Martin Freeman

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Martin und Dakota trugen wieder die Plastikfesseln, aber diesmal waren ihre Hände nicht auf dem Rücken zusammengeschnürrt, sondern vorn am Leib. Gregor führte sie fort von den beiden Frachtcoptern, die in einer Wolke aus aufgewirbeltem Schnee gelandet waren. Nicht weit entfernt stand ein weiterer Copter, ein kleinerer für den Personenverkehr, kobaltblau im Schein einer Lampe, die an einem hohen Mast leuchtete.

Die Männer und Frauen begannen sofort damit, die beiden großen Copter zu entladen. Ihre Waffen hatten sie eingesteckt.

»Die Leute wirken ganz unbesorgt«, flüsterte Dakota Martin zu, als Gregor kurz mit Tobias sprach. »Sie rechnen nicht damit, hier auf Gegner zu treffen.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Martin ebenso leise.

»Keine Ahnung.«

Mehrere Container standen auf dem grönländischen Eis, von Schneewehen umgeben. Im größten von ihnen ging das Licht an, und jemand sah aus dem Fenster.

Gregor sprach noch immer mit Tobias. Der junge Mann gestikulierte, und Martin bemerkte, dass er mehrmals in ihre Richtung deutete.

»Dieser Tobias gefällt mir nicht«, zischte Dakota.

»Mir gefällt niemand von diesen Typen, am allerwenigsten Gregor.« Er gab sich freundlich, dieser Mann mit dem zernarbten Gesicht, er lächelte oft und schnell. Aber Martin vergaß nicht einen Moment lang, dass er für den Tod seiner Eltern und auch für den von Jasmin verantwortlich war.

Dakota sah sich um. »Kein sehr gemütlicher Ort. Eine Insel in der Südsee wäre mir lieber, das steht fest.«

Gregor beendete das Gespräch mit Tobias, der Dakota und Martin einen letzten Blick zuwarf und dann zu den anderen ging, um ihnen beim Ausladen zu helfen.

»Ich hab’s schon mal gesagt, wir müssen uns schleunigst was einfallen lassen«, flüsterte Dakota schnell. »Hast du einen Plan?«

»Ich überlege noch.«

»Dann überleg etwas schneller.«

Gregor kam heran. »Was flüstern Sie da? Falls Sie an Flucht oder dergleichen denken: Hier gibt’s nichts im Umkreis von vierhundert Kilometern. Oder fast nichts. Nur eine unbemannte Wetterstation sechzig Kilometer von hier und dreimal so weit entfernt die Reste von Camp Century, bestehend hauptsächlich aus dem Müll, den die Amerikaner dort hinterlassen haben, als sie ihre ›Stadt unter dem Eis‹ 1966 aufgaben. Zehntausend Tonnen Unrat, ein Teil davon radioaktiv verstrahlt. Ein schönes Geschenk an Grönland und die dänische Regierung.« Er deutete in die Runde. »Hier gibt es nur kalte weiße Leere, sonst nichts. Eine Flucht würde bedeuten, dass Sie elendig erfrieren.«

Dakota hob die Hände. »Wenn Flucht keinen Sinn hat, können Sie uns ja die Fesseln abnehmen.«

»Vielleicht später.«

Die Aussicht, dass es überhaupt ein Später für sie gab, erleichterte Martin. »Wo sind wir hier?«

»Haben Sie’s noch nicht erraten?«, fragte Gregor.

Martin sah sich noch einmal um und beobachtete, wie die Männer und Frauen Ausrüstungsgegenstände zu den Containern trugen. Mehr Lampen leuchteten auf, die Dunkelheit wich weiter zurück. »Ist das die alte Forschungsstation, die Francis Forsythe aufgesucht hat und zu der Xanadu unterwegs war?«

»Sie klingen überrascht, Martin. Was haben Sie erwartet?«

Nicht so viel Entspannung, dachte Martin. Nicht so viel Ruhe und Gelassenheit. Hatte sich hier nicht ein Gegner verschanzt?

Vielleicht ging Dakota ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf, denn sie sagte: »All die Waffen, die Sie mitgebracht haben … Gegen wen wollen Sie hier Krieg führen?«

»Es ist eine kleine Sicherheitsmaßnahme«, antwortete Gregor bereitwillig. »Für den Fall, dass die Welt dort draußen ein militärisches Eingreifen beschließt.«

Was bedeutete … Es gab keine dritte Interessengruppe, begriff Martin. Es existierten nur zwei Seiten: die Sieben und der Rest der Welt. Gregor und seine Helfer waren so entspannt, weil sie nicht erwarteten, hier auf Kontrahenten zu stoßen, sondern Verbündete zu treffen.

Nein, dachte Martin. Nicht auf Verbündete in dem Sinne, sondern auf die Personen, von denen sie ihre Anweisungen erhielten.

Und das bedeutete auch …

»Er ist hier, nicht wahr?«, entfuhr es ihm.

»Wen meinen Sie?«, fragte Gregor, obwohl er es offensichtlich genau wusste, denn er lächelte wieder, die Narben in seinem Gesicht gerieten in Bewegung.

»Satoshi Nakamoto!«

»Wer weiß«, erwiderte Gregor. »Kommen Sie, ich möchte Sie jemandem vorstellen.«

»Der unsere Fragen beantworten kann?«, wollte Dakota wissen.

»Oh, ich denke schon.«

Gregor führte Martin und Dakota zum Hauptcontainer.

Im Osten zeigte sich das erste Licht der Morgendämmerung.