Am Abend vor meiner Entlassung aus der Klinik beschloss ich, dass die Spiele, die meine Mutter gespielt hatte, ein Ende haben würden. Ich würde mich nicht mehr von ihr manipulieren lassen.
Ich rief sie an. »Es geht mir wieder gut«, sagte ich kurz. »Ich bin geheilt. Die Ärzte haben bestätigt, dass ich in der Lage bin, das Krankenhaus zu verlassen. Ich werde dich besuchen kommen.«
Ich kannte meine Mutter: Dem Urteil der Ärzte und medizinischen Autoritäten würde sie sich beugen. Und ich täuschte mich nicht. Sie war so überrumpelt von meiner plötzlichen Forschheit, dass sie keinerlei Anstalten machte, mich von meinem Besuch abzuhalten.
Als ich am Tag darauf in die Straße einbog, in der sie nun wohnten, sah ich, dass der Traum meiner Mutter von einem großen Haus endlich wahr geworden war. Während meines Klinikaufenthalts waren meine Eltern umgezogen, und mein Arzt hatte mir ihre neue Adresse gegeben. Es war ein weißes, zweistöckiges Haus, das, etwas zurückgesetzt von der Straße, in einem gepflegten Belfaster Vorort lag.
Sie haben das Pförtnerhäuschen mit gutem Gewinn verkauft, dachte ich. Ein paar Sekunden blieb ich stehen, um das Haus von außen zu betrachten, das eigentlich auch mein Zuhause hätte sein sollen. Aber ich kannte die Wahrheit. Meine Eltern würden zusammen alt werden, und nur ihr schreckliches Geheimnis würde ihnen Gesellschaft leisten.
Sobald ich den Türklopfer betätigt hatte, öffnete meine Mutter auch schon die Tür. Ich brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, dass sich unser Verhältnis abermals geändert hatte. Wo war die Mutter meiner Erinnerung, die mich mit einem Blick einschüchtern konnte, um mich im nächsten Moment mit Gefühlsbekundungen zu überhäufen? Diese Frau wirkte kleiner, irgendwie geschrumpft, und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich sie um einige Zentimeter überragte. Sie schien niedergeschlagen, ihre Schultern krümmten sich nach vorn, und ihr Blick wich dem meinen nervös aus, als wollte sie ihre Gefühle vor mir verbergen.
Ob sie sich an die vielen Male erinnerte, da sie mein Vertrauen missbraucht hatte?
Sie machte einen Schritt zur Seite, um mich eintreten zu lassen, dann kochte sie uns Tee. Als sie uns zwei Tassen eingeschenkt hatte, fragte sie mich nach meinen Plänen.
»Ich möchte nach England gehen«, verkündete ich und empfand einen Stich der Enttäuschung, als ich Erleichterung auf ihrem Gesicht sah, auch wenn ich nichts anderes erwartet hatte.
»Wann denn, Liebes?«
»So bald wie möglich. Es gibt eine Agentur, die Jobs in der Hotelbranche vermittelt. Ich möchte gern am Empfang arbeiten. Ein solcher Job würde mir Kost und Logis und auch ein festes Gehalt bieten.«
Ich fragte meine Mutter nicht, ob ich bis dahin bei ihnen wohnen könne, sondern nahm ganz einfach meinen Koffer und trug ihn in eines der Schlafzimmer hinauf. Sie protestierte nicht. Ich blieb drei Tage dort, bis ich nach England abreiste.
Die ganze Zeit über gelang es mir fast völlig, meinem Vater aus dem Weg zu gehen. Ihm war mindestens ebenso daran gelegen, mir nicht zu begegnen, und er ließ sich kaum zu Hause blicken. Auch nicht, um auf Wiedersehen zu sagen.
Zum Abschied umarmte ich meine Mutter, versprach ihr, zu schreiben, und stieg dann in das Taxi, das mich zum Hafen brachte.
Ich sollte meinen Eltern nie erzählen, was ich wusste: dass sie bereit gewesen waren, meine endgültige Einweisung in die Geschlossene zu unterschreiben. Eine Konfrontation hätte zu nichts geführt, außerdem hatte ich bereits eine andere Strategie ersonnen. Sobald sich Antoinette für immer in Toni verwandelt hatte, würde ich einen Schutzwall gegen die Liebe errichten, die ich einst für meine Mutter empfunden hatte.
Als ich an Deck des Schiffes stand und zusah, wie die Gangway eingezogen wurde und Belfast meinem Blick entschwand, wusste ich, dass ich nie mehr zurückkehren würde – zumindest nicht, um hier zu leben. Und was mein Versprechen, zu schreiben, betraf, nun, so war ich fest entschlossen, es zu brechen.
Als die letzten Lichter der Stadt verloschen waren, begab ich mich in die Bar und bestellte ein Glas Wein, um auf mich selbst anzustoßen.
Und auf ein neues Leben.