Die Sieben – Jurij Kowalkow

21

Die Wolken hingen tief und dunkel über dem See, der die Farbe von Silber annahm. Noch war seine Oberfläche glatt wie Glas, aber das würde sich bald ändern. Ein Unwetter zog auf.

Jurij Kowalkow saß am Ende des Stegs, der fast hundert Meter weit in den See reichte. Hinter ihm knarrten die Holzplanken, aber er drehte sich nicht um. Den Mann, der sich ihm näherte, hatte er schon vor zehn Minuten gehört: zuerst den Wagen bei der Fahrt durch den Wald, dann die Schritte vor der Datscha, anschließend auch die Stimme. Der kleine Melder, den Kowalkow im rechten Ohr trug, verband ihn mit Dutzenden von Sensoren bei und in der Datscha – er verabscheute es, von etwas überrascht zu werden.

Plötzlich bewegte sich der Schwimmer. Ein kurzes Zucken, dann noch einer. Kowalkow nahm die Angel in beide Hände und begann, die Schnur einzuholen.

»Scheint ein ziemlich dicker Brocken zu sein«, sagte der Mann hinter ihm. Er war stehen geblieben, die Planken knarrten nicht mehr.

»So sieht’s immer aus, Michail.« Kowalkow gab Schnur und spannte sie wieder. Die Angelrute bog sich. »Weil selbst die Kleinen mit aller Macht zappeln. Man kann hier Hechte oder sogar Störe fangen, wenn man Glück hat, aber meistens erwischt man nur Omule.«

»Omule?«, fragte Michail Petrowitsch Tarassow, Direktor der GRU , der Hauptabteilung für Aufklärung. »Ich dachte, die gibt es nur im Baikal.«

»Vor ein paar Jahren hat hier jemand welche ausgesetzt«, erklärte Kowalkow. »Dieser See scheint ihnen zu gefallen. Sie haben sich rasant vermehrt.«

Erneut gab er Schnur, zog dann, zog noch etwas mehr …

Ein lachsartiger silbriger Fisch kam zum Vorschein.

»Was habe ich gesagt?« Kowalkow löste eine Hand von der Angel, ergriff den bereitliegenden Kescher und fing den Fisch damit. »Ein Omul.«

»Ein guter Speisefisch«, bemerkte Tarassow. »Am Baikal leben viele Menschen davon.«

Kowalkow legte die Angel auf den Steg und löste vorsichtig den Haken aus dem Maul des etwa dreißig Zentimeter langen Fisches. Für einige wenige Sekunden hielt er ihn in den Händen.

»Ist er nicht schön?«, fragte er. Dann beugte er sich vor, öffnete die Hände und ließ den Omul ins Wasser fallen.

»Warum lassen Sie ihn frei?«

»Um ihn erneut zu fangen.« Kowalkow sah dem Fisch nach. »Morgen oder vielleicht in zehn Jahren. Außerdem bin ich Vegetarier.«

Er stand auf. »Ich gebe Ihnen nicht die Hand, Michail, denn sie riecht nach Fisch. Ist dies ein offizieller Besuch? Oder kommen Sie als Freund?«

Michail Petrowitsch Tarassow – mit fünfzig Jahren zehn Jahre jünger als Kowalkow und ein ganzes Stück größer – gestikulierte vage. »Sowohl als auch.«

Kowalkow bückte sich, nahm Angel und Kescher und deutete zur Datscha am Ufer des Sees. »Kommen Sie, Michail. Bleiben Sie zum Essen oder auch über Nacht, wenn Sie mögen. Es wird ein Unwetter geben, und wir können es uns am Kamin gemütlich machen, bis es vorbei ist.«