Als Antoinette ihre erste Sitzung beim Psychiater gehabt hatte, war sie äußerst misstrauisch gewesen. Sie war auf Abwehr eingestellt, erwartete sie doch, einem weiteren männlichen Erwachsenen zu begegnen, der versuchen würde, ihr seine Interpretation ihrer Kindheit aufzuzwingen. Stattdessen sah sie sich einem lässig gekleideten Mann Ende dreißig gegenüber, dessen warmes Lächeln ihre Ängste augenblicklich dämpfte. Er stellte ihr ein paar Fragen und lehnte sich – anders als die Ärzte in früheren Sitzungen – entspannt zurück, um sich geduldig ihre Antworten anzuhören.
Zunächst machte er ihr klar, dass sie ihm nicht detailliert von ihrer Vergangenheit erzählen müsse – er könne sich sehr wohl vorstellen, wie es für sie gewesen sein müsse, sagte er. Stattdessen wolle er im Laufe ihrer Sitzungen ein Verständnis dafür gewinnen, wie sich ihre Kindheit auf sie als Heranwachsende ausgewirkt und was genau zu ihrer psychischen Erkrankung geführt habe. Auch wolle er herausfinden, welche Unterstützung sie brauche, um sich für ihre Zukunft zu wappnen. Er versicherte ihr, sie könne sich ihm jederzeit anvertrauen, was immer sie auf dem Herzen habe. Diese Strategie wolle er in den folgenden Sitzungen verfolgen. Um es ihr noch leichter zu machen, erkundigte er sich, ob sie mit seinem Therapieplan einverstanden sei. Indem er ihr zeigte, dass er sie respektierte und sich nach ihren Vorstellungen erkundigte, hatte er Antoinette von Anfang an auf seiner Seite.
Wie versprochen, sollte er ihr während ihrer Sitzungen kein einziges Mal eine aufdringliche Frage nach dem Missbrauch durch ihren Vater stellen. Stattdessen erkundigte er sich nach ihrer Zeit auf der Sekretärinnenschule und schien sich mehr für ihre Schulerfolge als für ihr Kindheitstrauma zu interessieren.
Auch brachte er ihre Arbeit in der Klinik zur Sprache und fragte sie, ob sie auf der Demenzstation bleiben wolle. »Die Schwester hat mir gesagt, dass du sehr gut im Umgang mit alten Menschen seiest. Wenn es dich interessiert, könntest du eine Ausbildung als Pflegerin machen.«
»Ich mag die alten Menschen, insofern fällt mir die Arbeit nicht schwer. Außerdem lenkt sie mich ab.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Aber es ist nicht wirklich das, was ich auf Dauer machen will.«
Wie die Schwestern auch lenkte er das Gespräch immer wieder in eine bestimmte Richtung, um sie anzuregen, über ihre Zukunft nachzudenken. Doch der Gedanke, die Klinik verlassen zu müssen, machte ihr noch immer Angst; sie war noch nicht bereit, sich dieser Perspektive zu stellen.
Eines Tages sagte er zu ihr: »Du bist auf dem besten Weg der Genesung, Antoinette, und wir wollen dir helfen, diese Institution verlassen zu können. Denk mal darüber nach, und wir reden in ein paar Tagen nochmals darüber.«
Weder Patientin noch Arzt wussten, dass die Entscheidung gar nicht in ihren Händen lag, sondern dass äußere Umstände den Stein ins Rollen bringen sollten.
Eine Woche später ließ die Stationsschwester sie zu sich kommen und schloss, nachdem Antoinette ihr Büro betreten hatte, die Tür hinter ihr.
»Heute gehst du nicht zur Arbeit auf die Demenzstation«, begann sie. »Dein Arzt will dich sehen. Er hat etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Sie unterbrach sich und beugte sich dann über den Schreibtisch, als wollte sie ihre nächsten Worte unterstreichen. »Erinnerst du dich, was ich bei deiner Ankunft gesagt habe?«
»Ja, Sie haben gesagt, es gibt viele traurige Schicksale hier.«
»Und was noch?« Die Schwester beantwortete ihre Frage selbst: »Dass ich hoffe, dass du zu einer meiner Erfolgsgeschichten werden wirst. Daran sollst du denken bei deinem Gespräch mit dem Arzt.«
Ein paar Minuten darauf saß Antoinette im Büro des Psychiaters und sah ihn erschrocken an. Seine Nachricht hatte bei ihr wie eine Bombe eingeschlagen. »Deine Eltern wollen dich kommenden Dienstag entmündigen lassen, damit du für immer in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung bleibst. Also in vier Tagen.« Er unterbrach sich, ehe er weitersprach.
»Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen, und wenn es herauskommt, könnte ich ernste Schwierigkeiten bekommen. Aber ich will, dass du dir im Klaren darüber bist, wie deine Zukunft aussehen würde, wenn dies tatsächlich geschieht. Im Moment hast du Menschen an deiner Seite, die dich bis zu einem gewissen Grad vor der fatalen Realität einer geschlossenen Abteilung beschützen können. Insbesondere die Stationsschwester hat alles getan, um dir zu helfen. Aber solltest du in eine andere Abteilung verlegt werden oder in die Obhut eines anderen Arztes kommen, eines der alten Schule, würdest du diesen Schutz vermutlich verlieren. Als entmündigte Patientin der geschlossenen Abteilung wärst du den üblichen Behandlungsmethoden ausgesetzt, man würde dich mit Sedativen und Elektroschocks ruhigstellen. Nach einigen Monaten wärst du nicht mehr in der Lage, je wieder in ein Leben außerhalb dieser Mauern zurückzukehren.«
Er lächelte und sagte dann etwas, was noch niemand in dieser Anstalt je zu ihr gesagt hatte. »Dein Verstand ist völlig in Ordnung. Du bist ein normaler Mensch, der auf eine abnormale Situation reagiert hat. Man hat dich zwei Mal wegen Depressionen in die Nervenklinik eingewiesen, dabei bist du ganz einfach sehr unglücklich. Du bist das Opfer von Ereignissen geworden, über die du keine Kontrolle hattest. Du hast dich zurückgewiesen gefühlt – und das ist nur allzu verständlich. Du wurdest zurückgewiesen, von deiner Familie, von deinen Klassenkameradinnen und auch bei der Arbeit. Deine Gefühle sind absolut verständlich, nach dem, was du durchgemacht hast. Die heftige Wut, die du empfunden hast, war ein Zeichen für deine beginnende Genesung. Du solltest wütend sein auf die Menschen, die dich so behandelt haben. Du wirst sehen, dein mangelndes Selbstwertgefühl, das in deiner Kindheit wurzelt, wird mit der Zeit wachsen. Das ist es schon. Du solltest dir selbst Respekt zollen für das, was du erreicht hast, dafür, dass du für deine Ausbildung gesorgt und sie dir selbst verdient hast.
Was deine Paranoia betrifft«, fuhr er fort, »so halte ich diesen Begriff nicht für angemessen für deine psychischen Probleme. Du hast mir erzählt, du seiest misstrauisch gegenüber anderen Menschen; ich finde, das ist nur allzu verständlich. Du hattest das Gefühl, die Leute reden hinter deinem Rücken über dich. Zwar ist das ein klassisches Symptom für Paranoia, aber in deinem Fall ist es tatsächlich so gewesen. Die Leute haben über dich geredet.« Er beugte sich vor und sagte eindringlich: »Du bist noch keine achtzehn. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Wirf es nicht fort, indem du hierbleibst, Antoinette. Ein Grund für deine Erkrankung war, dass du das Gefühl hattest, du hättest keine Kontrolle über dein Leben. Nun, jetzt hast du sie zurückgewonnen. Du musst dich entscheiden. Ich weiß, dass du das kannst. Bist du bereit, die Verantwortung für deine Zukunft zu übernehmen?«
Nach diesen Worten informierte er Antoinette genauestens über ihre Rechte, über die sie sich bis dahin keineswegs im Klaren gewesen war. »Weißt du eigentlich, dass du immer noch freiwillig hier bist? Das heißt, du kannst selbst entscheiden, ob du entlassen werden willst. Man hat deine Eltern über deine Verbringung in die geschlossene Abteilung unterrichtet, sie finden aber offensichtlich erst jetzt die Zeit, hierherzukommen. Sie haben sich bereit erklärt, die Einwilligungserklärung zu unterschreiben. Noch bist du frei, zu gehen. Morgen habe ich Dienst auf deiner Station. Wenn du entlassen werden willst, brauchst du dich nur an mich, als den ärztlichen Leiter der Station, zu wenden.«
Die unterschiedlichsten Emotionen stürmten auf Antoinette ein. Schock angesichts der Tatsache, dass ihre Eltern von ihrer Verlegung unterrichtet worden waren, gefolgt von Entsetzen, als sie hörte, dass sie ihrer Entmündigung zustimmen wollten. Schließlich Verwirrung und Unsicherheit angesichts der zu treffenden Entscheidung.
»Ich wünschte, ich hätte dir diese Nachricht schonender beibringen können und müsste dich nicht zu einer Entscheidung drängen«, sagte der Arzt. »Aber die Zeit ist knapp. Ich will dich überzeugen, dass es für dich eine Zukunft außerhalb dieser Mauern gibt. Nun geh und denk in Ruhe darüber nach, was ich dir gesagt habe. Deine Zukunft liegt in deinen Händen. Die Schwester wird dir Tee und Sandwiches machen, und dann setzt du dich in den Besucheraufenthaltsraum. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Und ich hoffe, dass du dich für ein Leben in Freiheit entscheiden wirst. Wenn du zu diesem Schluss kommst, wirst du morgen nochmals mit mir und einem zweiten Arzt sprechen, dessen Anwesenheit vorgeschrieben ist. Du musst uns offiziell informieren, dass du als freiwillige Patientin von deinem Recht, entlassen zu werden, Gebrauch machen willst.
Antoinette, ich weiß, dass du die richtige Wahl treffen wirst. Wenn du von hier weggehst, sollst du dich und deine Fähigkeit nie wieder unterschätzen. Du hast deine Kindheit überstanden, und du hast das hier überstanden, ohne den Verstand zu verlieren. Beides sind Erfahrungen, die die wenigsten Menschen meistern könnten.«
Zum Schluss schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln, dann rief er nach der Schwester, die sie in den Besucherraum begleitete. Dort gab es eine bequeme Sitzecke, wo sie ungestört nachdenken konnte. Nachdem die Schwester sie mit Tee und einem Teller Sandwiches versorgt hatte, tätschelte sie aufmunternd ihre Schulter. »Ich weiß, meine Liebe, du wirst die richtige Entscheidung treffen, eine, die wir dir alle von Herzen wünschen«, sagte sie, ehe sie sie allein ließ.
Antoinette war sich darüber im Klaren, egal, wofür sie sich entschied, sie würde damit die Weichen für ihr gesamtes weiteres Leben stellen.