Martin Freeman

80

»Aus welchem Loch sind Sie denn gekrochen?«, fragte der Arzt. Er hieß »Dr. Harald Leinberger«, wie das Namensschild an seinem weißen Kittel verriet, und musterte sie eingehend über seine Brille mit den runden Gläsern hinweg.

»Nicht aus einem Loch, sondern durch «, antwortete Dakota, die ebenso schmutzig war wie Martin. »Wie geht es ihm? Und sagen Sie jetzt nicht …«

»Den Umständen entsprechend. Er wird gerade operiert. Zum Glück wurden keine lebenswichtigen Organe in Mitleidenschaft gezogen. Wir haben natürlich die Polizei verständigt. Immerhin handelt es sich um eine Schussverletzung. Übrigens wurde eben eine junge Dame eingeliefert, die kaum besser aussieht als Sie beide. Hat mit knapper Not ein Feuer überstanden.« Dr. Leinberger rümpfte demonstrativ die Nase.

»Klein?«, fragte Dakota schnell. »Dichtes rotes Haar?«

»Angesengtes rotes Haar. Die Feuerwehr fand sie ohnmächtig in einem Graben hinter einem brennenden Bauernhaus. Eine Freundin von Ihnen?«

»Emily.« Martin hörte Dakota erleichtert seufzen. »Wie geht es ihr? Und bitte sagen Sie nicht noch einmal ›den Umständen entsprechend‹.«

»Es geht ihr besser als dem Mann, den Sie hierhergebracht haben«, antwortete Dr. Leinberger.

»Bei Ihnen dürfte sie gut aufgehoben sein.« Dakota stand auf und ging zur Tür des kleinen Wartezimmers. »Ich bin sicher, Sie kümmern sich gut um Ihre Patienten. Wir müssen los. Martin?«

Er saß mit hämmernden Kopfschmerzen und einem Bild mit Löchern und Schlieren vor Augen da. Seinen Beinen traute er nicht, deshalb blieb er sitzen.

»Martin?«

»Gleich«, krähte er. »Nur einen Moment.«

Der Arzt musterte ihn erneut. »Was ist mit Ihrem Kopf? Die Wunde sieht schlecht verheilt aus.«

Er trat näher.

Dakota war mit einigen schnellen Schritten zwischen ihm und Martin. »Er ist gefallen. Sehen Sie nicht, wie schmutzig er ist?« Sie ergriff Martins Hand und zog ihn hoch. »Verständigen Sie Kommissar Dubois, Claude Léon Dubois, von der Mordkommission in Genf. So hieß er doch, nicht wahr, Martin? Mister James Bond wird ihm alles erklären.«

Dr. Leinberger hob grauweiße Brauen. »James Bond?«

»Beziehungsweise Monsieur Lefèvre.« Dakota zog erneut, und Martin wankte mit ihr in Richtung Tür. »Er ist Geheimagent in höchst geheimem Regierungsauftrag.«

»So geheim, dass Sie mir davon erzählen dürfen?«

»Noch viel, viel geheimer«, verriet ihm Dakota in einem verschwörerischen Ton. »Richten Sie ihm aus, dass wir leider nicht bis zu seiner Genesung warten konnten, wir mussten los.«

Sie öffnete die Tür, und nach einigen weiteren mühevollen Schritten fand sich Martin in einem Krankenhausflur wieder. Es roch nicht nach Desinfektionsmitteln, sondern nach altem Staub. Und nach Feuer. Er schnupperte argwöhnisch.

»Nein, hier brennt nichts«, sagte Dakota. Sie war ganz nah bei ihm, eine beruhigende Präsenz. »Der Brandgeruch hat sich in unserer Kleidung festgesetzt. Zusammen mit vielen anderen Dingen.«

»Wenn Sie so freundlich wären, Ihre Namen und Adressen zu hinterlassen …«, sagte der Arzt hinter ihnen. »Für die Polizei, die gleich hier sein dürfte. Und für Ihren Kommissar.«

»Oh, Kommissar Dubois gehört nicht uns, sondern sich selbst«, antwortete Dakota über die Schulter hinweg. »Er kennt uns, er weiß Bescheid. Was den Rest betrifft … Fragen Sie den Herrn Geheimagenten, sobald er reden kann. Er wird Ihnen alles sagen. Oder vielleicht auch nicht.«

Martin konnte sich kaum auf den Beinen halten. Um ihn herum wankte alles, er glaubte sich plötzlich in einer Welt, in der es keinen festen Halt mehr gab.

Dakota stützte ihn. »Wir haben die Wallet«, flüsterte sie. »Nakamotos Wallet.«

Ein oder zwei Sekunden lang schienen die Worte keinen Sinn zu ergeben, dann traf ihn ihre Bedeutung mit voller Wucht.

»Eine Million Bitcoin?«, brachte er hervor.

»Keine Ahnung, ich konnte keinen Blick hineinwerfen«, sagte Dakota leise. »Aber es ist Satoshi Nakamotos Wallet, da bin ich sicher. Die Fragmente der Textnachrichten lassen keinen anderen Schluss zu. Ich schätze, darauf hatte es James Bond abgesehen.«

Sie erreichten die Treppe. Martin fühlte, wie sich der Schleier der Müdigkeit hob, die Beine wurden etwas kräftiger, und es bereitete ihm weniger Mühe, eine Stufe nach der anderen hinter sich zu bringen.

Draußen dämmerte es.

»Ist es Abend oder Morgen?«, fragte er. »Ich verliere allmählich die Übersicht.«

»Abend.« Dakota führte ihn zum Parkplatz des Krankenhauses. »Wir müssen raus aus diesen Klamotten, bevor wir die Reise fortsetzen. Wir brauchen frische Kleidung. Wir fahren zu dir, einverstanden? Ich nehme an, dort gibt es noch die Sachen deiner Schwester. Das eine oder andere davon sollte mir passen.«

Sie schloss den Wagen auf und half ihm auf den Beifahrersitz.

»Zurück zur Villa?«, fragte Martin, als Dakota am Steuer saß und den Motor anließ. »Könnte uns dort nicht eine unangenehme Überraschung erwarten?«

Dakota sah ihn an. »Es wäre dumm, dorthin zurückzukehren, nicht wahr? Und Irenes Leute – die von ihnen noch übrig sind – dürften inzwischen wissen, dass wir nicht dumm sind, oder?« Sie zögerte kurz und seufzte. »Klingt blöd und ist es wahrscheinlich auch, zugegeben. Wie dem auch sei, ich glaube nicht, dass uns bei dir zu Hause jemand auflauert. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich der Rest von Irenes Komplizen nach dem jüngsten Desaster erst einmal sortieren muss. Einige Stunden Zeit sollten wir haben, vielleicht einen Tag, und das genügt. Außerdem bleibt uns ohnehin keine Wahl. Meine Sachen bei mir zu Hause kommen für dich kaum in Frage.«

Dakota löste die Handbremse.

»Von welcher Reise hast du gerade gesprochen?«, fragte Martin benommen. »Wohin?«

»Nach Amsterdam«, lautete die Antwort. »Zu den Hackern von Concept.« Dakota steuerte den Wagen auf die Straße und fuhr langsam und vorsichtig, obwohl kaum Verkehr herrschte, denn den meisten Autofahrern fehlte das Benzin. »Wir haben die Wallet, aber nicht das Geld. Oder kennst du das Passwort?«

»Nein«, murmelte Martin, »natürlich nicht.« Eine Million Bitcoin, dachte er.

»Tron existiert nicht mehr«, sagte Dakota. »Also bleibt uns nur Concept in Amsterdam. Meine alten Freunde werden sich freuen, mich wiederzusehen.«

Es klang nicht sehr überzeugt.