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Auf dem Rückweg nach Genf wurde das Benzin knapp. Viele Tankstellen hatten geschlossen, weil ihnen der Kraftstoff ausgegangen war, und vor den wenigen, die noch geöffnet hatten, gab es lange Schlangen von mehr oder weniger geduldig wartenden Autofahrern.

»Wir sind schon auf Reserve«, sagte Martin, der diesmal selbst fuhr. »Aber wenn wir uns hier einreihen, müssen wir mindestens anderthalb Stunden warten. Und wer weiß, vielleicht ist bei der Tankstelle der Sprit alle, wenn wir an die Reihe kommen.«

»Kein Problem«, erwiderte der im Fond sitzende Lefèvre und nannte ihm eine Adresse. »Fahren Sie dorthin.«

Martin programmierte das Navigationsgerät und stellte fest, dass sich das Ziel nur wenige Kilometer entfernt befand. Er fuhr an der Tankstelle mit den vielen wartenden Wagen vorbei und folgte den Anweisungen des Navigationssystems.

»Machen Sie die Sieben auch dafür verantwortlich, Mister Konzertierte Aktion?«, fragte Dakota und deutete nach hinten.

»Die Lieferketten sind unterbrochen«, sagte Lefèvre ernst. »Alles wird knapp, nicht nur Benzin, Gas, Diesel und Heizöl, sondern auch Lebensmittel. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis wir die ersten Stromausfälle haben. Was ein längerer Ausfall der Versorgung mit elektrischer Energie im kommenden Winter bedeutet, muss ich Ihnen wohl nicht groß erklären. Die Regierungen könnten schon bald gezwungen sein, die Rationierung lebenswichtiger Güter anzuordnen. Umso wichtiger ist es, die Verantwortlichen zu identifizieren und aus dem Verkehr zu ziehen.«

»Monsieur Lefèvre, der Retter der Welt?« Martin warf einen Blick in den Rückspiegel. »Haben Sie sich da nicht ein bisschen viel vorgenommen? Fast hätten Sie es nicht einmal geschafft, uns zu retten.«

Er fühlte sich besser an diesem kalten, dunstigen Morgen, der Kopf war klarer, die Gedanken nicht so träge. Doch Dakota hatte ihn mit ihrem Argwohn angesteckt.

»Wir sind auf ein kleines Ablenkungsmanöver reingefallen«, gestand Lefèvre. »Ein Fehler, den ich bedauere. Aber ich bin dennoch rechtzeitig genug eingetroffen, um Irene daran zu hindern, Sie oder Mademoiselle van Leeuwen zu erschießen.«

Für einen Moment fragte sich Martin, ob alles ein großes, ausgeklügeltes Manöver war, ein Trick, der ihn dazu bringen sollte, die Wallet seines Vaters preiszugeben. Selbst wenn sie nicht die eine Million Bitcoin enthielt, die Satoshi Nakamoto zugeschrieben wurden, sondern nur einige Tausend – es ging im schlechtesten Fall um Milliarden von Dollar und im besten um eine Billion . Bei so viel Geld spielte die eine oder andere Leiche für gewisse Leute sicher keine Rolle.

»Übrigens, für welchen Geheimdienst arbeiten Sie?«, wollte Dakota wissen. »Oder für welchen Staat?«

Lefèvre beugte sich ein wenig vor. »Die nächste Straße rechts, Monsieur Freeman.«

Die Navigationsanzeige bestätigte es. Martin bog nach rechts ab und hielt überrascht vor einem Schlagbaum der Schweizer Armee.

»Hier gibt es Benzin. Ich sorge dafür, dass wir tanken können.« Lefèvre stieg aus.

Martin und Dakota beobachteten, wie er mit dem Soldaten im Wachhaus sprach und ihm etwas zeigte, vielleicht einen speziellen Ausweis.

»Es hat wohl wenig Sinn, dir vorzuschlagen, den Rückwärtsgang einzulegen und zu verschwinden, oder?«, fragte Dakota.

»Wir kämen nicht weit«, meinte Martin. »Der Tank ist fast leer. Außerdem hat er das Handy.« Er sah sie an. »Was kannst du bei Tron ausrichten?«

»Eine ganze Menge, glaube ich.« Dakota sprach schnell. »Aber es gefällt mir nicht, dass er mitkommt. Und Pietro, Willow und den anderen wird es ebenfalls nicht gefallen. Er könnte Dinge sehen, die er nicht sehen sollte, und es spielt keine Rolle, ob die Welt gerade aus den Fugen gerät oder nicht – du weißt, was es mit Tron auf sich hat. Bestimmt gibt es immer noch Konzerne und Regierungen, denen wir ein Dorn im Auge sind.« Sie klopfte auf die Hosentasche mit ihrem Handy. »Ich habe Amilia eine Nachricht geschickt, damit wir nicht einfach so bei wer weiß was ins Haus platzen, aber wohl ist mir bei der Sache nicht. Wenn er etwas sieht oder hört und weitergibt …«

»Wir können ihm wohl kaum die Augen verbinden und die Ohren zustopfen. Und er dürfte sicher nicht bereit sein, draußen im Wagen zu warten oder dabei zu helfen, die Hühner zu füttern. Wenn du dir das Handy vornimmst … Pass auf, gib gut acht.«

»Oh, ich habe keineswegs die Absicht, dem Typen alles auf einem silbernen Tablett zu servieren«, versicherte Dakota und fügte hinzu: »Es geht hier um verdammt viel Geld.«

Der Soldat telefonierte kurz, Lefèvre verließ das Wachhaus, und der Schlagbaum hob sich.

»Wir bekommen Benzin«, sagte Lefèvre, nachdem er wieder eingestiegen war. Er beugte sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und deutete nach vorn. »Der Schweizer Armee geht nie der Treibstoff aus, was auch immer geschieht.«

Zehn Minuten später verließen sie die Militärbasis mit vollem Tank und setzten die Fahrt nach Genf fort.

Der alte Bauernhof im Norden von Genf, zwischen der Autobahn A1 im Osten und dem Flughafen im Süden, wirkte leer und verlassen. Scheune und Stall waren geschlossen, und es standen keine Fahrzeuge vor dem restaurierten Hauptgebäude. Nur ein Fahrrad lehnte neben dem Dieleneingang an der Wand.

»Bemerkenswert«, kommentierte Lefèvre, als Martin hielt. »Dies ist also das Hauptquartier der berüchtigten Hackergruppe namens Tron.«

Martin stellte den Motor ab. »Es ist ein Bauernhof mit ein paar Computern.«

Sie stiegen aus. Leise Musik kam aus dem Haupthaus, eine traurig klingende Melodie.

»Ich freue mich schon darauf, Pietro, Willow, Amilia, Scarlett und die anderen kennenzulernen«, sagte Lefèvre.

Dakota sah ihn erstaunt von der Seite her an. »Sie wissen also Bescheid?«

»Glauben Sie allen Ernstes, dass Sie hier all die Jahre unbemerkt geblieben sind? Ja, wir wissen Bescheid.«

»Sie haben uns beobachtet? Uns überwacht?«

»Wir hatten Sie im Blick.«

»Und Sie haben uns gewähren lassen.« Martin hörte eine gewisse Bitterkeit in Dakotas Stimme. »Weil Sie Trons Aktionen für unwichtig hielten? Weil Sie keine Gefahr darin sahen?«

»Sie sind jung«, sagte Lefèvre. »Junge Leute glauben oft, die Welt verbessern zu müssen, und vielleicht haben sie sogar recht damit. Aber in der Regel kommt nichts dabei heraus.«

»Wir haben durchaus etwas erreicht«, beharrte Dakota. »Wir haben die Welt ein bisschen besser gemacht.«

»Indem Sie die Geheimnisse großer internationaler Unternehmen und von Regierungen an die Öffentlichkeit bringen? Indem Sie in versteckte Datenbanken eindringen und angebliche Skandale aufdecken?«

Lefèvre und Dakota standen noch immer neben dem Wagen. Martin hatte bereits die Tür erreicht. Die traurig klingende Musik wurde etwas lauter.

»Sie und Ihre Hacker-Freunde halten sich für Helden«, fuhr Lefèvre fort. »Ist Ihnen niemals in den Sinn gekommen, dass Sie in Wirklichkeit nur Werkzeuge im schmutzigen Kampf um Macht und Geld sind? Dass Sie in den geheimen Datenbanken entdecken sollten , was Sie dort entdeckt haben? Dass die vermeintlichen Skandale vor allem dazu dienten, bestimmte Konzerne und Regierungen zu schwächen, wodurch sich Vorteile für andere ergaben?«

Dakota starrte ihn verblüfft an.

Ein junger Mann, kaum älter als zwanzig, öffnete die Dielentür. Er war so dünn, dass seine Kleidung – Jeans und ein dicker rostbrauner Pullover – zwei Nummern zu groß schien. Ein dünner Stoppelbart bedeckte Kinn und Wangen. Der Kehlkopf schien bestrebt zu sein, den Hals zu verlassen.

»Hallo, Willow«, sagte Martin.

»Sie ist tot.« Willow schniefte. »Die anderen sind sofort zum Krankenhaus gefahren, als vor einer Stunde die Nachricht eintraf. Amilia hat eben angerufen. Sie ist tot.«

»Wer ist tot?«, fragte Dakota.

»Oma Myrte«, antwortete Willow. »Das Feuer hat sie doch noch umgebracht.«