen zu antworten, weil sie hoffte, so auch die Stimmen um sie herum zum Verstummen zu bringen. Wenn man versuchte, ihr Essen einzuflößen, schüttelte sie vehement den Kopf und stieß ein Wimmern aus. Wieder wurden ihr Tabletten in den Mund geschoben, und ihr wurde ein Glas Wasser an die Lippen gehalten. Sie schluckte sie und zog sich abermals in den Schlaf zurück.
Es war Zeit für ihre nächste Elektroschockbehandlung. Sie hatte keine Ahnung, wann sie die letzte bekommen hatte, noch, wie lange sie schon im Krankenhaus war. Die Schwester sagte, die Therapie würde ihr helfen, aber Antoinette war das egal. Sie hatte die wirkliche Welt verlassen und hegte nicht den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Ihre Tage waren von einem Medikamentennebel verhangen, und nachts verabreichte man ihr noch stärkere Mittel, damit sie schlafen konnte. Noch immer weigerte sie sich, zu sprechen.
Immer wieder setzte sich eine Schwester oder Ärztin an ihr Bett, hielt ihre Hand, sagte ihren Namen, doch die einzige Reaktion, die sie erfuhr, war ein neuerlicher Weinkrampf.
»Antoinette, sprich mit mir«, flehte die Psychiaterin an diesem Morgen zum dritten Mal. »Wir wollen dir helfen, wir wollen, dass du wieder gesund wirst. Willst du nicht, dass es dir wieder besser geht?«
Schließlich drehte Antoinette den Kopf zu der Ärztin und sah sie zum ersten Mal an. Sie erkannte ihre Stimme. Die Schwestern hatten sie schon mehrmals zu ihr gebracht, in der Hoffnung, dass sie es schaffte, zu ihr durchzudringen, damit die Therapie endlich anschlagen könnte.
Zum ersten Mal in drei Wochen sprach Antoinette mit krächzender, aber kindlicher Stimme. »Sie können mir nicht helfen.«
»Warum nicht?«
Es dauerte eine Weile, bis Antoinette antwortete. »Ich habe ein Geheimnis. Niemand kennt es, außer mir.«
»Was für ein Geheimnis?«
»Wir sind alle tot. Ich bin tot, Sie sind tot. Wir sind gestorben.«
»Wenn wir alle tot sind, wo befinden wir uns dann?«
»Wir sind in der Hölle, aber niemand weiß es – nur ich.« Ihr Blick traf den der Psychiaterin, doch Antoinette sah sie nicht. Sie sah nur die Geister. Die Knie mit den Armen umschlingend, begann sie den Oberkörper vor und zurück zu wiegen. Dann sang sie: »Wir sind tot. Wir sind tot.« Immer wieder sang sie diesen Refrain, bis sie schließlich lachen musste, weil sie wusste, dass die Ärztin ihr nicht glaubte.
Sanft fragte diese: »Und warum glaubst du, dass wir tot sind?«
Aber Antoinette hatte sich bereits wieder tief in sich selbst zurückgezogen und das Gesicht abgewandt. Die Ärztin rief eine Schwester, damit diese das Mädchen in den Krankensaal zurückbrachte. Die Therapiestunde war zu Ende.
Zurück an ihrer Bettstatt, zog Antoinette die Vorhänge rund ums Bett zu und setzte sich in die Bettmitte. Wieder umklammerte sie mit den Armen die Knie, wiegte sich vor und zurück und kicherte bei dem Gedanken, dass sie der einzige Mensch war, der die Wahrheit wusste.
Am nächsten Tag erhöhte man die Dosis ihrer Beruhigungsmittel, während man gleichzeitig mit den Elektroschocks fortfuhr.
Noch immer deutete nichts auf ein Abschwächen ihrer Depression hin. Im Gegenteil, die vier Elektroschockwellen, die man durch ihr Gehirn jagte, sorgten dafür, dass sie sich nur noch tiefer in sich zurückzog. Wenn sie dazu dienten, ihr Erinnerungsvermögen zu trüben und ihr zu helfen, die Vergangenheit zu vergessen, bis sie langsam wieder in der Lage war, sich ihr zu stellen, hatten sie das Ziel verfehlt. Im Gegenteil: Nun suchten die Dämonen ihrer Albträume sie auch in ihren wachen Stunden heim.
Das schreckliche Gefühl, vollständig außer Kontrolle zu sein, gejagt zu werden und in die Tiefe zu stürzen, überkam sie nun auch tagsüber und verstärkte ihre Panik. Die flüsternden Stimmen, die sie verhöhnten, verstummten nicht mehr. Sie versteckte sich bei zugezogenen Vorhängen in ihrem Bett und versuchte, dort Zuflucht vor ihren abgrundtiefen Ängsten zu finden. Immer noch weigerte sie sich, zu sprechen, weil sie dachte, wenn man sie nicht hörte, würde sie allmählich unsichtbar werden.
In der Kantine drehte sie den Stuhl noch immer zur Wand. Sie wollte sich den Anblick all dieser Menschen ersparen, die tot waren, ohne es zu wissen.
Die fünfte Elektroschockbehandlung schien endlich eine Besserung zu bringen. Diesmal versuchte sie nicht, wegzurennen, als sie allmählich wieder ihr Bewusstsein erlangte. Die Wolken in ihrem Kopf lichteten sich, und plötzlich merkte sie, dass sie Durst hatte.
»Kann ich bitte einen Tee bekommen, Schwester?«, fragte sie.
Die für den Krankensaal zuständige Schwester war so überrascht, dass sie sofort in die Küche eilte und rasch einen Tee zubereitete. Dann kam sie zurück und hielt Antoinette eine dampfende Tasse hin.
Das Gefäß mit beiden Händen haltend, nippte Antoinette vorsichtig an dem heißen Getränk. Sie bemühte sich, durch ihren vernebelten Geist hindurch etwas auszumachen. Zu begreifen, wo sie sich befand und wer sie war.
»Möchtest du noch etwas anderes, Antoinette?«, fragte die Schwester.
»Meine Mutter«, antwortete sie. »Ich will meine Mutter.«
Eine Sekunde lang herrschte Schweigen.
»Sie kann noch nicht kommen«, sagte die Schwester in tröstendem Tonfall. »Aber ich bin sicher, bald wird sie dich besuchen. Besonders wenn sie hört, was für Fortschritte du machst. Es muss dir erst besser gehen – heute hast du zum ersten Mal seit deiner Ankunft gesprochen.«
»Ja«, sagte Antoinette emotionslos und nippte wieder an ihrem Tee.