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Der Demonstrationszug kam wie gerufen – für Martin und Dakota gab es keine bessere Möglichkeit, sich unbemerkt abzusetzen. Selbst wenn Polizei oder Leute vom Geheimdienst nach ihnen suchten, inmitten von Hunderten oder gar Tausenden Demonstranten konnte sie niemand finden. Vermutlich nützten auch die Überwachungskameras nichts, es sei denn, sie schickten ihre Bilder an eine besonders leistungsfähige Gesichtserkennungssoftware.

In der dicht gedrängten Menge entfernten sie sich vom Dam und dem Haus von Concept. Aus Seitenstraßen kamen weitere Demonstranten, Einsatzwagen der Polizei standen an Kreuzungen.

Dakota ergriff Martins Hand und zog ihn mit sich.

»Wohin willst du?«

»Weg von hier.«

In der Nähe einer kleinen Seitenstraße schlüpften sie aus dem Demonstrationszug und an Schaulustigen vorbei. Ein Café fiel Martin auf, bei dem ein Schild im Schaufenster verkündete: »Zahlung nur mit .«

Hinter ihnen klirrte es. Martin warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Steine aus der Menge der Demonstranten flogen.

Er vergaß seine Kopfschmerzen, als sie durch Straßen und Gassen eilten, fort von den Sprechchören und Steinewerfern, und seine Beine schienen ihre Schwäche ebenfalls zu vergessen. Seine Gedanken waren auf mögliche Verfolger und auf die Bitcoin-Wallet im alten Handy seines Vaters konzentriert.

»Das mit dem Zug war dumm, nicht wahr?«, brummte er schließlich, als sie eine weitere Brücke überquert hatten und unter einem Baum stehen blieben, der seine Blätter verloren hatte. Die Straße entlang der Gracht war seltsam leer, wie zu Zeiten des Corona-Lockdowns.

»Das mit Concept war dumm.« Dakota sah sich um und hielt nach Verfolgern Ausschau. Eine Möwe flog übers nahe Wasser, landete auf einer Anlegestelle und krächzte. »Oder auch nicht. Ich meine, blieb uns eine Wahl? Dort gab es die richtigen Computer und die richtigen Programme.«

»Aber die falschen Leute.«

Dakota hob die Hände. »Kein Einspruch, Euer Ehren. Die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Was den Zug und die Fahrt hierher betrifft … Auch da hatten wir keine Wahl. Mit dem Auto wär’s nicht gegangen, und da nur noch wenige Flugzeuge unterwegs sind, hätten sich James Bond und seine Leute kaum anstrengen müssen, unserer Spur zu folgen.«

»Sie wissen, dass wir hier sind.« Martin blickte sich ebenfalls um.

Dakota nickte. »Adrian sei’s gedankt. Und vielleicht auch Silke, wie du vermutet hast, trotz ihrer netten Worte. Aber der EU -Geheimdienst kennt meine Vergangenheit, er weiß von Concept. Da muss man kein Genie sein, um sich denken zu können, wohin wir uns wenden würden.«

Martin lehnte sich an den Baum, weil ihm die Knie wieder weicher wurden. »Meine Güte, wir sind ganz schön blöd gewesen.«

»Kommt darauf an«, erwiderte Dakota nachdenklich. »Wir sind der Falle bei Concept entkommen und hatten Gelegenheit, das eine oder andere herauszufinden. Aber unser Gastspiel hier in Amsterdam darf leider nur kurz sein. Wenn es nötig ist, werden sie die ganze Stadt nach uns umkrempeln. Auto und Bahn kriegen ein klares Nein von mir. Bleibt also nur …«

Martin deutete zur Gracht. »Ein Boot?«

»Ein Boot wäre zu langsam. Vielleicht müssen wir bald ziemlich weit reisen. Ich hab da so einen Verdacht, der mit deinem letzten Telefonat zusammenhängt.«

»Mit meinem letzten Telefonat?«, wiederholte Martin verwirrt.

Auf der anderen Seite der Gracht kamen mehrere Personen aus einer Gasse, unter ihnen ein junger Mann, der ein Handy zum Ohr hob und telefonierte.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Dakota leise. Sie nahm wieder Martins Hand und ging los.

»Die letzte Telefonnummer auf der Liste«, erklärte sie nach einigen Schritten. »Jemand hat abgenommen. Und die Stimme, die du gehört hast … Sie klang irgendwie synthetisch, hast du gesagt.«

Martin erinnerte sich. »Ja. Was ist damit?«

»Noch nicht viel, ich muss es noch überprüfen. Es hängt mit einem der Fotos und den Texten zusammen, die mir Silkes Computer gezeigt hat. Wie gesagt, es könnte sein, dass wir bald eine weite Reise machen müssen, weiter als von Genf nach Amsterdam, und dafür brauchen wir …«

»Ein Flugzeug. Aber eben hast du darauf hingewiesen …«

»Ich weiß, ich weiß, mein lieber Verlobter. Flugzeuge sind noch leichter zu kontrollieren als Züge. Und da kommt der gute alte Henry ins Spiel. Wir kaufen uns neue Namen, neue Identitäten. Henry ist teuer, aber wir haben genug Geld, nicht wahr?«

»Wer ist Henry?«

»Ein Kauz und Genie. Er wird dir gefallen. Aber zuerst müssen wir die Typen loswerden, die gerade die Brücke überquert haben und uns folgen.«

Sie bogen in eine Nische zwischen zwei Häusern, in eine Gasse so schmal, dass man kaum nebeneinandergehen konnte. Dann spurtete Dakota los, mit Martin im Schlepptau.