»Aufwachen!«
Antoinette spürte, wie jemand sanft an ihrer Schulter rüttelte. Blinzelnd schlug sie die Augen auf und blickte in blaue Augen unter rötlichen Augenbrauen. Irgendwoher kannte sie das Gesicht, aber woher?
»Ich bin’s, Gus. Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Doch, sie kannte diese Stimme, aus der so viel Freundlichkeit sprach. Sie gehörte dem Mädchen, mit dem sie sich bei ihrem letzten Klinikaufenthalt vor zwei Jahren angefreundet hatte. Benommen blickte sie Gus an, ehe sie zögernd die Hand ausstreckte. Als sie die warme Hand des Mädchens spürte, wusste sie, dass sie wirklich war.
»Gus«, sagte sie. Gus konnte doch nicht hier sein. Sie war schon vor Langem wieder gegangen. Antoinette erinnerte sich, wie ihre Eltern sie abgeholt hatten.
Als Gus ihre Verwirrung erkannte, drückte sie leicht ihre Hand. »Ich bin auch wieder hier«, erklärte sie und beantwortete damit die unausgesprochene Frage ihrer Freundin.
»Warum?«
Gus schob einen Ärmel hoch und zeigte die feinen, leicht gezackten Narben, die vom Handgelenk bis hinauf zu ihrem Ellbogen verliefen. Antoinette sah alte Narben und welche, die noch nicht ausgeheilt waren.
»Warum?«, fragte sie nochmals.
Gus’ Augen füllten sich mit Tränen, und sie wischte sie rasch mit dem Handrücken weg. Antoinette hob die andere Hand und streichelte sanft das Gesicht, das zu ihr herabblickte.
»Ich bin jetzt schon zum dritten Mal hier. Früher oder später kommen wir alle zurück«, erklärte Gus ungerührt. »Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, ich kann gar nicht tiefer sinken. Wenn ich auf dem Boden aufschlage, sage ich mir, dass die einzige Möglichkeit weiterzumachen ist, mich wieder hochzuziehen. Und Tage später, wenn ich mich dann mühsam hochgezogen habe und von oben in den Abgrund hinunterblicke, merke ich auf einmal, dass ich schon wieder zu fallen beginne.«
Antoinette rief sich ihre eigenen Albträume ins Gedächtnis, in denen unsichtbare Klauen sie hinabzuzerren versuchten, und verstand genau, was ihre Freundin meinte. Sie verstand jedoch nicht, was Gus dazu brachte, zu solch drastischen Maßnahmen zu greifen. »Aber warum, Gus? Du hast so nette Eltern, eine Familie, die sich um dich kümmert. Warum?« Es war ihr ein Rätsel.
»Warum ich vor mich hin weine? Warum ich mir das hier antue, wo ich doch alles habe, worum du mich beneidest, meinst du das? Wenn ich das nur selbst wüsste, ach, wenn ich das wüsste, könnte ich damit aufhören. Nur wenn ich mir etwas antue, habe ich das Gefühl, die Kontrolle über mich zu haben. Nur dann verfüge ich über mich. Meine Eltern bemühen sich so sehr, mich zu verstehen, mir zu helfen.« Ein Blick, in dem sich tiefe Traurigkeit mit tiefer Verwirrung vermischte, huschte über ihr Gesicht. »Und was ist mit dir passiert?« Sie drehte Antoinettes Hand um und betrachtete ihr Handgelenk, sah jedoch keine frischen Narben.
Es entstand eine lange Pause, bis Antoinette endlich antwortete. »Er ist wieder da. Meine Mutter hat ihn wieder bei sich aufgenommen.«
Gus wusste, wer er war. Sie drückte die Hand der Freundin. »Und was ist dann passiert?«
»Ich weiß auch nicht. Alles ist durcheinandergeraten, und plötzlich bin ich hier aufgewacht. Ich bin so müde – müde davon, einen Sinn in meinem Leben erkennen zu wollen, und müde davon, ums Überleben zu kämpfen.« Und wie um ihre Worte zu bekräftigen, fielen ihr die Augen auch schon wieder zu. Doch diesmal spürte sie beim Einschlafen einen Frieden, den sie seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. So wie Gus sie verstand, könnten die Ärzte sie nie verstehen, lebte sie doch am gleichen dunklen Ort wie sie.
Die Schwestern hatten die beiden Mädchen allein gelassen, als sie sahen, dass sie sich unterhielten. Wenn es Gus gelang, die Schutzmauer zu durchbrechen, die ihre jüngste Patientin um sich errichtet hatte, wollten sie nicht stören. Sie wussten, dass Patienten sich untereinander oftmals besser verstanden, als Außenstehende es vermochten, und dass die Freundschaften, die im Krankenhaus entstanden, den Heilungsprozess unterstützen konnten.
Gus brauchte nicht lange, um eins und eins zusammenzuzählen. Bald hatte sie den Grund für Antoinettes Zusammenbruch erfasst. Als Antoinette wieder erwacht war, kehrte sie zurück, setzte sich auf die Bettkante zu ihrer Freundin und sah sie streng an.
»Schau. Ich bin krank, aber du bist einfach nur unglücklich. Der Kummer, den du erlebt hast, war zu viel für dich. Deshalb hast du schließlich versucht, in dir selbst zu verschwinden.« Gus sprach, als wäre sie fest entschlossen, Antoinettes Schutzmauer einzureißen. »Du musst verstehen, dass die Menschen oftmals gerade zu jenen gemein sind, denen sie Unrecht angetan haben. Die Menschen hassen es, ein schlechtes Gewissen zu haben, und hadern mit ihren Opfern, als ob sie die Ursache dafür wären. Damit lässt sich das Verhalten deiner Mutter erklären. Aber dein Vater scheint mir ein anderer Fall zu sein.« Gus zog eine Grimasse beim Gedanken an diesen Mann, dem sie nie begegnet war. »Er verachtet dich dafür, dass du ihn hast tun lassen, was er dir angetan hat. Als du klein warst, hattest du keine andere Wahl. Aber jetzt hast du sie.« Sie unterbrach sich, um sich zu vergewissern, dass Antoinette ihr folgte, und sagte dann feierlich: »Du musst von ihnen wegkommen oder zumindest verhindern, dass sie dich weiter so behandeln. Vielleicht hätte er dich in Ruhe gelassen, wenn du ihm die Stirn geboten, ihm gezeigt hättest, dass er keinen Einfluss mehr auf dich hat. Und was deine Mutter betrifft … na ja, sie wird ihm wohl immer folgen und wird sich nie ändern.«
»Warum glaubst du, dass mein Vater mich verachtet?«, fragte Antoinette, die spürte, dass ihre Freundin einen wunden Punkt bei ihr getroffen hatte.
»Weil ich meinen Eltern gegenüber genauso fühle. Sie würden alles tun, damit es mir besser geht. Egal, wie sehr ich sie verletzte, sie lieben mich. Sie lesen mir jeden Wunsch von den Augen ab. Sie geben sich die Schuld für meine Krankheit. Ich liebe sie zwar, aber dennoch verachte ich sie und kann nichts dagegen tun.«
»Ich habe Angst, Gus«, sagte Antoinette. »Angst davor, wieder hinauszugehen.«
»Kann es denn schlimmer sein als das, was du zurzeit durchmachst? Erkennst du nicht, was deine Eltern dir antun? Sie werfen dir Steine zwischen die Füße, wo immer sie nur können. Sie tyrannisieren dich und machen dich zu einem jämmerlichen Häufchen. Aber da draußen gibt es ein Leben, also nimm es an, sonst wirst du immer wieder im Krankenhaus landen. Und nun komm, es ist Zeit zum Abendessen.«
Gus lächelte und half Antoinette aufzustehen und sich anzuziehen. Zusammen gingen sie in den Speisesaal, und zum ersten Mal drehte Antoinette nicht den Stuhl zur Wand.