Beim Aufwachen hatte Antoinette ein komisches Gefühl im Mund und fuhr mit der Zunge über die Zähne. Etwas fühlte sich anders an – eine der zwei Kronen, die sie ein Jahr zuvor bekommen hatte, fehlte. Sie holte ihren Taschenspiegel aus dem Spind und inspizierte ihren Mund. Tatsächlich, statt der weißen Krone war nur ein dunkler Stumpf zu sehen. Sie durchsuchte ihr Bett, konnte die Krone aber nicht finden und dachte verzagt, dass sie sie wahrscheinlich verschluckt hatte.
Aufgrund des nährstoffarmen Essens neigten fast alle Patientinnen zu starker Karies. Mehr als einmal hatte Antoinette mitbekommen, was einem auf dieser Station widerfuhr, wenn man Zahnschmerzen hatte. Der Zahnarzt wurde gerufen, der den schmerzenden Zahn kurzerhand zog. Es hatte sich erwiesen, dass es einfacher war, schadhafte Zähne zu entfernen, als die zahlreichen Löcher füllen zu lassen. Außerdem kostete es erheblich mehr Anstrengung, einen Patienten für die Dauer einer aufwendigen Behandlung festzuhalten als für die kurze Prozedur des Zahnziehens.
Und so sah Antoinette jeden Morgen zu, wie die Schwestern einen Rollwagen heranrollten, auf dem sich die Gebisse der Patienten in etikettierten Wassergläsern befanden. Als sie dieses Ritual zum ersten Mal beobachtet hatte, hatte sie eine Schwester gefragt, warum so viele Frauen, die noch in den Dreißigern oder jünger waren, bereits dritte Zähne hatten. Die Schwester erwiderte nüchtern, dass fast alle Patienten an Karies litten, außerdem führten die flüssigen Sedative zu Zahnfleischschwund, wodurch die Zähne zu wackeln anfingen und irgendwann ausfielen. Künstliche Gebisse seien leichter zu handhaben und die Patienten hätten keine Zahnschmerzen mehr.
Antoinette hatte beschlossen, dass sie ihr Leben nicht mit einem billigen, schlecht sitzenden Gebiss fristen wollte und den Krankenhauszahnarzt nicht nach dem Motto »Ziehen statt reparieren« schalten lassen würde. Sie verfügte noch über ein paar Ersparnisse und wollte den privaten Zahnarzt aufsuchen, der ihre Kronen angefertigt hatte. Also bat sie um ein Gespräch mit der Stationsschwester und trug ihr Vorhaben vor.
Sie hatte erwartet, dass man ihr Knüppel zwischen die Beine werfen würde, und war überrascht, als genau das Gegenteil der Fall war.
»Ja, die Krone muss auf jeden Fall ersetzt werden«, sagte die Stationsschwester mit einem Blick in Antoinettes Mund. »Wie viel hat sie denn gekostet? Wenn du das Geld hast, um dir eine neue machen zu lassen, sollte das kein Problem sein. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, dass jemand dich zum Arzt hin- und zurückbegleiten muss. Aber überlass es mir, Antoinette, ich werde das schon irgendwie organisieren.«
Ein paar Stunden später überbrachte sie Antoinette die gute Nachricht. Eine der Schwestern von der Demenzabteilung hatte sich bereit erklärt, Antoinette in ihrer Freizeit zum Zahnarzt zu begleiten.
Die Stationsschwester kümmerte sich sowohl um einen Termin als auch um einen Krankenwagen, der sie hinbringen würde. Sie wusste nicht, welche Folgen dieser freundliche Akt für ihre Lieblingspatientin haben sollte.
Die Schwester meldete Antoinette am Empfang der Zahnarztpraxis an.
»Bitte nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz«, sagte die Empfangsdame.
Sie war zwar höflich, doch Antoinette bemerkte den verstohlenen Blick, den sie ihr zuwarf, bevor sie ins Behandlungszimmer ging, um sie anzukündigen. Die Tatsache, dass sie die Insassin einer Nervenheilanstalt war, hatte sie von einer solventen Privatpatientin zu einer gemacht, vor der man womöglich Angst haben musste. Offensichtlich hatte man sie in der Klinik nicht für stabil genug gehalten, allein ihren Zahnarzttermin wahrzunehmen, und der Zahnarzt hatte seine Schlüsse daraus gezogen.
Kurz darauf wurde sie ins Behandlungszimmer gebeten. Bei ihrem ersten Besuch war der Zahnarzt in Plauderlaune gewesen, doch nun musste sie feststellen, dass seine Freundlichkeit aufgrund ihres neuen Status kalter Geschäftsmäßigkeit gewichen war.
»Mach den Mund auf«, befahl er ihr, und sie gehorchte. Nachdem er ihre Zähne inspiziert hatte, sagte er barsch: »Ich muss zuerst die Zahnwurzel entfernen, erst dann kann ich den Stumpf neu überkronen.«
Antoinette wurde bewusst, dass er gar nicht mit ihr sprach, sondern mit der Schwester, obwohl es sich doch um ihren Mund handelte.
Denkt er, ich hätte mein Hörvermögen und meinen Verstand verloren, nur weil ich Patientin in einer Nervenklinik bin?, dachte sie bei sich.
Seine nächsten Worte ließen bei ihr die Alarmglocken schrillen.
»Halten Sie sie bitte fest, Schwester!«
Schon spürte sie einen festen Griff um ihre Handgelenke und kurz darauf statt einer Spritze einen überwältigenden Schmerz im Mund. Sie wand sich auf dem Stuhl und versuchte, ihrer Qual Ausdruck zu verleihen, um den Arzt dazu zu bringen, diese Tortur zu beenden. Sie konnte nicht fassen, dass er ihr absichtlich so schreckliche Schmerzen zufügte, statt sie vorher zu betäuben. Instinktiv zerkratzte sie ihm die Hand.
»Halten Sie sie fester«, herrschte der Zahnarzt die Schwester an, und Antoinette spürte seinen Verdruss, sie behandeln zu müssen.
Als die Schwester sie endlich freiließ, zitterte Antoinette noch immer vor Schmerzen. Sie war außer sich vor Entsetzen, dass er ihr so etwas angetan hatte, und wunderte sich, wie sie diese Tortur bei vollem Bewusstsein hatte überstehen können. Später erfuhr sie, dass er es nicht für nötig gehalten hatte, ihr, einer Psychiatriepatientin, eine Spritze zu geben.
Der Schmerz ließ allmählich nach, doch eine noch schlimmere Empfindung trat an seine Stelle: die Demütigung, sich behandelt zu wissen wie jemand, der keine Gefühle hat. Während der Zahnarzt mit der Schwester einen weiteren Termin für sie vereinbarte, grub sie ihre Nägel in die Handflächen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
Wieder im Krankenwagen, ließ sie den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen.
Auf ihrer Station zurück, gab sie vor, Zahnschmerzen zu haben, um mit niemandem reden zu müssen. Sie brachte es einfach nicht fertig, von der erlittenen Behandlung zu erzählen. Mit einem Mal sah sie die Klinik aus einer anderen Perspektive. Plötzlich waren die Patienten nicht mehr eingesperrt, sondern die feindliche Außenwelt war ausgesperrt. Hier drinnen war sie sicher und fühlte sich nicht nur akzeptiert, sondern auch umsorgt.
Warum sollte sie je von hier fortwollen, wenn man sie da draußen so schlecht behandelte?