Siebenundzwanzig

In den frühen Sechzigerjahren galt Paranoia als gefährliche Krankheit. Antoinette hatte Tim angegriffen, ohne von ihm provoziert worden zu sein. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass sie an diesem Morgen mit Elektroschocks behandelt worden war. Die Zweifel der sie behandelnden Ärzte, ob Elektroschocks als Therapie für sie überhaupt sinnvoll waren, schob man beiseite. Es bedurfte nur eines Anrufs der Stationsschwester – einer Frau der alten Schule, die wenig für die Freiheiten übrig hatte, die man den Patienten auf der neuen psychiatrischen Station einräumte –, und schon war Antoinettes Überweisung in die geschlossene psychiatrische Abteilung beschlossene Sache.

Antoinette sah zu, wie eine Schwester ihre Sachen zusammenpackte. »Wohin werde ich gebracht?«, fragte sie.

Die Schwester fuhr mit gesenktem Kopf fort, ihren Schrank auszuräumen, ohne zu antworten.

Plötzlich bekam Antoinette Angst und wiederholte die Frage. »Wohin bringen Sie mich?«

»An einen Ort, wo man sich besser um dich kümmern kann.«

Die frostige Stimme erklang hinter ihr. Antoinette wirbelte herum, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Die Stationsschwester stand ein paar Meter von ihr entfernt in der Tür und sah sie eindringlich an. Anfang dreißig, das dünne Haar straff zurückgekämmt und in einem Haarknoten befestigt, stand sie in ihrer blauen Schwesterntracht stocksteif da, als hätte sie einen Besen verschluckt. Von der ersten Minute an hatte Antoinette der Schwester gegenüber eine tiefe Antipathie empfunden. Jedes Mitglied des Pflegepersonals war in die jeweilige Krankengeschichte der Patienten eingeweiht, und Antoinette hatte instinktiv gespürt, dass die Stationsschwester wenig Verständnis für ihre Situation aufbrachte. Sie fühlte sich von ihr beobachtet, merkte, wie ein hämisches Grinsen über ihr Gesicht huschte, sobald sich Antoinette mit einem Pfleger oder einem männlichen Patienten unterhielt. Immer wieder hatte Antoinette das Gefühl gehabt, die Frau warte nur darauf, dass ihre Patientin einen Fehler machte. Und jetzt hatte Antoinette endlich einen gemacht und der Schwester den entscheidenden Vorwand geliefert, sie loszuwerden. Als ihre Blicke sich trafen, erkannte Antoinette die Genugtuung in ihrem Gesicht. Es war die Schwester, die ihren Blick als Erste abwandte.

Antoinette sollte am frühen Abend, wenn die anderen Patienten Besuch hatten und abgelenkt waren, in die geschlossene Abteilung wechseln. Sowohl den anderen Patienten als auch dem Personal machte es jedes Mal zu schaffen, wenn ein Patient in die Geschlossene verbracht wurde.

Nachdem ihr schmaler Schrank ausgeräumt war, saß Antoinette bei zugezogenen Vorhängen auf ihrem Bett. Eine Schwester stellte rasch ein Tablett mit Tee auf ihren Nachttisch, ehe sie wieder davoneilte. Wann immer eine Pflegekraft zu ihr hereinschaute, stellte Antoinette dieselbe Frage.

»Wohin werde ich gebracht?«

Aber niemand wollte es ihr sagen.

Die anderen Patienten mieden sie; man musste ihnen gar nicht erst sagen, dass Antoinette an den Ort kam, den sie am meisten fürchteten. Alle wussten, dass jeden, dessen Zustand sich nicht allmählich verbesserte oder der zu Anfällen neigte, wie Antoinette einen gehabt hatte, dieses Schicksal ereilte – die Verlegung ins Hauptgebäude.

Als es Abend wurde, war es so weit.

Die Abteilungsschwester und zwei männliche Krankenwärter erschienen an ihrem Bett, von denen einer ihren Koffer hochhob. Ihre grimmigen Mienen sagten ihr, dass es sinnlos wäre, durch Schreien, Treten oder lautes Protestieren gegen ihre Verlegung zu protestieren, denn sie würden jeden Versuch des Widerstands im Keim ersticken. Antoinette hatte auch nicht die Absicht, der Stationsschwester den Gefallen zu tun, zu weinen, aber sie nahm all ihre Kraft zusammen, um erneut ihre Frage zu stellen.

»Wohin bringen Sie mich?«

Diesmal wich die Schwester ihrem Blick nicht aus. Stattdessen sagte sie mit einem nahezu triumphierenden Lächeln: »Du wirst auf die Station F3 A gebracht.«

Antoinette erstarrte. F3 A war sozusagen die Endstation. Dort landeten all jene Patienten, bei denen keine Hoffnung auf Besserung oder Heilung bestand. Es war die Station, in der die Frauen weggesperrt und dann vergessen wurden. Sie blieben dort, bis sie alt und gebrechlich waren oder starben. Jeder wusste, wo sich diese Station befand, die hinter fest verschlossenen Türen vor neugierigen Augen abgeschottet war. Aber man konnte von außen die vergitterten Fenster sehen. Obwohl kein Patient von Antoinettes Station je einen Blick ins Innere dieser Räume erhascht hatte, kursierten allerlei Gerüchte darüber.

In den düsteren Räumen, so hieß es, waren dreißig Frauen der Obhut von nur zwei Schwestern überlassen. Auf speziell angefertigten Holzstühlen fixiert, saßen sie stundenlang da und starrten dumpf vor sich hin. Die verordneten Medikamente dienten nicht der Therapie, sondern einzig der Ruhigstellung der Patienten. Und um sie gefügig zu machen, wurden sie unterschiedslos mit Elektroschocks behandelt. Die Frauen auf dieser Station hatten keine Möglichkeit, sich zu beschweren, denn es gab niemanden, an den sie ihre Beschwerde hätten richten können. Sie hatten schon vor langer Zeit ihre bürgerlichen Rechte eingebüßt, nachdem sie von ihren Angehörigen abgeschoben worden waren. Sie waren verlorene Seelen, von der Außenwelt vergessen.

Man bekam sie nur selten zu sehen. Begleitete Spaziergänge auf dem weitläufigen Gelände um die Klinik gab es für sie ebenso wenig wie die Gelegenheit, sich in der Kantine unter die anderen Patienten zu mischen. Stattdessen führte man sie drei Mal täglich zu ihrem abgetrennten Bereich im Speisesaal des Hauptgebäudes, und kaum war ihre Mahlzeit beendet, wieder auf ihre Station zurück.

Einmal, als Antoinette im Hauptgebäude gewesen war, hatte sie gesehen, wie eine Prozession erbärmlicher Gestalten in unförmigen Gewändern auf dem Weg zu ihrem Essensbereich vorbeizog, begleitet von zwei mit Stöcken bewaffneten Schwestern. Schweigend und mit niedergeschlagenen Augen waren die dreißig Frauen an Antoinette vorbeigeschlurft: wie graue Gespenster. Nur das Geräusch ihrer Latschen war zu hören gewesen.

Die Frauenstation 3 A beherbergte nicht nur Patientinnen ohne Hoffnung darauf, jemals entlassen zu werden, sondern auch zwei verurteilte Mörderinnen. Als geisteskranke Straftäterinnen waren sie ebenfalls zu einer lebenslangen Unterbringung in der geschlossenen Abteilung verdammt. Wahrlich kein Schicksal, um das man sie beneiden konnte. Im Gefängnis hätten sie wenigstens auf eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung hoffen können. Nicht jedoch hier.

Antoinette hatte bereits damit gerechnet, ins Hauptgebäude verlegt zu werden. Aber diese Station war das Schlimmste, was ihr passieren konnte.

Bestimmt wird es nur für kurze Zeit sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie wollen mich einfach nur bestrafen. Bald werde ich wieder auf meine alte Station zurückkehren dürfen. »Wie lange werde ich dort bleiben müssen?«, wagte sie zu fragen.

»Du wirst dort permanent untergebracht werden«, lautete die Antwort.

Antoinette zog sich ins Schweigen zurück. Etwas anderes konnte sie nicht tun, außerdem diente es ihr wie so oft zuvor in ihrem Leben als Schutzmechanismus. Sie verbarg die Angst, die sich durch ihre Benommenheit hindurch Bahn brach, hinter einer verschlossenen Miene und wartete auf den Befehl der Stationsschwester, sie wegzubringen.

Draußen regnete es, und Antoinette hielt ihr Gesicht in den sanften Nieselregen. Sie spürte die feuchte Kühle auf den Wangen und dachte, dass niemand es bemerken würde, wenn sie jetzt weinte. Man würde ihre Tränen für Regentropfen halten. Ein Krankenwagen wartete vor dem Gebäude auf sie. Die Krankenwärter halfen ihr beim Einsteigen, stellten den Koffer neben sie und schlossen die hintere Tür. Dabei vermieden sie es, sie anzusehen. Antoinette beobachtete, wie es im hinteren Teil des Wagens dunkel wurde. Eine Hand auf ihren Koffer gelegt, saß sie aufrecht auf dem Plastiksitz.

Der Motor wurde angelassen, und der Krankenwagen fuhr los.

Es war Anfang des Jahres, und die Nächte waren lang und die Tage kurz. Die Kälte drang durch ihren dünnen Mantel, aber Antoinette wusste nicht, ob sie wegen der klammen Kälte zitterte oder aus Angst. Sie wusste nur, dass man sie bestrafen wollte und dass die höhnischen Stimmen, die sie in ihren Albträumen verfolgten, recht behalten hatten. Die grauenvollen Drohungen waren Wirklichkeit geworden. Auf der Station F3 A würde sie für immer verschwinden.