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Das Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Bern stand ein wenig abseits der Straße, mit einem Vorgarten, in dem zahlreiche kleine Erdhaufen darauf hinwiesen, dass sich eine Maulwurffamilie darin niedergelassen hatte. Zwei große alte Kirschbäume, die Äste und Zweige kahl, erhoben sich rechts und links des mit Steinplatten ausgelegten Wegs, der zum Eingang führte. Auf dem Messingschild neben der Tür stand:

Gribach GmbH

Sachverständige Gutachter Ingenieure

Oldtimer-Forensik

»Bist du sicher, dass dies die richtige Adresse ist?«, fragte Dakota. »Hier steht nichts von Angelani.«

»Es ist die Adresse, an die ich mich erinnere.« Martin drückte den Klingelknopf unter dem Messingschild.

Es war neun Uhr morgens. Ein dünner grauweißer Nebelschleier lag über Bern.

Es klickte, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Martin drückte sie weiter auf und trat in den Flur. Rechts führte ein offener Zugang in ein leeres Wartezimmer. Auf der linken Seite gab es mehrere Büros mit Glastüren.

Eine Frau um die fünfzig kam ihnen entgegen, ihre Kleidung grau wie draußen der Tag.

»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Haben Sie einen Termin?«

»Nein«, sagte Martin. »Wir möchten Jannik Angelani sprechen.«

»Angelani?«, wiederholte die Frau verwundert. »Hier gibt es niemanden, der so heißt.«

»Vor vier Jahren hat Jannik Angelani als Sachverständiger das Gutachten für einen Unfall erstellt, bei dem meine Eltern ums Leben gekommen sind«, erklärte Martin. »Ich muss unbedingt mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Sie sind hier bei der Firma Gribach. Ich fürchte, Sie haben sich in der Adresse geirrt.«

Ein Mann kam aus einem der Büros auf der linken Seite. Er war einige Jahre älter als die Frau im grauen Kostüm und trug Jeans und Jackett.

»Sie suchen den alten Jannik, habe ich gehört?«

»Jannik Angelani«, sagte Martin. »Vor vier Jahren erstellte er das Gutachten für einen Verkehrsunfall, dem meine Eltern zum Opfer fielen.«

»Das habe ich ebenfalls gehört.«

Dakota konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. »Sie haben gute Ohren.«

Der Mann schenkte ihr ein Lächeln. »In der Tat, junge Dame. Nun, was ich sagen wollte …« Er wandte sich wieder an Martin. »Sie sind hier tatsächlich falsch. Bis vor vier Jahren hatte Herr Angelani sein Büro in diesem Gebäude, aber dann wurde er krank. Heute befindet er sich in einem Pflegeheim in Schliern. Das ist nicht weit von hier, ein kleiner Ort im Südwesten von Bern.«

»Was hat er?«, fragte Dakota.

»Demenz«, lautete die Antwort. »Es ging ziemlich schnell bergab mit ihm. Wir haben damals seine Firma übernommen. Gestatten, Paul Gribach.« Der Mann streckte die Hand aus.

Martin ergriff sie kurz, und Dakota folgte seinem Beispiel.

»Das mit dem Unfall, bei dem Sie Ihre Eltern verloren haben, tut mir leid«, sagte Gribach.

»Es ist vier Jahre her«, erwiderte Martin und fragte sich, was ihn an dem Mann störte.

»Und vor vier Jahren wurde Jannik Angelani, Sachverständiger bei ebenjenem Unfall, dement«, überlegte Dakota laut. »So ein Zufall. Einem Dementen dürfte es schwerfallen, Fragen zu beantworten, nicht wahr?«

Paul Gribach runzelte die Stirn. Dakotas Ton schien ihm nicht zu gefallen. »Das Leben kann sehr herzlos sein und einem die übelsten Streiche spielen.«

»Haben Sie die Adresse des Pflegeheims?«, fragte Martin.

»Ich denke schon. Bin gleich wieder da.« Paul Gribach verschwand in dem Büro, aus dem er gekommen war.

»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«, bot die Frau in Grau an. Martin merkte, wie ihr Blick kurz zu seiner Stirn und Schläfe glitt.

»Nein, danke«, entgegnete Dakota. »Sobald wir die Adresse haben, sind wir wieder weg.«

»Sie können gern dort Platz nehmen.« Die Frau deutete ins nahe Wartezimmer und verabschiedete sich mit einem Lächeln.

Eine Minute später kehrte Paul Gribach mit einem Zettel aus seinem Büro zurück. »Hier sind Adresse und Telefonnummer«, verkündete er aufgeräumt. »Mit meinen besten Empfehlungen.«

Martin nahm den Zettel entgegen. Dakota öffnete bereits die Haustür. Draußen herrschte eine Mischung aus Nebel und erstem zaghaften Sonnenschein.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Martin und schickte sich an, Dakota zu folgen. Doch dann blieb er in der Tür stehen, zögerte. »Haben Sie meinen Vater gekannt?«

»Ihren Vater?«, fragte Gribach. »Nein.«

Als sie im Wagen saßen, sagte Dakota: »Er war mir zu freundlich. Einer von diesen aalglatten Typen, die ich nicht ausstehen kann.«

»Es stimmt was nicht mit ihm«, meinte auch Martin, der wieder auf dem Beifahrersitz saß. Er besah sich das abseits der Straße stehende Mehrfamilienhaus und hatte das Gefühl, seinerseits beobachtet zu werden. Vielleicht stand Paul Gribach am Fenster.

Ein Jogger kam vorbei und zog im Laufen die Handschuhe aus. Die Sonne setzte sich immer mehr gegen den Nebel durch.

»Und was stimmt nicht mit ihm?«, fragte Dakota, als Martin schwieg.

»Ich habe ihn gefragt, ob er meinen Vater kennt. Er hat verneint, obwohl er gar nicht wissen konnte, wer ich bin. Wir haben unsere Namen nicht genannt.«

Paul Gribach stand am Fenster seines Privatbüros im zweiten Stock und beobachtete, wie die beiden jungen Leute in ihren Wagen stiegen. Er wartete, bis sie losgefahren waren, ging dann zum Schreibtisch, nahm das Cordless und wählte eine bestimmte Nummer.

»Ja?«, meldete sich eine Frau.

»Sie waren hier«, sagte Gribach. »Freeman und seine Freundin.«

»Ich nehme an, es ging um Angelani.«

»Ja«, bestätigte Gribach. »Ich habe ihnen die Adresse des Pflegeheims gegeben.«

»Sind sie jetzt dorthin unterwegs?«

»Davon gehe ich aus.«

»Danke für die Information«, sagte Irene und unterbrach die Verbindung.