Sechsunddreißig

Antoinette war nun klar, was sie zwei Mal in die Nervenklinik gebracht hatte: ihre Einsamkeit und Verzweiflung. Während ihres Aufenthalts dort fühlte sie sich beschützt, und das Durcheinander in ihrem Kopf löste sich allmählich auf.

Abgesehen von den beiden unsäglichen Besuchen beim Zahnarzt hatte sie seit vielen Monaten die Grenzen des Krankenhauses nicht mehr verlassen. Ebenso wenig hatte sie jemals Besuch bekommen, und sie hatte nach und nach den Kontakt zu den wenigen Menschen, mit denen sie überhaupt verkehrt hatte, verloren. Ihre Mutter hatte sie nicht ein einziges Mal besucht.

Sie dachte über ihr Gespräch mit dem Arzt nach. Etwas, was er gesagt hatte, machte ihr zu schaffen, sie wusste jedoch nicht mehr genau, was es war. Sie ließ seine Worte noch mal Revue passieren. Und plötzlich traf es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Der Arzt hatte gesagt, sie sei freiwillig hier.

Ein freiwilliger Patient wäre niemals in die Heilanstalt verbracht worden ohne das Einverständnis der Erziehungsberechtigten. Der Arzt hatte ihr ohne Umschweife gesagt, dass ihre Eltern über diesen Schritt informiert worden seien. Also mussten sie der Klinik mitgeteilt haben, dass sie damit einverstanden waren.

Sobald sie das realisiert hatte, ging ihr eine Frage nach der anderen durch den Kopf, und die Antworten ließen nicht lange auf sich warten.

Wer öffnete bei ihren Eltern zu Hause die Post? Und wer ging ans Telefon? Ihre Mutter. Ihr Vater hasste das Telefon von ganzem Herzen und ignorierte hartnäckig das Klingeln, wenn Ruth nicht da war.

Mit wem hatte die Klinik also gesprochen? Mit ihrer Mutter.

Du musst der Tatsache ins Auge blicken, ermahnte sie sich eisern. Es ist nicht dein Vater allein, der dich loswerden will.

Das also war die Wahrheit, vor der sie ihr ganzes junges Leben davongerannt war – dass die Liebe ihrer Mutter zu ihrer Tochter keinen Pfifferling wert war. Seit elf Jahren war Antoinettes Zuneigung zu ihrem Vater erloschen, sie hatte akzeptiert, dass er ein Mann mit abartigen Neigungen war. Gleichzeitig hatte sie aufgehört, Fragen nach den Gründen für sein Handeln zu stellen oder nach irgendwelchen Entschuldigungen zu suchen.

Doch sie hatte wider alle Vernunft gehofft, dass ihre Mutter sie trotz der vielen Zurückweisungen, die Antoinette von ihr erfahren hatte, irgendwie liebte, und hatte bereitwillig die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen. Aber jetzt konnte sie das nicht mehr. Nun musste sie der Fadenscheinigkeit und Brüchigkeit dieser Mutterliebe ins Auge blicken. Und sie musste erkennen, dass dies die Ursache dafür war, dass sie beinahe zerbrochen wäre.

In ihrer frühen Kindheit war ihre Mutter der Mittelpunkt ihrer Welt gewesen. Sie hatte sie gepflegt und umsorgt, ihre Tränen getrocknet, wenn sie hingefallen war, sie gebadet und anschließend in ein flauschiges Handtuch gewickelt. Sie hatte ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen und ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht, ehe sie aus dem Zimmer ging. Den vertrauten Duft ihrer Mutter, eine Mischung aus Gesichtspuder und Jasminparfüm, hatte sie als tröstend empfunden, ebenso wie ihre sanfte Stimme. Stolz hatte sie an der Hand ihrer Mutter die Straße überquert.

Doch an dem Tag, an dem Antoinette ihrer Mutter erzählte, was ihr Vater mit ihr machte, hatte all das schlagartig aufgehört. Ruths Wärme wich einer eisigen Kälte, es gab keine Gutenachtküsse mehr, keine Umarmungen und Liebkosungen.

Bislang hatte sie die Erinnerung an jenen Tag so gut es ging unterdrückt, doch jetzt wollte sie sie näher betrachten.

Sie beschwor das Bild herauf, wie sie als Sechsjährige allen Mut zusammengenommen und ihrer Mutter berichtet hatte, dass ihr Vater sie berührt und geküsst hatte. Damals hatte das kleine Mädchen gedacht, dadurch dass sie es ihr erzählte, würde es aufhören. Sie erinnerte sich an den Ausdruck, der über Ruths Gesicht gehuscht war: die Liebe, die urplötzlich verschwand und von Wut und Angst verdrängt wurde. Aber, auch das wurde Antoinette jetzt klar, Überraschung oder gar Schock hatte Ruths Miene nicht widergespiegelt.

»Jetzt verstehe ich«, murmelte Antoinette. »Ich beginne zu begreifen, wie es wirklich war.«

Zum ersten Mal in vielen Jahren hatten sich ihre Erinnerungen Zugang zu ihrem Bewusstsein verschafft, und Antoinette drängte diese nicht zurück. Sie wusste, dass sie sich endlich mit der Rolle ihrer Mutter in ihrem Leben auseinandersetzen musste.

Wer war ihre Mutter? Da war die liebevolle Mutter ihrer Kleinkindzeit, gefolgt von der kalten, distanzierten Ruth in den Jahren des Missbrauchs. Dann die fröhliche Kameradin in der Zeit, als ihr Vater im Gefängnis war, die Frau, mit der Antoinette plaudern konnte wie mit einer Freundin. Und schließlich die Mutter, die ihr Vertrauen verraten hatte, indem sie ihren Mann wieder bei sich aufnahm, als wäre nichts geschehen, und sie, Antoinette, letztlich vor die Tür gesetzt hatte.

Eine andere Erinnerung stieg in ihr auf. Einige Monate zuvor, nachdem sie in die Klinik eingeliefert worden war, hatte Antoinette in der Phase ihrer völligen Verstummung einen kurzen hellen Moment erlebt und in einem Akt der Verzweiflung ihre Mutter angerufen. Sie hatte sie um einen Besuch angefleht. Doch Ruth hatte ihre Tochter der Selbstsucht bezichtigt, und Antoinette hörte bei ihren Worten unterschwellig den Refrain, den Ruth über die Jahre immer wieder angestimmt hatte. Antoinette sei ein ständiger Quell der Sorge für sie, und diese Sorge würde sie eines Tages an denselben Ort bringen, an dem Antoinette sich befand.

»Eigentlich sollte ich in der Klapsmühle sein statt deiner«, waren ihre letzten Worte gewesen, dann hatte sie aufgelegt.

Was ist das für eine Mutter, die so etwas zu ihrer Tochter sagt?, fragte sie sich. Die sich weigert, sie auch nur ein einziges Mal zu besuchen? Und welche Tochter würde sich weiterhin selbst betrügen und sich einreden, ihre Mutter liebe sie, verberge ihre Gefühle jedoch vor ihr? Wie kann man immer weiter an einen Menschen glauben, der schon vor vielen Jahren aufgehört hat zu existieren?

In der Stille des Besuchsraums wurde sich Antoinette bewusst, wie trügerisch Erinnerungen sein können. Und sie blickte einer weiteren schmerzlichen Tatsache ins Auge. Gestützt auf ihre frühkindlichen Erinnerungen hatte sie eine liebende Mutter und deren perfekte Liebe erfunden, die jedoch in Wirklichkeit nie existiert hatte. Aber Antoinette hatte nicht aufhören können, daran zu glauben. Als sie diese Illusion irgendwann nicht mehr aufrechtzuerhalten vermochte, hatte sie sich selbst die Schuld für etwas gegeben, was sie fälschlicherweise für den plötzlichen Entzug mütterlicher Liebe hielt. Sie hatte sich selbst als schwach und wertlos betrachtet. Der Schlüssel für den Verlust der mütterlichen Liebe musste in ihr selbst liegen, hatte sie sich eingeredet.

Antoinette hatte die Ruth, die sie nicht mehr beschützt und geliebt und die nicht mehr mit ihr gespielt hatte, völlig aus ihrem Gedächtnis getilgt. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie gut es ihrer Mutter gelungen war, die Tatsachen zu verdrehen und sie davon zu überzeugen, dass Ruths Version der Wirklichkeit die richtige war. Ruth hatte aus Unschuld Schuld gemacht und aus dem Opfer den Übeltäter, sie hatte Antoinette gezwungen, ihre Sichtweise zu übernehmen. Sie hatte Antoinette zu ihrer Komplizin beim Umschreiben der Wahrheit gemacht.

Während sie allein dasaß, versuchte Antoinette, ihre Erkenntnisse über ihre Mutter zu ordnen und ihre Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn es ihr gelang, zu ergründen, warum ihre Mutter über die Jahre zu einer unzufriedenen Frau geworden war, würde ihr das vielleicht helfen, ihre Handlungsweise zu verstehen.

Welcher Mensch verbarg sich hinter den verschiedenen Masken dieser Frau?

Auf diese Frage wollte sie eine Antwort finden, bevor sie wieder mit der Stationsschwester oder dem Arzt sprach. Sie wusste, dass sie in den Tiefen ihres Gedächtnisses Anhaltspunkte finden würde, um dieses Rätsel zu lösen.