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»Lieber Himmel, wie seht ihr denn aus?«, entfuhr es Henriette. Sie stand in der Tür, blass und wie um Jahre gealtert, gekleidet in Jeans und Pulli.

»Es ist eine lange Geschichte«, erwiderte Martin. »Dürfen wir reinkommen?«

»Was? Oh.« Die Haushälterin wich beiseite, damit Martin und Dakota die Villa betreten konnten. »Du siehst schrecklich aus!«

»Herzlichen Dank.«

»Und dein Kopf …« Henriette hob die Hand zum Mund. »Das Krankenhaus hat sich gemeldet und nach dir gefragt. Und ich habe dich immer wieder angerufen, aber es hat niemand geantwortet.«

»Ich hab ein neues Handy«, erklärte Martin müde. Ein neues altes, dachte er.

»Wir sind nur gekommen, um uns zu waschen und umzuziehen«, sagte Dakota und versuchte, freundlich zu klingen. »Anschließend geht es gleich weiter.«

Henriette richtete einen fragenden Blick auf Martin.

»Ja«, bestätigte er, »wir sind nur auf der Durchreise.«

»Aber wohin wollt ihr in dieser schrecklichen Zeit?«

Die jüngsten Ereignisse kannte Henriette nicht. Martin vermutete, dass sie die Krise meinte. »Nach …«

»Das wissen wir noch nicht genau«, kam ihm Dakota zuvor. »Zuerst einmal wollen wir einfach nur weg.« Sie sah an sich herab. »Ich brauch ein Bad. Und dann, wie gesagt, ein paar Sachen von Jasmin.«

Henriette runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ihr das gefallen würde.«

»Jasmin ist tot«, sagte Martin und hörte die eigenen Worte wie von jemand anderem gesprochen. »Und wir sind ihren Mördern auf der Spur.«

»Ach, Martin«, jammerte Henriette, »warum musste das alles nur geschehen?«

»Es musste nicht geschehen«, erwiderte Dakota ein wenig zu heftig. »Es ist eben passiert. Wunschdenken bringt uns nicht weiter.«

Henriette holte tief Luft. »Junge Dame …«

»Kannst du uns etwas zu essen machen, Henriette?«, unterbrach Martin sie. »Was Schnelles, keine große Sache.«

»Natürlich.« Die Haushälterin eilte zur Küche, vielleicht froh darüber, etwas zu tun zu haben.

»Wer zuerst?«, fragte Dakota.

»Du kannst das große Badezimmer nehmen. Mir reicht die Dusche im kleinen. In der Badewanne würde ich vermutlich einschlafen.«

Dakota kannte den Weg. Sie ging zwei Schritte und zögerte dann.

»Wir sollten nicht zu lange bleiben, Martin. Wenn die Suche nach uns beginnt, steht die Villa ganz oben auf der Liste.«

»Ich weiß.«

»Nur das Nötigste«, mahnte Dakota. »Nichts, das Ballast für uns sein könnte. Und …« Sie überlegte schnell, und Martin war dankbar für ihren Kopf, der sicher weniger schmerzte als seiner und noch zu klaren Gedanken fähig war. »Die Tankstellen sind dicht, mit dem Wagen kommen wir nicht weit. Mein kleiner Elektro-Fiat taugt nur was für die Stadt. Wir nehmen die Bahn. Buch uns zwei Plätze im nächsten Zug, am besten Schlafwagen.«

Martin nickte und betrat sein Arbeitszimmer. Alles wirkte unberührt, nicht aufgeräumt, aber auch nicht unordentlich. Offenbar hatte Henriette nur Staub gewischt, ohne irgendetwas an einen anderen Platz zu legen.

Vor dem großen Schreibtisch mit dem gewölbten Monitor, der von einer Seite bis zur anderen reichte, blieb Martin stehen und sah aus dem Fenster. Im Park leuchteten die Lampen, und jenseits von ihnen lag der Genfer See still und ruhig, eine vertraue Welt, die zur Fassade geworden war, zu den Kulissen eines früheren Lebens, das wie in Trümmern lag.

Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung, schaltete den Computer ein und reservierte ein Schlafwagenabteil des nächsten Zugs nach Amsterdam. Die Buchungsbestätigung druckte er aus und steckte sie ein.

Ein oder zwei Minuten lang überlegte er, ob er das Notebook mitnehmen und wichtige Daten kopieren sollte, darunter die aus zwölf Worten bestehende Seed-Phrase für seine Bitcoin-Wallet, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Mit der Seed-Phrase ließ sich der Zugang zu seinen Bitcoins wiederherstellen, und er hatte ihr einen festen Platz in seinem Gedächtnis zugewiesen. Zweimal am Tag wiederholte er sie in Gedanken, morgens und abends. Es war zu einem Ritual geworden, das ihn daran hindern sollte, den Seed zu vergessen.

Er dachte an das Manuskript seines Buchs, das bis vor wenigen Wochen eine wichtige Rolle für ihn gespielt hatte und seitdem immer mehr in den Hintergrund gerückt war. Was auch immer in Amsterdam geschehen würde – Martin bezweifelte, dass er dort Zeit und Gelegenheit bekam, die Arbeit an seinem Buch über Bitcoin und Satoshi Nakamoto fortzusetzen. Er hatte ohnehin das Gefühl, dass die Wirklichkeit die spekulativen Aspekte des Buchs zu überflügeln begann.

»Ich mache euch leckere Bratkartoffeln mit Spiegelei!«, rief Henriette aus der Küche. »Geht ganz schnell.«

»In Ordnung«, antwortete Martin laut genug, damit sie ihn durch die offene Tür hörte.

Was als Nächstes?, fragte er sich und versuchte, durch den Nebel in seinem Schädel zu denken.

Er verließ sein Arbeitszimmer, ging aber nicht nach oben, sondern ins Atelier neben dem großen Wintergarten. Die Staffelei zeigte Jasmins letztes Bild, das ihn an Edvard Munchs Schrei erinnert hatte: rote, gelbe und braune Farbtöne, darin eingebettet ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und den Mund zu einem Schrei geöffnet. Jasmin war sehr stolz darauf gewesen.

Er streckte die Hand nach dem Bild aus, wie um den Schrei zu berühren, der von Jasmin selbst zu kommen schien, ließ sie aber dicht vor der Leinwand sinken.

Mit schnellen Schritten wie bei einer Flucht verließ er das Atelier, eilte mit dem Hammer im Kopf die Treppe hoch, erreichte sein Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Rasch stopfte er einige Kleidungsstücke in eine Reisetasche und fügte ihnen in Jasmins Zimmer eine grüne Jeans und mehrere bunte Blusen und Pullis hinzu. Sie entsprachen nicht Dakotas Geschmack, das wusste er, und vermutlich passten sie nicht richtig. Doch für eine Nacht und einen Tag würde sie damit zurechtkommen, und in Amsterdam konnten sie neue Kleidung kaufen.

Das erinnerte Martin an etwas. Er kehrte ins Erdgeschoss zurück, setzte sich in seinem Arbeitszimmer erneut an den Computer und begann mit einer schnellen Recherche. Er vertippte sich immer wieder, weil seine Finger noch etwas taub waren, aber schließlich fand er, was er suchte: Die niederländische ING -Bank erlaubte die unbürokratische Einrichtung von Online-Konten mit der Möglichkeit von Bargeldauszahlungen an Geldautomaten überall in den Niederlanden.

Martin bestätigte seine Identität mit einem beglaubigten digitalen Ausweis und übermittelte anschließend der in Luxemburg ansässigen Kryptobörse Bitstamp eine kleine Verkaufsorder mit neuen Kontoangaben. Verkauf und Überweisung nahmen nicht mehr als einige Minuten in Anspruch, mit dem Ergebnis, dass am kommenden Tag, wenn sie in Amsterdam eintrafen, zwanzigtausend Euro auf dem gerade neu eröffneten ING -Konto bereitliegen würden.

»Du bist noch hier?« Dakota betrat das Arbeitszimmer und kam zu ihm, in einen Bademantel gehüllt, das Haar ungekämmt und noch feucht. Sie duftete nach Seife, als sie neben ihm stand.

Martin fuhr den Computer herunter. »Ich hab in Amsterdam ein Konto für uns eröffnet. Wir brauchen Geld, wenn wir dort eintreffen.«

»Vielleicht haben wir bald mehr Geld, als wir jemals ausgeben können«, sagte Dakota leise.

»Wo ist das Handy?«

Sie zog es halb aus der Tasche des Bademantels und ließ es wieder darin verschwinden.

»Gib gut darauf acht.« Martin stemmte sich hoch. »Ich gehe duschen.«

Dakota zupfte an ihrem Bademantel. »Hiermit kann ich nicht zum Bahnhof. Ich brauch andere Sachen.«

»Sieh dir den Inhalt von Jasmins Kleiderschrank an, und such dir was aus.« Er gähnte. Müdigkeit machte seine Glieder schwer. »Ich hab was für uns zusammengepackt, eine kleine Reisetasche.«

Sie gingen gemeinsam die Treppe hoch. Oben angelangt, suchte Martin das kleine Badezimmer auf, ließ in der Duschkabine heißes Wasser auf sich herabströmen, schloss die Augen und versuchte, für einige wenige Sekunden alles zu vergessen und sich zu entspannen.

Das Hämmern in seinem Kopf hinderte ihn daran.

Er schrubbte sich den Rücken mit einer Bürste, die an einem rostigen Nagel hing, und überließ es dem heißen Wasser, die Nachwirkungen von Kälte und Schock fortzuspülen. Sauber und noch immer müde zog er zehn Minuten später die frischen Sachen an, die er zuvor aus seinem Zimmer geholt hatte, blickte in den Spiegel und glaubte, einen Zombie zu sehen –, seine Augen waren blutunterlaufen, und blaue und grüne Flecken säumten die Schusswunden an Stirn und Schläfe.

Martin strich das Haar nach hinten, verließ das kleine Badezimmer und ging die Treppe hinunter.

Im Erdgeschoss erwartete ihn ein Besucher.

Kommissar Dubois.