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Drinnen war es fast unangenehm warm. Willow hatte die Heizung voll aufgedreht. Dakota ging im Wohnzimmer mit den dunklen Balken an der Decke zur alten Stereoanlage und schaltete sie aus.

Plötzlich war es still.

»So«, sagte sie und blieb vor Willow stehen. »Und jetzt noch einmal von vorn. Was ist mit Oma Myrte?«

»Sie starb heute Nacht.« Willows Kehlkopf tanzte auf und ab. »Wir haben es vor zwei Stunden erfahren. Die anderen haben sich sofort auf den Weg gemacht. Ich wäre gern mit ihnen gefahren und bin nur deshalb hier, weil mich Amilia ausdrücklich darum gebeten hat. Ich sollte auf euch warten.«

Es klang fast wie ein Vorwurf.

»Wer ist das?«, fragte er endlich und deutete auf Lefèvre.

»Ein Freund«, kam Martin Dakota zuvor und staunte, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam.

»Hatte es Oma so schlimm erwischt?«, fragte Dakota betroffen.

»Sie schlief, als das Feuer auf der ›Eldorado‹ ausbrach«, erklärte Willow traurig. »Wenn die anderen sie nicht aus ihrer Kajüte geholt hätten, wäre sie im Schlaf verbrannt.«

»Aus der Traum von der großen, weiten Fahrt«, murmelte Dakota. »Für immer aus.«

Sie sah Lefèvre an, als trüge er für alles die Verantwortung.

»Dakota braucht einen eurer Computer«, sagte Martin rasch. »Ist jemand unten?«

»Nur Emily«, antwortete Willow. »Sie behält unsere Verbindungen im Auge. Was meint ihr, kann ich losfahren?«

»Mit dem Rad, das wir draußen gesehen haben?«, fragte Dakota.

Willow nickte.

»Es ist ein weiter Weg bis nach Genf.«

»Ich könnte euren Wagen nehmen …«

»Nein«, sagte Lefèvre. »Den Wagen brauchen wir noch.«

Willow schniefte. »Also mit dem Rad. Bis später.« Er eilte nach draußen.

Martin und Lefèvre folgten Dakota die Kellertreppe hinunter.

Auf der linken Seite erwartete sie eine Mischung aus Hightechlabor, Rumpelkammer und Partyraum mit Postern an den Wänden und bunten Lampen. Überall standen oder lagen Geräte, alte und neue, in Regalen und Sesseln, in offenen Schubladen und auf dem fleckigen Teppichboden. Kabel führten zu dem Raum, der sowohl die Heizungsanlage als auch die beiden Notstromaggregate enthielt. Die Lüfter von PC s und Workstations summten und surrten leise. Monitore zeigten Datenkolonnen, Landschaften, rotierende Graphiken oder Spielszenen.

Rechts erstreckte sich ein schmaler, dunkler Gang.

»Wohin geht es dort?«, fragte Lefèvre.

»Wir nennen ihn Mäusetunnel«, erklärte Dakota. »Wer ihn angelegt hat, wissen wir nicht. Er scheint über hundert Jahre alt zu sein, vielleicht ist er sogar noch älter. Amilia glaubt, dass der Tunnel aus dem Mittelalter stammt.«

Lefèvre trat einen Schritt weit in den Tunnel und blickte in seine finsteren Tiefen. »Aus dem Mittelalter?«

»Ja. Damals soll hier eine Burg gestanden haben oder eine kleine Festung … Was in der Art. Ein alter Fluchtweg, wer weiß? Wir nehmen an, dass der Mäusetunnel später auch von der Schweizer Armee genutzt wurde, vielleicht während des Zweiten Weltkriegs. Jedenfalls haben wir ganz hinten halb verrostete Militärhelme und Gürtelschnallen gefunden.« Dakota verzog das Gesicht. »Skelette zum Glück nicht.«

Lefèvre stand noch immer halb in der Dunkelheit. »Wie weit reicht er?«

»Er führt unter Scheune und Stall hinweg bis zum Hügelhang«, antwortete Dakota. »Wer nichts davon weiß, wird den Zugang kaum finden. Wir haben jedenfalls nie Besuch aus dem Tunnel bekommen, bis auf ein paar Mäuse. Daher der Name. Aber Pietro hat auf einer Tür bestanden.« Sie zeigte in den Gang. »Ein paar Meter weiter drinnen, von hier kaum zu sehen.«

Lefèvre spähte noch einmal in die Finsternis, dann kehrte er zur Treppe zurück. »Machen wir uns an die Arbeit.«

In einer von insgesamt sechs Nischen des Hauptraums saß eine kleine junge Frau, nicht älter als Willow, der mit dem Fahrrad nach Genf unterwegs war. Ihr langes und dichtes rotes Haar quoll unter einer schneeweißen Baseballkappe und einem schwarzen Kopfhörer hervor. Die beiden jeweils zweiunddreißig Zoll großen Monitore vor ihr zeigten farbig markierte Programmcodes in einzelnen kleinen Fenstern und eine Weltkarte in einem großen, mit roten und gelben Bögen wie die Flugbahnen von Raketen. Martin vermutete, dass es sich um die Darstellung von globalen Datenströmen handelte.

Dakota legte Emily die Hand auf die Schulter und stand so, dass sie Lefèvre den Blick auf einen der beiden Monitore versperrte.

Die sitzende junge Frau wandte den Kopf und schob die rechte Hörmuschel nach hinten. »Oma Myrte ist tot«, sagte sie. »Und die Welt spielt verrückt.«

»Wir brauchen einen Computer«, erklärte Dakota. »Ich muss was untersuchen.«

Emily deutete zu einer Nische weiter hinten, flankiert von einer blauen und einer gelben Spotlampe. »Amilia hat alles für dich vorbereitet.« Sie blickte kurz zu Lefèvre. »Das mag sie nicht.«

»Kann ich mir denken«, erwiderte Dakota.

Mit schnellen Schritten ging sie durch den Raum, vorbei an einem großen Flachbildfernseher, der ein sich langsam drehendes Hypnoserad zeigte.

»Willow kann stundenlang davor sitzen und draufstarren«, sagte sie knapp zu Lefèvre. »Was vielleicht das eine oder andere erklärt.«

Beim Computer, den Amilia für sie vorbereitet hatte und dessen Bildschirm auf die Eingabe eines Passworts wartete, sank sie auf einen Drehstuhl und streckte die Hand aus. »Her damit.«

Lefèvre holte das alte Handy hervor und gab es ihr. »Seien Sie vorsichtig damit. Und keine Tricks.«

»Tricks? Wo kämen wir denn da hin?«

Martin beobachtete, wie Dakota das Handy mit wieder flink gewordenen Fingern auseinandernahm. Sie öffnete eine Schublade und entnahm ihr ein transparentes Werkzeugetui mit Instrumenten, wie er sie eher bei einem Uhrmacher vermutete hätte.

»Was machen Sie?«, fragte Lefèvre. »Was tun Sie damit?«

Die flinken Finger verharrten. »Möchten Sie reden, Mister Konzertierte Aktion? Oder soll ich arbeiten?«

Lefèvre hob die Hände. »Schon gut, schon gut.«

»Es kann eine Weile dauern.« Dakota deutete mit dem Daumen über ihre Schulter hinweg. »Sehen Sie sich so lange das Hypnoserad an, wenn Sie möchten. Oder Sie können sich an einen der anderen Computer setzen und eine Runde zocken.«

»Ich bleibe lieber hier und schaue Ihnen bei der Arbeit zu. Vielleicht kann ich das eine oder andere lernen.«

»Martin?«

»Zur Stelle.« Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Und das bleibe ich auch.«

Dakota lächelte. »Danke. Legen wir los.«