Zweiunddreißig

Die Stationsschwester sorgte dafür, dass sie Bücher bekam.

Antoinette stellte fest, dass ihre Konzentration zurückkehrte, und genoss es, wieder lesen zu können. Sie las abermals ihre Lieblingsbücher aus ihrer Kindheit, als Erstes Agatha Christie, die sie zuletzt mit dreizehn verschlungen hatte. Die vertraute Lektüre empfand sie als tröstend.

Während der langen Tage im Gemeinschaftsraum setzte sie sich auf einen der harten Stühle und vertiefte sich in ein Buch.

Routine war sehr wichtig für Antoinette, und mit der Zeit fand sie den immer gleichen Tagesablauf erträglich. Sie war zwar nicht glücklich, aber wenigstens hatten sich die dunklen Wolken der Depression verzogen. An ihre Stelle war eine Gelassenheit getreten, die ihr eine gewisse Zufriedenheit mit ihrem Leben verschaffte.

Mittlerweile bemerkte sie sogar, dass sich die Schwestern ihr gegenüber von ihrer mütterlichen Seite zeigten. Sie schienen sich darüber zu freuen, wie sie schrittweise zur Normalität zurückkehrte. In ihren Augen war sie eine Ausnahme unter den Patienten, deren Zustand sich selten verbesserte. Auf dieser Station nahmen die Schwestern mehr die Rolle von Aufpasserinnen als von Pflegerinnen ein, und zuzuschauen, wie einer ihrer Schützlinge auf dem Weg der Besserung war, vermittelte ihnen ein Erfolgserlebnis, wie es ihnen fast nie zuteilwurde. Antoinette, die das spürte, bemühte sich umso mehr, ihnen zu gefallen, schließlich war sie noch immer ein Teenager, der nach Bestätigung lechzte. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie in den Augen der Schwestern eigentlich gar nicht hierhergehörte und dass diese es als Herausforderung betrachteten, ihr auf dem Weg der Genesung beizustehen. Sie war sich ihres Sonderstatus sehr wohl bewusst.

Auch wenn sie freundlich zu ihr waren, hatte sie manchmal das Gefühl, sie forderten sie heraus. Immer wieder stellten sie ihr Fragen, als wollten sie von ihr hören, dass sie gern wegwolle. Zum Beispiel: »Würdest du gern mal nach England reisen?« Oder: »Besuchst du deine Großmutter, wenn du nach England fährst?« Damit wollten sie sie dazu bringen, über ihre Zukunft nachzudenken, zu erwägen, dass es womöglich eine Zukunft außerhalb dieser Mauern gab. Doch die Zukunft war etwas, was Antoinette völlig ausgeblendet hatte; noch war sie zu sehr mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt und damit, mit der Gegenwart klarzukommen. Statt ihre Fragen zu beantworten, lächelte sie nur.

Nachdem sie sich geweigert hatte, die Patientenuniform anzuziehen, ließ man sie in Ruhe. Sie trug ihre eigenen Sachen, wusch und bügelte sie selbst in der Krankenhauswäscherei, wohin man sie mehrmals wöchentlich brachte. Sie hatte befürchtet, dass sie den Unmut der anderen Patienten hervorrufen würde, wenn sie als Einzige ihre eigenen Sachen trug. Aber niemand schien Anstoß zu nehmen, auch nicht ihre neuen Freundinnen aus der Kartenrunde: Eines Tages hatte sie begonnen mit zwei Frauen Karten zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben. Wie sich herausstellte, waren es die beiden Mörderinnen – neben ihr die Einzigen, deren Geist nicht völlig zerrüttet war. Doch auch diese beiden Frauen schienen keinen Wert mehr auf eigene Kleidung zu legen. »Wozu sollen wir uns mit Waschen und Bügeln herumplagen?«, sagten sie. »Die Krankenhauskleider sind viel bequemer, darum müssen wir uns nicht kümmern.« Die ältere der beiden hob außerdem hervor, dass es schließlich keine Männer gebe, denen sie gefallen wolle. Wer würde sie schon ansehen?

Antoinette erzählte ihnen nicht, warum sie ihre eigenen Sachen trug: um nicht zu vergessen, wer sie war.

Antoinette hatte sich zunächst gar nicht vorstellen können, dass diese beiden Frauen einen Mord begangen haben sollten, aber die Schwestern hatten sie ermahnt, wachsam zu sein. Elaine, die ältere, sei gefährlich. Nachdem Antoinette ihre kalten Augen gesehen hatte, glaubte sie ihnen.

Elaine, so hatte man ihr erzählt, war eine zweifache Mörderin. Sie hatte kaltblütig zwei Familienmitglieder ermordet. Nicht nur hatte sie nie ein Motiv genannt – außer dass die beiden ihr auf die Nerven gegangen seien –, sie hatte auch nie die geringste Reue gezeigt. Antoinette konnte sich tatsächlich vorstellen, dass die Opfer ihr ganz einfach lästig gewesen waren und es keinen anderen Grund für ihre Tat gegeben hatte. Die Schwestern erzählten ihr auch, Elaine habe sich einmal auf einen Stuhl gestellt und mit der bloßen Faust ein Fenster zertrümmert. Dann sei sie heruntergesprungen, habe sich eine Glasscherbe geschnappt, eine Schwester gepackt und sie ihr an die Kehle gehalten, wobei sie gelacht habe. Die andere Schwester habe die Alarmanlage betätigt, woraufhin zwei männliche Wärter herbeieilten, denen es gelang, Elaine davon zu überzeugen, ihre Waffe fallen und die Schwester freizulassen. Obwohl sie seither mit hohen Dosen Beruhigungsmitteln und Elektroschocks behandelt werde, sei sie unterschwellig noch immer aggressiv.

Jenny hingegen, die Jüngere, die dichtes kastanienbraunes Haar hatte, wirkte eher traurig als gewalttätig, wie Antoinette fand. Sie schien sich von Elaine eingeschüchtert zu fühlen, die jeden ihrer Schritte argwöhnisch verfolgte. Aber ehe Antoinette zu ihnen gestoßen war, waren sie die einzigen beiden Frauen auf der Station, die sich miteinander unterhalten konnten, eine Tatsache, die sie irgendwie zusammenschweißte.

Auch wenn sie mit den beiden Frauen nicht viel gemeinsam hatte, schätzte Antoinette es, mit ihnen Karten spielen zu können, ganz einfach weil die Zeit schneller verging. Eine Woche nachdem sie damit angefangen hatten, gesellten sich auch die Nachtschwestern zu ihnen, denen ebenfalls langweilig war, sodass sie plötzlich zu fünft waren. Antoinette brachte ihnen mehrere Kartenspiele bei, und im Gegenzug kochten die Schwestern kannenweise Tee und erlaubten den drei Insassinnen, länger aufzubleiben.

Als Antoinette eines Tages von ihrer Therapiesitzung in den Gemeinschaftsraum zurückkam, fand sie Jenny äußerst niedergeschlagen vor.

Antoinette ging zu ihr hinüber und zog sich einen Stuhl heran. »Wo ist Elaine?«, fragte sie. Jenny sah man selten allein, da Elaine ihr so gut wie nie von der Seite wich.

»Sie liegt mit schrecklichen Bauchkrämpfen im Bett. Man hat nach dem Arzt geschickt.«

»Das tut mir leid. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes und es geht ihr bald besser.«

Jenny zuckte gleichgültig die Schultern und starrte traurig ins Leere. Nach einer Weile sagte sie: »Ich werde nie mehr von hier wegkommen.«

Antoinette wusste zunächst nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie selbst vermied ja jeden Gedanken an morgen und lebte stattdessen nur im Hier und Jetzt. Die einzige Hoffnung, die sie sich gestattete, war, eines Tages wieder auf ihre alte Station verlegt zu werden. Schließlich überwand sie ihre Schüchternheit und fragte: »Was hast du eigentlich getan?«

»Ich habe ein Kind getötet«, lautete die unverblümte Antwort.

Antoinette zuckte vor Schreck zurück, und als Jenny das sah, bettete sie das Gesicht in ihre Hände.

»Ich wollte es nicht. Es war ein Unfall. Aber niemand hat mir geglaubt. Ich war erst fünfzehn. Meine Mutter und mein Vater haben für die Eltern des Kindes gearbeitet. Mein Vater als Gärtner, meine Mutter als Haushälterin, und wir wohnten in einem Cottage. Das war Teil des Gehalts. Es war ein feuchtes Loch, und die Besitzer haben es nicht für nötig gehalten, es renovieren zu lassen, obwohl sie stinkreich waren. Sie waren richtige Snobs und sind oft ausgegangen, dann musste ich auf ihr Baby aufpassen. Als ich wieder einmal nachts die Kleine gehütet habe, war sie am Zahnen, und sie hat nicht zu weinen aufgehört. Du weißt ja, wie Babys sind, wenn sie einmal angefangen haben: Dann können sie stundenlang schreien und brüllen. Na ja, schließlich war ich so fertig, dass ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Ich hab sie aus ihrem Bettchen gehoben und geschüttelt, aber ich muss sie wohl zu fest geschüttelt haben, sodass ihr Genick gebrochen ist. Es war schrecklich. Aber obwohl ich immer wieder geschworen hab, dass es ein Unfall war, haben die Leute die Polizei gerufen. Meine Mama hat geweint und geschrien, mein Vater hat mich gehauen. Alle haben gesagt, ich wär ’ne Mörderin, und dann haben sie mich hierhergebracht. Die Eltern des Kindes haben meine Eltern entlassen und sie und meine Geschwister davongejagt. Na ja, seither hab ich keinen von ihnen mehr gesehen. Ich weiß nicht mal, wo meine Leute jetzt sind.«

»Wie lange bist du schon hier?«

»Vier Jahre, und ich vermisse meine Familie jeden Tag. Du weißt ja, ich bin anders als Elaine.«

Antoinette wusste das sehr wohl. Und sie erkannte die doppelte Tragödie: Sie hatte unabsichtlich ein Leben ausgelöscht und sich dabei um ihr eigenes gebracht. Mitleid stieg in ihr auf. Dann stellte sie sich ein kleines Kind vor, das so fest geschüttelt wurde, dass sein zartes Genick brach, und fühlte sich nicht in der Lage, Jenny zu trösten. Stattdessen sagte sie: »Lass uns Karten spielen, ja?«

Antoinette mischte die Karten und gab aus, aber sie war nicht bei der Sache. Jenny war kaum älter als sie, und sie fand, sie habe eine zweite Chance verdient. Doch das Einzige, worauf sie hoffen durfte, war, eines Tages auf eine offene Station verlegt zu werden. Doch das würde erst geschehen, wenn die Ärzte ihr bescheinigten, dass sie bestimmt keinen Fluchtversuch unternehmen würde. Und wer würde diese Verantwortung schon übernehmen?

Antoinette begriff allmählich, dass Patienten, bei denen keinerlei Zeichen der Besserung erkennbar waren, unweigerlich dazu verdammt waren, lebenslänglich auf der geschlossenen Station zu bleiben.

Auch in der offenen psychiatrischen Abteilung hatte sie Menschen erlebt, die sich freiwillig eingeliefert hatten, um ihre jeweilige Störung behandeln zu lassen, nur um herauszufinden, dass die »Behandlung« keine Heilung brachte. Patienten, die am Ende unweigerlich in der geschlossenen Psychiatrie landeten.

Sie rief sich zwei ihrer Mitpatienten ins Gedächtnis, ein hübsches, schlankes Mädchen, noch keine zwanzig, und einen jungen Mann, kaum älter als sie, die an derselben Krankheit litten – Alkoholabhängigkeit. Die beiden hatten einander nicht gekannt, kamen aber beide aus einer Familie von Methodisten, in deren Augen ihre Krankheit eine Sünde war. Durch den Wunsch, ihren Alkoholismus zu überwinden, fühlten sie sich zueinander hingezogen.

Antoinette hatte die beiden oft zusammen gesehen, im Gemeinschaftsraum oder draußen beim Spaziergang. Ganz offensichtlich waren sie verliebt. In der offenen Station herrschte außerhalb des Schlafsaals keine Geschlechtertrennung.

Im festen Glauben, das Band ihrer Liebe sei so stark, dass sie ihre Krankheit überwunden hätten, verließen sie gegen den Rat der Ärzte auf eigene Verantwortung die Klinik. Gemeinsam wollten sie ein neues Leben beginnen, wie sie jedem erzählten, und so reisten sie ab, begleitet von den besten Wünschen ihrer Mitpatienten.

Zwei Monate später waren sie wieder da, mit fahler Haut, eingesunkenen Augen und zerbrochenen Hoffnungen. Ihr neues Leben hatte sie geradewegs in einen Pub geführt. Nur auf einen Drink, um unsere Entlassung zu feiern, hatten sie sich gesagt. Und dann noch einen, weil wir doch geheilt sind, und so weiter, bis sie vergaßen, dass sie ja ihre Heilung feierten, und damit auch, was Heilung eigentlich bedeutete.

Dieses Mal zielte ihre Behandlung nicht darauf ab, sie zu heilen, sondern sie vor dem Untergang zu retten. Diese Art der Therapie, eigentlich eher eine Rosskur, sollte man einige Jahrzehnte später als Tortur bezeichnen. Man schloss die Patienten drei Tage und Nächte in winzigen Zimmern ein. Statt zu essen bekamen sie Whiskey. Als sie die Flasche schließlich, geschwächt wie sie waren, von sich schoben, hielt man sie ihnen gewaltsam an die Lippen und zwang sie zum Trinken. Wenn sie von schrecklichem Durst geplagt aufwachten, bekamen sie statt kühlem, erfrischendem Wasser, wonach sie lechzten, weiteren Whiskey. Zusammen mit der Flüssigkeit, die ihnen mittlerweile zum schlimmsten Feind geworden war, flößte man ihnen Pillen ein, die Erbrechen verursachten. Unter heftigen Krämpfen erbrachen sie den Alkohol zusammen mit bitterer Galle auf den Boden, wo ihr Erbrochenes während der drei Tage ihrer »Kur« liegen blieb.

Die Schwester, die Antoinette davon erzählte, beschrieb, dass es in den kleinen Zimmern bestialisch stank. Als die Patienten schließlich zu schwach waren, um sich aus dem Bett zu beugen, erbrachen sie sich ins Bett und blieben in ihrem eigenen Erbrochenen liegen.

Als die »Kur« vorbei war, mochten sie keinen Whiskey mehr, doch ihre Würde und Selbstachtung waren für immer zerstört. Wieder wurde das Paar entlassen, und diesmal tranken sie Wodka. Den Whiskey konnten sie gegen Wodka austauschen, aber ihr Selbstwertgefühl war durch nichts zu ersetzen. Um ihren Kummer darüber zu ertränken, benötigten sie den Alkohol noch dringender als früher, bis sie erneut eingeliefert wurden und ihnen eine neue »Kur« verordnet wurde.

Mit der Zeit gaben sie ihren Kampf um ein Leben in der Welt draußen auf. Inzwischen waren sie auf der Station für Langzeitpatienten gelandet. Man hatte es nicht für nötig befunden, sie in eine geschlossene Station einzuweisen. Sie hatten ohnehin keinen Ort mehr, an den sie hätten zurückkehren können. Antoinette sah sie hin und wieder beim Spaziergang auf dem Gelände, aber sie waren jetzt kein Paar mehr. Nur zwei einsame, verlorene Menschen, deren Krankheit sie zusammengeführt und deren Behandlung sie wieder getrennt hatte.

Auch an die hübsche rothaarige Frau dachte Antoinette, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt kennengelernt hatte. Sie hatte so gern auf einem Stuhl draußen in der Sonne gesessen. Damals war sie noch eine Frau mit einer Familie, die sie liebte. Antoinette hatte gesehen, wie ihr Mann sie mit den beiden Kindern besuchte, und die Verwirrung auf den Gesichtern der Kinder bemerkt, die noch zu klein waren, um zu verstehen, dass ihre Mutter krank war. Sie wünschten sich einfach nur, ihre Mutter würde wieder nach Hause kommen. Doch sie wünschten sich die Mutter zurück, die sie kannten, und nicht die, die unter einer so schweren postnatalen Depression litt, dass sie im normalen Leben nicht mehr Fuß fassen konnte und unwiederbringlich für ihre Kinder verloren war.

Später erfuhr Antoinette, dass der Mann der rothaarigen Frau wieder geheiratet hatte und nicht mehr mit den beiden Kindern zu Besuch kam. Die Frau saß nun stets zusammengekrümmt auf einem Holzstuhl. Von ihrer früheren Schönheit war nichts mehr zu sehen. Die Medikamente hatten ihren Gaumen angegriffen, wodurch sie einige Zähne verloren hatte, und ihr einst so kräftig leuchtendes Haar war dünn und fahl geworden.

Ob sie sich im Zwielicht der Welt, in der sie nun lebte, an den Menschen erinnerte, der sie einmal gewesen war?, fragte sich Antoinette. Sie hoffte es nicht.

Wer einmal hier ist, glaubt nicht mehr daran, je wieder in die Welt da draußen zurückzukehren. Dann kamen ihr die Worte der Stationsschwester wieder in den Sinn: »Wir haben es hier mit so vielen traurigen Geschichten zu tun … aber ich hoffe, dass du zu einer meiner Erfolgsgeschichten werden wirst.«

Sie blickte zu dem Fenster empor, wo nur ein schmaler Streifen des Himmels zu sehen war. Die Außenwelt hatte sich zurückgezogen und war unwirklich geworden.