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Martin wartete zwanzig lange Minuten, nahm dann den Rucksack, öffnete die Tür und trat in den Flur. Der Beamte, der davor Posten bezogen hatte, war tatsächlich weg, sein Stuhl verwaist.

Der über achtzig Jahre alte Oskar, der auf seine Prostataoperation wartete, schob seinen Rollator langsam und vorsichtig zum Fenster am Flurende. Als er Martin bemerkte, blieb er stehen, hob wie in Zeitlupe die Hand und winkte.

Martin erwiderte den Gruß und lächelte freundlich, bevor er durch den Flur ging, den Rucksack auf dem Rücken.

Im Büro an der Ecke hielten sich zwei Krankenschwestern auf, aber beide kehrten ihm den Rücken zu und bemerkten nichts, als er am Fenster vorbeihuschte. Er entschied sich gegen den Lift, nahm die Treppe und begegnete niemandem.

Eine Etage tiefer hörte er Stimmen aus der Sars-Station, und für einen Moment befürchtete er, dass plötzlich Schwester Berta vor ihm erschien.

Aber niemand hielt ihn auf, niemand versperrte ihm den Weg. Unbehelligt erreichte er das Erdgeschoss, ging wie ein später Besucher am Empfangstresen vorbei und hatte das Gebäude einige Sekunden später durch die große Glastür verlassen.

Kalter Wind empfing ihn.

Wo befand sich der von Dakota von seinem Wachtposten im dritten Stock fortgelockte Polizist?

Nach kurzem Zögern setzte sich Martin wieder in Bewegung, ging an den Rasenflächen entlang zum Parkplatz und mied dabei den Schein der Lampen. Nach kurzer Suche entdeckte er abseits der anderen Fahrzeuge Dakotas kleinen Elektro-Fiat.

Dort wartete er, den Kragen der Jacke hochgeschlagen, ein Schemen in der Dunkelheit.

Nach wenigen Minuten fuhr ein Streifenwagen am Parkplatz vorbei und hielt direkt vor dem Eingang der Klinik. Mehrere Beamte stiegen aus und hatten es offenbar sehr eilig. Martin ging hinter dem Fiat in die Hocke, spähte durch die Fenster und beobachtete, wie die Beamten im Gebäude verschwanden. So weit schien Dakotas Plan aufzugehen.

»Du bist kein guter Indianer«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Hast mich nicht gehört.«

Martin drehte den Kopf und sah eine zufrieden lächelnde Dakota.

Sie ging zur Fahrerseite des kleinen Wagens, öffnete die Tür und setzte sich ans Steuer. Martin stieg auf den Beifahrersitz.

Mit einem leisen Surren setzte sich der Wagen in Bewegung und erreichte kurz darauf die Straße. Martin warf einen Blick zurück. Der Streifenwagen stand noch immer vor dem Haupteingang der Klinik.

»Irgendwelche Probleme?«, fragte Dakota.

»Niemand hat versucht, mich aufzuhalten. Es ist tatsächlich Verstärkung gekommen.«

»Sie werden das ganze Gebäude nach einem Phantom durchsuchen. Das sollte uns Zeit genug geben, bei dir zu Hause vorbeizuschauen, ohne dass wir dort sofort Besuch bekommen.«

»Kommt darauf an, wann sie bemerken, dass ich nicht mehr da bin«, erwiderte Martin.

Dakota fuhr schneller als sonst, aber der kleine Fiat war kein Rennwagen und sie keine Rennfahrerin. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie im Norden der Stadt die kurvenreiche Hangstraße erreichten. Der See lag dunkel, ein Spiegel für Genfs Lichter.

Vor dem geschlossenen Tor stieg Martin aus und gab seinen Zugangscode ins Tastenfeld an der Mauer, denn Dakotas Fiat verfügte nicht über die entsprechende Vorrichtung, um das Tor per Funksignal zu öffnen.

Die beiden Torflügel schwangen nach innen, die Lampen im Park gingen an, und Martin schritt am Rand der Zufahrt zur Villa. Die Jalousien waren unten, Henriette schien nicht da zu sein.

Dakota fuhr direkt bis zum Haupthaus und wartete dort auf ihn.

»Alles ruhig und friedlich«, sagte sie und deutete zur Tür. »Hast du den Schlüssel?«

»Ich weiß, wo einer für den Notfall liegt. Bin gleich wieder da.«

Hinter der breiten Garage, beim Geräteschuppen, tastete er in der Dunkelheit nach dem richtigen Stein, fand den darunter deponierten Schlüssel, kehrte damit zum Haupteingang zurück und schloss auf.

Stille erwartete sie im Haus. Martin schaltete das Licht ein und sah sich um.

Alles lag und stand an seinem Platz, und doch wirkte die vertraute Umgebung plötzlich fremd, und er kam sich wie ein Eindringling vor.

Das Ersatzhandy lag noch immer am richtigen Platz, in der obersten Schublade des Schreibtischs. Als er es für ein schnelles Aufladen mit dem Kabel verband, klingelte plötzlich das Festnetztelefon.

»Geh bloß nicht ran«, warnte Dakota.

Martin sah aufs Display des Cordless. Es zeigte eine Nummer an, die er nicht kannte.

Die Neugier war stärker als Vorsicht und Vernunft. Er drückte die grüne Taste.

»Hallo?«

Niemand antwortete. Es blieb still.

Martin unterbrach die Verbindung mit der roten Taste und legte das Cordless auf den Schreibtisch.

»Das war nicht besonders klug«, sagte Dakota. »Wer auch immer angerufen hat, er weiß jetzt, dass du hier bist.«

Martin schaltete das Handy ein und prüfte die Ladeanzeige: zehn Prozent. Nicht viel, aber genug. Er wartete, bis das Betriebssystem hochgefahren war, rief die Software-Wallet auf und gab das Passwort ein.

Eine Fehlermeldung erschien.

»Was machst du da?« Dakota sah sich um, als hielte sie es für möglich, dass der anonyme Anrufer aus dem Nichts erschien.

Martin starrte erschrocken aufs Display und tippte das Passwort noch einmal, vorsichtig, Zeichen für Zeichen.

Diesmal öffnete sich die Wallet und zeigte seine Bitcoins an. Er atmete erleichtert auf.

»Sie sind noch da.«

»Wer?«

»Die Bitcoins.« Martin steckte das Handy ein.

»Ach, da fällt mir ein … Hab ich dir schon gesagt, dass du in den vergangenen drei Wochen reich geworden bist? Auf jeden Fall hast du mehr Geld als vorher, ziemlich genau doppelt so viel. Der Bitcoin-Kurs ist um fast hundert Prozent gestiegen.«

Martin trat an ihr vorbei und ging in die Küche.

»Was hast du vor?« Dakota folgte ihm. »Ich hoffe, du willst jetzt nicht Kaffee kochen oder dir was zu essen machen oder so. Die Polizei könnte praktisch jederzeit hier aufkreuzen, von dem Anrufer eben ganz zu schweigen.«

Martin öffnete einen Küchenschrank, nahm die Teller heraus und drückte auf die Wand dahinter. Er fand die richtige Stelle nicht sofort, aber schließlich öffnete sich eine Klappe. In dem Fach dahinter lag eine Pistole mit zwei Magazinen.

»Das zweite Geheimfach in diesem Haus«, sagte er schnell. »Es gibt noch ein drittes, im Gästehaus. Willst du ebenfalls eine Waffe?«

Dakota hob abwehrend die Hände. »Nein, besten Dank. Damit würde ich mich nur selbst erschießen.«

Martin schloss das Fach und stellte die Teller wieder in den Schrank. Im Flur nahm er den Autoschlüssel, den Henriette wie erwartet in die mittlere Schublade der Kommode gelegt hatte.

Dakota stand bereits bei der Tür. »Können wir jetzt endlich los?«, drängte sie.

Nach einem weiteren Abstecher ins Büro, um Notebook und Ladekabel zu holen, verließ Martin die Villa, schloss ab und steckte den Schlüssel ein. Sein Wagen stand in der Garage, unbeschädigt und fahrbereit, der Tank halb voll. Er fuhr ihn nach draußen, stieg aus und schloss das Garagentor.

Als er sich umdrehte, sah er, wie Dakota langsam um den Wagen herumging, in der rechten Hand ein kleines Gerät, das über ein Display verfügte und wie ein Mini-Handy aussah.

»Was machst du?«

»Ich möchte keine weiteren Überraschungen wie die in dem Waldstück erleben«, erklärte sie. »Wie du selbst gesagt hast: Die Leute wussten, welchen Weg wir nahmen. Dafür gibt es bestimmt einen guten Grund.«

Sie erreichte die Frontpartie des Wagens, und das kleine Gerät in ihrer Hand, ein Signalscanner, piepte.

»Oh, sieh mal einer an.« Dakota hielt den Scanner dicht vor den Kühler, rückte langsam nach rechts und verharrte, als sich das Piepen wiederholte.

Sie streckte die freie Hand unter den Kotflügel, tastete umher und wurde fündig.

»Na bitte.« Sie richtete sich auf und zeigte Martin ein nur wenige Zentimeter großes Objekt, das mit einem Magneten ausgestattet war.

Er betrachtete es. »Was ist das?«

»Ein GPS -Tracker, nehme ich an. Keine Ahnung, wie alt oder neu er ist, ob er von Irene und ihren Komplizen oder der Polizei stammt.« Dakota legte den Tracker in die Garage. »Soll er hübsch weitersenden, dann glaubt wer auch immer, dass dein Wagen noch hier steht. Apropos, was soll mit meinem kleinen Fiat geschehen? Direkt vor dem Haupteingang macht er sich nicht besonders gut, oder?«

»Fahr ihn in die Garage.«

Wenig später waren sie mit Martins Wagen unterwegs. Als sie nach Süden durch die Stadt fuhren, sagte Dakota: »Wenn wir nach Bern wollen … Hier geht’s nicht zur Autobahn.«

»Vorher machen wir einen Abstecher nach Saint-Georges.«

Dakota verstand. »Zum Grab deiner Schwester.«

»Ja.«