Ich riss mich aus meinen Erinnerungen an Antoinette und das Kind, das sie vor über dreißig Jahren gewesen war. Nachdem ich mir einen großzügigen Drink eingeschenkt und eine Zigarette angezündet hatte, dachte ich stattdessen über den Menschen nach, zu dem ich geworden war.
Zwei Jahre später machte meine Mutter mich ausfindig und kontaktierte mich. Es brauchte nur ein tränenreiches Telefongespräch, und schon nahmen wir unser »Glückliche Familie«-Spiel wieder auf. Erst später erfuhr ich, dass die Ärzte der psychiatrischen Klinik Ruth wiederholt darum gebeten hatten, mich zu besuchen. Man hatte ihr gesagt, ohne ihre Mithilfe stünden die Chancen meiner Genesung schlecht. Mein psychischer Zustand sei nicht einfach auf eine Depression oder einen Nervenzusammenbruch zurückzuführen, und es gebe keine Garantie, dass ich je wieder in der Welt da draußen zurechtkäme. Die Ärzte hatten Ruth klipp und klar das Problem erläutert: »Ihre Tochter verwindet es einfach nicht, dass Sie all die Jahre über Bescheid wussten.«
Das hatte Ruth ganz und gar nicht gefallen. Es traf ihren wunden Punkt, stellte ihre gesamte Scheinexistenz in Frage. Doch noch immer weigerte sie sich, auch nur einen Moment lang in Erwägung zu ziehen, dass sie mitschuldig war. »Wie können Sie es wagen, mir so etwas vorzuwerfen, Doktor? Ich habe es nicht gewusst. Außerdem habe ich genug gelitten. Mit mir hat nie jemand Mitleid gehabt, immer nur mit Antoinette. Eigentlich sollte ich in der Nervenklinik sein statt ihrer. Wenn sie unbedingt ein Elternteil sehen will, schicke ich ihren Vater zu ihr. Er ist schließlich verantwortlich für alles.«
Das war das letzte Mal, dass das Krankenhaus bei ihr anrief. Und obwohl ich eines Tages davon erfuhr, brachte ich es nicht über mich, sie zurückzustoßen.
Während der nächsten dreißig Jahre unternahm ich viele Dinge. Ich eröffnete mein eigenes Geschäft, fuhr mit dem Bus quer durch Kenia und klagte erfolgreich gegen einen betrügerischen Geschäftspartner. Als erwachsene Frau fühlte ich mich wohl in meiner Haut, lernte, Freunde zu gewinnen und ihnen zu vertrauen, mich selbst zu mögen und glücklich zu sein. Doch eines brachte ich nie fertig: den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen.
Oh, meine Mutter lernte mit der Zeit, mich zu lieben. Toni, die erfolgreiche Tochter, die mit den Armen voller Geschenke auf Urlaub nach Irland kam, sie zum Essen einlud und sie nie auf die Vergangenheit ansprach. Ich erlaubte meiner Mutter, dass sie mich wieder in ihre Scheinwelt integrierte, die sie erschaffen hatte: Sie hatte einen attraktiven Ehemann, ein eigenes Haus und eine Tochter.
Als Erwachsene begriff ich, dass es zu spät war, um sie aus ihrer Fantasiewelt herauszuholen. Damit hätte ich sie zerstört.
Und doch brachte auch sie es nicht fertig, von dieser Welt zu gehen, ohne der Wahrheit nochmals ins Auge zu blicken. Während ihrer letzten Tage im Hospiz, wo ich bis zum Schluss bei ihr wachte, wurde meine Mutter von Ängsten geplagt. Sie hatte keine Angst vorm Sterben an sich, aber davor, vor Gott zu treten. Fürchtete sie, dass er ihr die Sünden nicht vergeben würde? Vielleicht. Jedenfalls kämpfte sie gegen den Tod und sehnte ihn gleichzeitig herbei.
Von ihrem Arzt, der Schwester und dem Pfarrer wusste ich, wie sehr sie sich vor meiner Ankunft gequält hatte. Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen:
Die alte Frau warf sich auf ihrem Krankenbett hin und her. Irgendein Gedanke, irgendeine Erinnerung hatte sie aufgeschreckt. Was sie wohl sah? Wie ihre minderjährige Tochter im Krankenwagen abtransportiert wurde, der mit eingeschaltetem Blaulicht davonbrauste, während sie im Hauseingang stand?
Voller Panik betätigte sie den Alarmknopf und wartete heftig atmend auf die Schwester.
»Ruth«, sagte eine sanfte Stimme, »was fehlt Ihnen?«
Mit ihrem vornehmen englischen Akzent erwiderte meine Mutter: »Ich muss unbedingt mit dem Pfarrer sprechen, heute Nacht noch.«
»Kann das nicht bis morgen warten? Er war ja heute Abend schon bei Ihnen, erinnern Sie sich nicht?«
Die alte Dame ließ sich nicht umstimmen. »Vielleicht bin ich morgen früh tot.« Ihre Finger, noch immer erstaunlich stark, umklammerten die Hand der Schwester, und sie machte einen Moment lang die grünen Augen zu, in denen sich ihre Entschlossenheit spiegelte. »Ich muss jetzt mit ihm reden.«
»Na gut, Ruth, wenn es so wichtig für Sie ist, rufe ich ihn an.« Begleitet vom Geräusch ihrer Gummisohlen, verließ die Schwester das Krankenzimmer.
Ein paar Minuten vergingen, dann hörte die alte Frau die schwereren Schritte des Hospizpfarrers. Er zog sich einen Stuhl heran, und sie spürte, wie er ihre Hand berührte.
»Ruth«, sagte er. »Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
Eine neue Schmerzwelle rollte über sie hinweg, und sie stöhnte. Dann sah sie ihn mit einem Ausdruck an, der ihm Unbehagen einflößte. »Meine Tochter. Ich will, dass sie herkommt.«
»Ihre Tochter? Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben, Ruth!«, rief er aus.
»Oh doch, aber wir sehen uns nicht oft, sie lebt in London. Sie ruft mich einmal in der Woche an, um zu hören, wie es mir geht, und ich reiche auch immer den Hörer an ihren Vater weiter. Sie kommt bestimmt, wenn ihr Vater es ihr sagt. Ich werde morgen mit ihm sprechen.«
Der Pfarrer wunderte sich abermals, warum man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte, ließ sie aber reden, hoffte er doch, sie würde sich ihm diesmal öffnen.
Sie ergriff seine Hand. »Ich habe schreckliche Träume«, sagte sie schließlich.
Er sah ihr in die Augen und erkannte eine tiefe Angst darin, die nicht allein von ihrer Krankheit herrühren konnte. »Ruth, gibt es etwas, was Ihnen auf der Seele liegt? Etwas, was Sie mir anvertrauen wollen? Etwas, was ich wissen sollte?«
Die alte Frau zögerte, doch dann sagte sie flüsternd: »Nein, wenn meine Tochter da ist, wird es mir besser gehen.«
Sie drehte sich auf die andere Seite und fiel wieder in einen unruhigen Schlaf. Mit dem Gefühl, eine gequälte Seele zurückzulassen, der er nicht hatte helfen können, zog sich der Pfarrer wieder zurück.
Am nächsten Tag rief mein Vater mich an.
So schnell ich konnte, eilte ich an die Seite meiner Mutter. Die Tatsache, dass sie mich brauchte, war Grund genug für mich, den nächsten Flug zu nehmen.
Während ihr Ende immer näher rückte, verbrachte ich etliche Tage und Nächte an ihrem Bett. Und dort spürte ich den Geist meiner Kindheit wieder. Die Antoinette, die ich einst war, kehrte zurück und brachte mich dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren, den Schleier der Lügen zu lüpfen, die ich erfunden hatte.
»Meine Mutter hat mich geliebt«, protestierte ich.
»Ihn hat sie mehr geliebt«, gab Antoinette zurück. »Sie hat den allerschlimmsten Verrat an dir begangen. Hör endlich auf, sie zu lieben.«
Aber ich konnte Antoinette nicht gehorchen. Ich war noch nicht gewillt, dem Verrat meiner Mutter vollends ins Auge zu sehen. Wieder spürte ich eine Welle der Liebe, gemischt mit Mitleid, in mir aufsteigen, die meine Mutter immer wieder in all den Jahren in mir ausgelöst hatte. Sie war dem Mann gegenüber loyal geblieben, der ihre Tochter systematisch missbraucht hatte, und damit war ihre Rolle absolut unentschuldbar, dennoch hatte ich in der Vergangenheit immer nach Entschuldigungen gesucht.
Und während ich neben ihrem Krankenbett wachte, akzeptierte ich letztlich die Ungeheuerlichkeit ihres Stillschweigens und wurde von tiefer Traurigkeit überwältigt. Ich trauerte um die Frau, die sie hätte sein können; um die glückliche, liebevolle Beziehung, die wir hätten haben können, darum, dass es nunmehr zu spät war für uns. Und ich akzeptierte, dass ich niemals aufgehört hatte sie zu lieben, auch wenn ich es noch so versucht hatte. Selbst als ich erkannt hatte, dass eine Frau, die nichts tut, um ihr Kind vor einem schrecklichen Verbrechen zu schützen, genauso schuldig ist wie der Täter selbst, konnte ich meine Gefühle ihr gegenüber nicht ändern. Liebe, so hatte ich herausgefunden, ist eine hartnäckige Angewohnheit, die aufzugeben äußerst schwer fällt.
Meine Mutter war seit drei Jahren tot, und nun trug ich meinen Vater zu Grabe. Wieder dachte ich an Antoinette, die ihren Hund und ihre Bücher so geliebt hatte, ich dachte an das Mädchen, das so viel bewerkstelligt hatte. Sie hatte die Nervenheilanstalt überlebt, hatte Freunde gewonnen und war gestärkt und unabhängig aus ihrer tiefen Krise hervorgegangen. Es hätte so leicht anders kommen können. Aber das war es nicht.
Ich dachte daran, was sie erreicht hatte, und fühlte zum ersten Mal etwas anderes als Traurigkeit in Verbindung mit ihrem Namen.
Ich fühlte Stolz.
»Lass dich nie mehr unterkriegen«, sagte ich entschlossen. »Lass ihren Kampf und ihr Überleben nicht vergeblich sein. Solange du dich selbst in zwei Hälften geteilt siehst, die sich nicht begegnen, wirst du nie ganz sein. Deine Eltern sind jetzt tot. Lass sie ziehen.«
Ich sah in den Spiegel und erwartete beinahe, Antoinette zu erblicken, aber mein Spiegelbild hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Kind von einst. Stattdessen sah ich eine Frau in mittleren Jahren, deren strähnchenblonde Haare ein sorgfältig geschminktes Gesicht umrahmten; eine Frau, die viel Wert auf ihre äußere Erscheinung legt.
Das Gesicht wurde weicher und lächelte zurück, und ich erkannte eine Frau, die endlich ihre Dämonen losgelassen hatte.
Nun blieb hier in Larne nur noch eines für mich zu tun, und wenn das erledigt war, würde ich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen haben. Am nächsten Tag bei der Beerdigung würde ich den Verwandten meines Vaters gegenübertreten, die ich seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte, und mich unter die Einheimischen mischen, die meinen Vater so gemocht und bewundert hatten. Danach würde ich endlich frei sein.