Von Weitem sieht es aus wie ein Haus. Es hat ein Dach und einen Zaun und klaffende Fenster und eine Tür, die beim leisesten Luftzug in den Angeln schwingt. Aus der Nähe ist es eine Ansammlung von Winkeln und Schatten, von ungleichmäßigen Schattierungen weißer Farbe, mit einem rostigen Blechdach, das herunterzurutschen droht. Wenn man lauscht, egal aus welcher Entfernung, hört man drei Dinge: das betäubende Trommeln des Regens, das unheilverkündende Knacken der Bodenbretter und die Stimmen der Nachbarn, die durch die Risse in den Moskitonetzen dringen, die vor den Fenstern hängen.
Hier lebt Jini. Sie ist zwölf Jahre alt.
Es ist ein heißer Tag. Schweißperlen kullern ihr den Nacken hinab, als sie die Straße hinunter geht. Ein Mann, der Süßigkeiten und Nüsse in Pappbechern verkauft, eiert auf seinem Fahrrad vorbei und ruft seine Preise aus. Zwei streunende Hunde mit geflecktem Fell und breitem Grinsen umkreisen einander schwanzwedelnd. Ihre Mutter hat ihr eine Liste mit Dingen gegeben, die sie für das Abendessen einkaufen soll, und Jini angewiesen, zu feilschen. »Wir können uns nicht alles leisten. Wenn du Laden-Onkel dazu bringen kannst, uns ein halbes Dutzend Eier für den Preis von dreien zu geben, dann mach das. Sag ihm, dass wir es ihm später zurückzahlen. Wir gehen ja nicht weg.«
Jini ist es peinlich, um Eier zu feilschen. Woche für Woche muss sie zwischen den Hausfrauen stehen und mit Laden-Onkel herumdiskutieren. Er redet so schnell, dass sie meistens gar nicht weiß, mit welchem Preis sie sich einverstanden erklärt. Er kann manchmal ganz nett sein, wenn die Geschäfte gut gehen und im Laden gleichzeitig mehrere Frauen stehen mit Babys auf den Hüften und Kleinkindern, die sich an ihre Beine klammern. Wenn der Laden leer ist, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie ihn herunterhandeln kann. Erst vorige Woche hat er sie aus dem Laden gejagt, weil sie zu viel verlangt hat. »Meinst du, das ist ein Selbstbedienungsladen?«, hat er sie plötzlich angeblafft. »Typisch Inder. Wollen alles geschenkt kriegen!« Sie ist aus dem Laden gestürzt ohne die Hälfte der Lebensmittel, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte zu kaufen.
Jini durfte deshalb zwei Wochen lang nicht mehr einkaufen, aber sie hat die ganze Woche gebettelt, aus dem Haus gelassen zu werden, etwas tun zu dürfen, und an diesem Morgen hat ihre Mutter sich endlich erweichen lassen. Gerade sind Schulferien, und Jini langweilt sich. Einige ihrer Schulfreundinnen wohnen in ihrem Viertel, aber ihre Mutter verbietet ihr neuerdings, zu viel mit Punjabi-Mädchen zu reden. Sie hat Angst, Jini könnte herausrutschen, dass ihr Vater seit Wochen weg ist. Jini traut sich nicht, ihrer Mutter zu sagen, dass es schon jeder weiß.
Als sie vorsichtig über die Straße geht, glaubt Jini, eine vertraute Stimme zu hören, aber vielleicht hat sie es sich nur eingebildet. Auf diesem Straßenabschnitt klingen die Laute der Vögel, die einander rufen, und das Quietschen der Autoreifen wie Menschenstimmen. Dann hört sie es wieder.
»Große Schwester!« Sie fährt herum. Es ist der sechsjährige Bilu, der auf der anderen Straßenseite auf- und abspringt und winkt.
»Bleib, wo du bist!«, ruft sie mit erhobenen Händen. »Eine Bewegung und ich bringe dich um!« Die Augen ihres Bruders weiten sich, dann setzt er sich plötzlich mitten auf den Bürgersteig, die Beine sauber unter dem Hintern verstaut. Jini muss lachen, als sie über die Straße zurückhetzt, aber ihr Ärger ist gleich wieder da.
»Weiß Mutter, dass du hier draußen bist?«, fragt sie. Er nickt. Sie verpasst ihm einen schmerzhaften Knuff, packt ihn am Kragen, und gleich ist die Antwort eine andere.
»Nein-nein-nein-nein-nein-nein«, sagt er. Ein Mann in farbverschmierten Shorts geht vorüber und wirft Bilu einen Seitenblick zu.
»Okay, dann geh nach Hause.«
»Nein.«
»Doch. Bilu, geh nach Hause.« Sie zeigt in die Richtung ihres windschiefen Hauses.
»Nein-nein-nein-nein-nein-nein-nein!«, kreischt er. Der Mann hält inne und starrt Bilu erschrocken an.
»Lassen Sie uns in Ruhe!«, sagt Jini zu dem Mann. Sie ist sonst nicht so unhöflich zu Älteren, aber dieser Mann schaut sie mit einem Blick an, den sie schon kennt. Mit seinen Blicken fragt er sie: Was ist los mit deinem Bruder? Wenn sie das wüsste, würde sie allen und jedem, die ihr diesen Blick zuwerfen, eine Antwort geben. Aber sie kann nur das erzählen, was ihre Mutter den Frauen im Tempel erzählt: »Er ist nicht in Ordnung.« Das trägt ihnen jede Menge Mitgefühl und Zungenschnalzen ein. Niemand will die Last eines Kindes, eines Bruders oder einer Schwester, tragen, die nicht in Ordnung sind. Erst wenn sie nicht aufhören, Fragen zu stellen, wird Jini ungeduldig und möchte ihnen samt und sonders erklären, sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Was geht es sie an, ob er als Baby genug zu essen bekommen hat oder was mit ihm passieren soll, wenn er älter wird und schwerer unter Kontrolle zu halten? Ihre Mutter wird bei solchen Fragen bleich, Jini wird rot.
Bilu windet sich kreischend. Er wälzt sich auf dem Boden und bekommt Sand und Dreck in Haare und Augen. Tränen strömen ihm über die Wangen. Der Mann setzt seinen Weg fort, starrt die Kinder aber weiter an. »Ich hab gesagt, lassen Sie uns in Ruhe!«, brüllt Jini. Kurz verstummt Bilu, völlig verdutzt. Er sieht dem Mann hinterher, der jetzt die Straße hinunterhetzt. Sogar Jini selbst ist überrascht vom Klang ihrer eigenen Stimme.
»Rausgehen?«, fragt Bilu. Tränen fallen auf den Kragen seines T-Shirts.
»Nein. Ich gehe raus. Du musst im Haus bleiben«, sagt Jini fast flehentlich. Bilu löst sich wieder in Schluchzen auf. Er ballt die Fäuste und reibt sich damit die Augen. Jini spürt ihr Herz brechen. Selbst wenn es Bilu nur darum geht, sie dazu zu bringen, ihn etwas Verbotenes tun zu lassen, tut er ihr leid. Das ist nicht fair. Er weiß es nicht besser, sagt sie sich. Sie hat diese Entschuldigungen auch von ihrer Mutter gehört. Jini überlegt, was ihre Mutter jetzt tun würde. Sie drückt Bilu an sich und singt in seine Haare. Bilus Schluchzen ebbt ab und bald ist nur noch ein leises Schniefen zu hören.
»Okay? Jetzt gehst du nach Hause. Ich gehe nur schnell in den Laden«, erklärt sie ihm. Er rappelt sich auf und stürzt zurück ins Haus, als wäre nichts gewesen.
Bilu kann nicht in die Schule gehen, deshalb ist jeder Tag für ihn so dröge wie Sommerferien. Die Schule ist zu schwierig für ihn. Er kann keinen Bleistift halten oder seinen eigenen Namen schreiben, er kann nicht sehr schnell gehen, und wenn er versucht zu rennen, stolpert er. Er kann keinen ganzen Tag von den Menschen wegbleiben, die er kennt. Jinis Vater bestand darauf, ihn in die Schule zu schicken, aber Bilu kreischte und klammerte sich an die Beine seines Pults und verkroch sich in Ecken, wenn die Lehrer ihn bestrafen wollten. In seiner zweiten Woche war er stundenlang verschwunden und wurde schließlich schlafend in einer seichten Gosse gefunden, seine Schuluniform vollgesogen mit dem schmutzigen Wasser. Etwas stimmt nicht mit ihm, aber sie haben nicht die Mittel herauszufinden, was das ist, nicht, solange Jinis Vater alle zwei Wochen verschwindet und sie ohne Geld oder Essen zurücklässt. Jinis Mutter ist ständig am Beten, weil es das Beste ist, was sie tun können.
Laden-Onkel steht hinter der Theke und ist in ein chinesisches Buch vertieft. Er ist ein Mann mittleren Alters mit einigen silbrigen Strähnen und einer Tätowierung mit chinesischen Buchstaben auf dem Arm. Heute sieht er aus, als hätte er gute Laune. Er fährt jedes Schriftzeichen in seinem Buch mit dem Finger nach. Einmal kichert er.
»Onkel«, sagt Jini. »Ich brauche sechs Eier. Ich habe aber nur Geld für drei. Jetzt haben, später bezahlen? Bitte?«
Sein Lächeln verschwindet. »Inder sind alle Betrüger! Wollen mich immer betrügen!«, ruft er. Sie wartet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt. »Du hast Geld für drei, du kaufst nur drei.«
»Fünf. Mein Vater kommt morgen zurück, dann bezahle ich. Okay?«
Laden-Onkel schüttelt den Kopf, legt aber ein Extra-Ei in die Tasche. Vier Eier sind auch okay – eins für jedes Familienmitglied, ohne den Vater.
»Warum so trauriges Gesicht? Ich dir schon eins umsonst gegeben«, sagt Laden-Onkel.
»Danke, Onkel.« Jini zwingt sich zu einem Lächeln.
»Mädchen, ich sag dir Geheimnis. Ich immer glücklich«, sagt er. »Nie traurig. Traurig nicht gut. Taugt nichts. Musst immer glücklich sein. Verstanden?«
Jini nickt. »Glücklich«, krächzt sie. Laden-Onkel grinst.
»Glücklich! Musst immer glücklich sein«, sagt er noch einmal und lässt sich nach hinten in seinen Stuhl sinken. Sonnenschein strömt durch die Ladenfenster und erleuchtet die Regale.
Auf dem kurzen Heimweg versucht Jini sich die Worte des Mannes einzuprägen, aber als sie sich ihrem Haus nähert, wird seine Stimme leiser und löst sich schließlich in der erstickenden Nachmittagshitze auf. Sie möchte Laden-Onkels Rat befolgen, aber nachdem ihr Vater sie mit kaum genug Geld zum Leben zurückgelassen hat, mit Bilus Problemen und ihrer Mutter, die sich jeden Abend in den Schlaf weint, weiß sie nicht mehr, wie es geht, glücklich zu sein.
• • •
An Wochentagen ist das Haus von Lärm erfüllt, weil Jini aus voller Kehle singt, ihre Mutter in der Küche Gewürze mörsert, Bilu seine wechselnden Stimmungen zum Ausdruck bringt – Kreischen und Weinen, Freudenschreie und jammervolle Schluchzer. Die Nachbarn tragen dazu bei, ohne sich dessen bewusst zu sein. Jasbir Kaur von nebenan nennt ihre Schwester ein hässliches Pickelgesicht. Die Jeynathans einige Türen weiter haben ihr Radio laut aufgedreht und hören tamilische Lieder. Die Witwe mit den vier erwachsenen Söhnen klagt, wie sehr ihr ihr verstorbener Mann fehlt. Es gibt einige Punjabi-Haushalte in der Gegend, und die Kinder treffen sich manchmal, um dann im Pulk die Straße hinunterzulaufen und ihre Kumpels zum Fußball zu rufen.
Die Wochenenden sind ein bisschen anders, weil sie sich nicht anfühlen wie Schulferien. Samstags kommt Sarjit von der Armee nach Hause und Mutter sieht weniger schwermütig aus, glücklicher. Er ist 19 und leistet gerade seinen Wehrdienst ab. Er wohnt in der Kaserne, weil er es zu mühsam findet, jeden Tag hin- und herzufahren. Die Armee hat ihm einen Schreibtischposten gegeben, weil er gut mit Zahlen umgehen kann. Mutter nennt ihn ihren Soldaten; sie beginnt sofort zu strahlen, wenn sie draußen das Quietschen des Tores hört und das Geräusch seiner Stiefel, die durch das weiche Gras stampfen.
»Sohn!«, ruft sie und wirft ihm die Arme um den Hals. Seit ihr Vater gegangen ist, weint sie jedes Mal, wenn sie Sarjit sieht. »Wir haben dich vermisst«, säuselt sie und hilft ihm, die Schnürsenkel an seinen Stiefeln zu lockern. »Jini, da steht Tee auf dem Herd. Hol deinem Bruder welchen«, sagt sie. Jini rennt in die Küche, um den Tee zu holen. Wieder kann sie unterdrücktes Schluchzen aus dem Wohnzimmer hören. Die Rattanmöbel quietschen und stöhnen, als Sarjit sich erschöpft hinsetzt. Jede Woche sagt er dasselbe: »Ich bin müde.«
»Wie geht’s in der Schule?«, fragt er Jini, als sie ihm den Tee bringt.
»Wir haben Ferien, du Dussel«, sagt sie. Er schnappt sich einen ihrer Zöpfe und sie reißt sich lachend los.
»Du bist hier der Dussel. Wo steckt Mr Bilu?«
»Irgendwo im Haus«, sagt Jini.
»Folgt er dir nicht mehr durch’s ganze Haus?«
»Nein. Aber pass auf. Wenn er wieder anfängt, werden wir ihn nie mehr dazu bringen, damit aufzuhören.«
»Sprecht Punjabi«, gebietet die Mutter. Sie mag es nicht, wenn im Haus Englisch gesprochen wird. »Wie soll ich wissen, was ihr sagt, wenn ihr eine Sprache sprecht, die ich nicht verstehe?«
Sarjit reibt sich mit dem Handrücken die Augen. »Ich such jetzt Bilu und dann mach ich ein Nickerchen«, erklärt er seiner Mutter.
»In Ordnung, mein Sohn«, sagt sie. »Jini, geh nicht weg. Ich brauche deine Hilfe beim Kochen.«
Samstags darf Jini in der Küche helfen. Ihre Mutter beschwert sich oft, weil Mädchen normalerweise schon viel früher damit anfangen. »Sieh dir Jasbir und ihre Schwester an. Die können mit geschlossenen Augen Saag zubereiten, und sie sind zwei Jahre jünger als du. Warum ist das so schwer für dich?«, sagt sie immer. »Ich habe schon mit sieben angefangen zu kochen.«
Aber Jini kann nichts dafür. Wenn sie bisher versucht hat, in der Küche zu helfen, hat sie alles nur behindert oder die Zutaten verwechselt. Sie hat sich ungeschickt angestellt und zu viele Fragen gestellt. »Was ist das hier? Auf welchem Baum wächst das? Ist das scharf?« Sie verliert die Lust, wenn ihre Mutter anfängt, sie zu ignorieren, und das, was sie zu Hause essen, findet sie sowieso langweilig. Dhal, Roti, Dhal, Roti. Manchmal Saag, wenn sie genug Geld für Spinat haben. Ein seltenes Mal ein Curry mit Hähnchen und Kartoffeln, wenn der Vater Geld nach Hause geschickt hat. Jini würde lieber essen wie andere Singapurer – Nasi Lemak wie die Malaiien, Kway Teow wie die Chinesen, Dosai wie die Leute aus Südindien. Sie hat die Briten gesehen mit ihren schnurgeraden, braunen Schnurrbärten und ihrem Akzent, der die Kanten der Wörter schärft. Sie beneidet sie am meisten um ihre dicken Steaks und die deftigen Kartoffeln.
Als ich so alt war wie du, wusste ich schon alles, sagt ihre Mutter immer. Was gibt es denn noch zu wissen?, überlegt Jini und schaut aus dem Fenster auf die Ansammlung von Blechdächern und das gelb werdende Gras. Sie kommt in der Schule mit, weiß, wer ihre Freundinnen sind, und mit welchem Bus sie über die ganze Insel fahren kann, zu Straßen mit proppenvollen Shophouses mit geschnitzten, hölzernen Rollos, ins Herz der Stadt, wo noch mehr glänzende Gebäude langsam emporwachsen wie Bäume, zu Ecken der Insel, wo Sand und Schlick ins Meer ragen, so dass man sich vorkommt wie am Ende der Welt.
Ihre Mutter holt unter dem Küchenschrank eine Mehltüte hervor und kippt den Inhalt in eine Stahlschüssel. »Untersuch es auf Insekten«, weist sie Jini an. »Letzte Woche habe ich im Atta eine kleine Spinne gefunden.«
Jini wäscht sich die Hände, trocknet sie ab, dann fängt sie an, das Mehl auszusieben, auf der Suche nach irgendetwas Verdächtigem. »Nichts«, sagt sie, als sie fertig ist. Ihre Mutter reicht ihr wortlos die Schüssel mit den grünen Linsen. Jini sieht die kleinen Perlen nach Steinchen durch. Letzte Woche hat Bilu sich so schrecklich aufgeregt, als er auf einen Stein gebissen hat, dass er sich nach dem Essen übergeben musste. Ihre Mutter hat einen Moment lang wütend ausgesehen, aber dann ist ein Ausdruck über ihr Gesicht gehuscht, den Jini nicht vergessen kann. Ihre Mutter sah für einen Moment verwirrt und erschrocken aus. Sie hat Bilu angesehen, als ob sie nicht wüsste, wie er in dieses Haus, an diesen Esstisch geraten war.
Jini fischt zwei Steinchen heraus und wirft sie ins Spülbecken. »Fertig«, sagt sie. Auf dem Herd brodelt ein Topf mit kochendem Wasser. Ihre Mutter schüttet die Linsen hinein und nimmt ein paar Dosen mit Pulver aus dem Schrank – gelbem, ziegelrotem, anderem, das aussieht wie feiner Sand.
»Ich muss dir beibringen, wie man Roti macht«, sagt Jinis Mutter. »Was willst du sonst kochen, wenn du selbst einen Mann und Kinder hast?«
Chili-Krabben. Tofu mit Erdnusssauce. Chinesisches Gemüse mit dicken Stängeln und saftigen Blättern. Hainanischen Hähnchenreis mit süßer Sojasoße und Ingwer-Chili. Nudeln – dicke wie dünne – mit Fischklößchen und Schweinebällchen. Brennendscharfe südindische Currys, dazu klebriges Brot und Tee mit viel Milch. Durians, Longangs, Rambutans zum Nachtisch. Chendol. Eis Kacang. Jini fallen eine Million Dinge ein, die sie kochen würde, wenn sie ihre eigene Küche hätte. Sie wird sich in der Schule anstrengen, eine gute Stelle finden und Massen von Geld verdienen. Ihr wird es nie an Zutaten mangeln.
Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, sagt Jinis Mutter: »Wir können uns diese Woche nicht mal ein bisschen Hähnchen leisten. Ich wollte für deinen Bruder Curry kochen. Der Arme muss bei der Armee doch jeden Tag dasselbe essen. Da kriegen sie immer nur Bohnen und Brot, Bohnen und Brot jeden Tag. Das ist doch keine Mahlzeit. Nach einer Weile wird es langweilig, oder?« Jini ist nicht so dumm, zu antworten. Zuzugeben, dass ja, es langweilig wird, würde ihre Mutter nur noch trauriger machen, wenn ihr aufgeht, dass es dasselbe ist, was sie jeden Tag essen. Bohnen und Brot – nur eben die Punjabi-Version.
»Okay, zuerst müssen wir den Teig machen. Tröpfel ein bisschen Wasser auf das Mehl. Los, mach schon. Nur ein bisschen. Und jetzt knete das Mehl, bis es klebt. Siehst du, wie es klumpt? Jetzt so weiterkneten und Mehl aufnehmen. Du musst versuchen, aus diesem ganzen Mehl einen großen Teigball zu machen. Ja nicht das Geringste vergeuden.« Die Instruktionen ihrer Mutter sind weniger barsch, wenn es um Roti geht. Sie säuselt dem Mehl etwas vor, weil sie meint, dass es wichtig ist, beim Kochen Zuwendung zu zeigen. »Wenn es dir egal ist, kann man das beim Essen schmecken. Wenn du wütend bist oder dich über etwas ärgerst, sickert deine Verbitterung in das Essen wie Gift. Die Essenden bekommen sie in den Mund und werden dann selbst wütend oder verärgert.«
Jini gibt mehr Wasser dazu. Ihre Mutter warnt sie, den Teig nicht zu klebrig werden zu lassen, sonst müssten sie noch mehr Mehl dazugeben, um das Wasser aufzusaugen. »Als ich das in Indien zum ersten Mal für deinen Vater gemacht habe, war ich so nervös, dass ich viel zu viel Wasser in die Schüssel gegossen habe. Meine Hände zitterten. Dann habe ich mehr Mehl dazugegeben, um es weniger klebrig zu machen. Dann habe ich noch mehr Wasser dazugegossen, noch mehr Mehl, noch mehr Wasser … Am Ende war der Teigball riesig! Ich hatte Angst, was dein Vater sagen würde. Zum Glück hat er sich gefreut. Er dachte, ich hätte ihm absichtlich so viel zu essen gemacht.« Sie lacht, und es klingt wie das erste Mal, klimpernd wie Hochzeitsarmreifen. Jini kann darüber nicht lachen. Das Bild ihres Vaters taucht vor ihrem inneren Auge auf, gierig und voller Erwartung, und bringt einen so hellen Zornesblitz mit sich, dass sie für einen Moment geblendet ist.
»Und jetzt den Teig kneten. Das ist wichtig. Du musst ihn geschmeidig machen.« Jinis Mutter bohrt ihre Fingerknöchel in den Teig und drückt ihn ein. Dann presst sie ihn immer wieder mit der Handkante zu einem Fladen, um ihn wieder einzurollen. Jini sieht, wie rau die Hände ihrer Mutter sind und wie jung sie eigentlich ist. Sie muss wieder an die britischen Leute denken. Beim Armeestützpunkt in der Nähe der Schule hat sie Hausfrauen gesehen mit Baumwollröcken und hauchdünnen Blusen. Sie haben glatte, blasse Haut und helle Augen, die in der tropischen Sonne funkeln wie Edelsteine. Wenn sie gehen, scheinen sie zu tanzen, und sie kann sich nur vorstellen, wie sie aussehen, wenn sie kochen. Immer glücklich, mit eleganten Fingerbewegungen, und danach verwöhnen sie ihre rau gewordene Haut mit duftenden Salben.
Jini hat in letzter Zeit eine leichte Veränderung an ihrer eigenen Haut bemerkt, aber sie glaubt, dass es mit der Hitze zu tun hat. An heißen Tagen erscheinen auf ihren Armen und Beinen kleine Pusteln und verschwinden wieder nachts, wenn die Luft kühler ist. Sarjit hat einmal einen leichten Ausschlag an ihrem Ellbogen bemerkt und die Nase gerümpft. »Iiiih. Dreckig. Da hat wohl heute jemand nicht gebadet«, hat er zu ihr gesagt. »Einer von meinen Kameraden bei der Armee badet nie und hat am ganzen Körper dunkle Flecken.« Sie ist erschrocken und hat an dem Abend länger geduscht als sonst, bis ihre Mutter an die Tür hämmerte und sagte, sie solle nicht so viel Wasser verschwenden.
Sie und ihre Mutter wechseln sich beim Teigkneten ab. Sie geben ein bisschen Ghee hinein, um den Teig geschmeidiger zu machen, so dass ihre Fingerknöchel einfach hinübergleiten können und nichts an ihrer Haut kleben bleibt. Dann hören sie einen Schrei. Zuerst hört es sich an, als käme er aus dem Nachbarhaus, und sie schauen nur auf, um dann weiterzumachen mit dem, was sie tun. Ihre Mutter sagt immer, es sei nicht nett, zu genau darauf zu lauschen, was die Nachbarn sagen oder tun, weil sie das dann auch bei einem selbst täten. Aber dann hören sie es wieder, ein gequältes Geräusch, und Jini begreift, dass es aus dem Wohnzimmer kommt, von Bilu.
Sie und ihre Mutter stürzen hinüber und finden ihn auf dem Boden liegend, zuckend und sich windend. Sein Gesicht sieht schmerzverzerrt aus und der Mund steht offen, aber ohne einen Laut zu machen. Doch als die Mutter auf ihn zukommt, stößt er einen Schrei aus und krabbelt eilig zur Wand. Ihre Mutter setzt sich auf den Boden.
»Was ist jetzt schon wieder los?« Sarjit steht über Bilu und starrt einfach nur auf ihn hinunter.
»Was hast du getan?«, fragt sie ihn zornig.
»Nichts«, sagt er. »Ich habe ihn gesucht. Dann habe ich versucht, ihn zu umarmen, und er hat mich Papa genannt. Also habe ich gesagt, nein, nicht Papa, ich bin Pra-ji, dein großer Bruder. Er sagte immer weiter Papa, Papa, also bin ich hinausgegangen. Und das Nächste, was ich von ihm gehört habe, war, dass er … so war.«
»Idiot!«, schreit die Mutter. »Sag ihm niemals, dass Papa nicht hier ist!«
»Hab ich nicht. Ich hab nur gesagt, dass ich nicht Papa bin.«
»Du musst noch mehr gesagt haben«, meint sie. Dann wendet sie sich Bilu zu, der unter die Möbel kriecht und Daumen lutscht. Jini fühlt sich ganz krank, während sie die Szene beobachtet. Sarjit hebt die Hände und verlässt das Zimmer. »Ich habe sonst gar nichts gesagt«, murmelt er und wechselt einen Blick mit Jini.
Sie wissen beide, wie ihre Mutter ist, wenn es darum geht, ihren kleinen Bruder zu beschützen. Er kommt immer an erster Stelle, weil er mehr Zuwendung braucht als die beiden anderen. Sie werden sich eines Tages um ihn kümmern müssen, wenn die Mutter selbst alt und dann tot ist, erinnert sie sie oft. Wenn nicht seine eigene Familie, wessen dann? Deshalb treibt sie Jini dazu an, sich in der Schule anzustrengen, und Sarjit gegenüber deutet sie neuerdings Heiratspläne an. »Nach der Armee, wenn du Geld verdienst, such dir ein nettes Mädchen, eine, die bereit ist, sich um Bilu zu kümmern, falls mir etwas passiert.« Sie setzt große Hoffnungen in diese Idee, obwohl die Leute im Tempel ihr geraten haben, Bilus Zustand nicht mehr zu erwähnen und ihn zu Hause zu lassen. »Welches Mädchen sollte schon so viel Verständnis haben?«, fragen sie vorsichtig.
Bilus Gesicht ist geschwollen – Augen, Nase und Lippen allesamt rot und aufgedunsen, so dass er aussieht wie eine Karikatur seiner selbst. Seine langen Haare haben sich aus dem Knoten auf seinem Kopf gelöst. Jini hat ihrer Mutter schon oft vorschlagen wollen, die Haare einfach abzuschneiden. Die Leute würden sicherlich reden, aber wenn sie wüssten, wie schwierig es ist, Bilu zum Stillhalten zu bewegen und im Griff zu behalten, würden sie es verstehen. Doch Jini scheut sich davor, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, weil sie weiß, dass die meinen wird, dass es Jini um die Erlaubnis geht, sich ihre eigenen langen Zöpfe abzuschneiden. Jini würde Gott niemals eine solche Beleidigung zufügen. Aber manchmal schleicht sich der Gedanke in ihren Kopf, und sie stellt sich vor, wie sie mit einem kurzen Bob aussehen würde, der sich unter ihren Ohren lockt. Es macht ihr Angst. Sie wäre ein total anderer Mensch.
Während sie zusieht, wie ihre Mutter Bilu gut zuredet, damit er aufsteht, verwandelt sich das Mitleid, das sie empfindet, blitzschnell in Wut. Wenn ihr Vater nicht weg wäre, wäre Bilu nicht so. Er würde nicht so laut kreischen, dass sie selbst, wenn er verstummt ist, noch ein Pfeifen in den Ohren hört. Ihre Mutter würde nicht auf dem Boden sitzen, darum kämpfend, ihre Stimme geduldig klingen zu lassen, während sie auf ihn einredet. Jini ist jetzt außer sich, der Zorn brodelt in ihrer Brust, um sich dann weiter unten in ihrem Magen niederzulassen. Sie denkt an das erste Bild, das ihr durch den Kopf ging, als Sarjit sie beiseite nahm und ihr leise mitteilte, dass ihr Vater wieder verschwunden war. Sie machte sich Sorgen; sie stellte ihn sich irgendwo nachts in einer einsamen Gasse vor, nachdem er ausgeraubt oder angefahren worden war und nicht wusste, wo er war. Sie hat sich sogar vorgestellt, dass er durch irgendein Versehen im Gefängnis gelandet war. Nun strömen all diese Bilder wieder auf sie ein, aber statt das Schlimmste zu fürchten, kostet sie sie aus. Inzwischen ist fast ein Monat vergangen, und alles, was sie wissen, ist, dass er nach Indien zurückgekehrt ist. Er schickt hin und wieder Geld, aber es reicht nie. Sie ist sicher, dass er nicht zurückkommen wird. Es verschafft ihr einen gewissen Trost sich vorzustellen, dass er verletzt ist. Es dämpft den Schmerz, den Bilus untröstliche Schluchzer ihr zufügen.
»Das Essen!«, ruft ihre Mutter plötzlich und reißt sie aus ihren Gedanken. Sie stürzt zurück in die Küche und dreht den Herd aus. Das Dhal ist sicher inzwischen angebrannt und klebt am Topf – das Gas muss genau im richtigen Moment ausgedreht werden, sonst werden die Linsen schwammig und schmecken nach nichts. Sie kann ihre Mutter in der Küche fluchen hören.
Bilu schluchzt noch immer. Jini hockt sich auf den Boden und schließt die Augen. Dann fängt sie an, für ihn zu singen, wie gestern Nachmittag, als sie ihn dabei erwischt hat, dass er ihr folgte. Zuerst summt sie nur und merkt, wie seine kurzen, zittrigen Atemzüge länger werden. »You are my sunshine, my only sunshine …«, singt sie leise. Der Text verzaubert Bilu. Sie ist überrascht, als er nach draußen auf die Abendsonne deutet, die hinter Dächern und Zäunen versinkt. »Sa-shine«, sagt er. »Sa-shine.« Er kriecht zu Jini und sie hält ihn in den Armen, bis sie ihre Mutter rufen hört, sie solle in die Küche kommen und ihr helfen, das Essen fertigzumachen.
• • •
Als ihr Vater zum ersten Mal weggegangen ist, war es nur für ein paar Stunden, aber es reichte, um Jinis Mutter in Panik zu versetzen. In ihrem Blick lag Angst, während sie im Haus auf- und ablief und die Uhr an der Wohnzimmerwand nicht aus den Augen ließ. Ehe er aus dem Haus gestürzt war, hatte er ihr gesagt, sie solle beim Abendessen nicht mit ihm rechnen. Er hatte gesagt, er wolle sich noch eine Arbeit suchen, um die Familie durchzubringen, und als die Mutter nachgefragt hatte, war er wütend geworden. »Und was, wenn ich nach einem langen Arbeitstag noch einen trinken gehe? Was ist daran auszusetzen?« – »Alles ist daran auszusetzen«, hatte die Mutter zurückgegeben. »Sikhs trinken und rauchen nicht. Es ist schändlich!« Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt und das Haus verlassen. Jini war gleich klar gewesen, dass es der Beginn einer längeren Abwesenheit war, denn seinem Abgang hatte an diesem Abend etwas Endgültiges angehaftet, so wie er ihrem und Bilus Blick ausgewichen war.
Jinis Vater kam am nächsten Morgen nach Hause, aber in der folgenden Woche ging er wieder und blieb drei Tage weg. Er kam mit einem Geschenk für Bilu zurück, einem Holz-Auto. Jini bekam nichts. »Du bist zu groß für Geschenke«, hatte ihr Vater erklärt. Sie war elf, fühlte sich aber plötzlich viel älter. Sie roch etwas Scharfes in seinem Atem; Sarjit sagte ihr später, das sei Whiskey gewesen. Ihr war davon schlecht geworden, und später am Abend hatte sie sich zum Essen zwingen müssen.
Endgültig ging Jinis Vater zwei Tage nach ihrem Geburtstag im Mai. Er hatte inzwischen schon länger ausgedehnte Reisen nach irgendwohin unternommen – sie wusste nicht, wohin –, und ihre Mutter vermutete, er war auf der Flucht vor Geldeintreibern. »Bestimmt spielt er und leiht sich Geld für Alkohol und Opium«, hatte Jini sie zu Sarjit sagen hören, als er übers Wochenende nach Hause gekommen war. »Er bildet sich ein, er könnte einfach weglaufen, und niemand wird ihn finden.«
Sie wusste, dass ihr Vater in Indien Land besaß, auch wenn sie nicht sicher war, was das bedeutete, aber es klang jedenfalls nach einer hoffnungsvollen Perspektive. Er könnte es verkaufen und zurückkommen. Er fehlte ihr nicht besonders, weil er ohnehin nur selten mit ihr sprach. Sie hatten nicht viel gemeinsam. Er hatte mit Sarjit immer über Politik und die Regierung geredet, darüber, wie sich Singapurs Topographie in Zukunft verändern würde. »Es kommen immer mehr Menschen her. Bald wird dieses Stück Land wertvoll sein. Sie wollen überall Hochhäuser bauen. Das ist effizienter.« Er sprach über das neue Singapur wie über ein verzaubertes Königreich. Jini dachte an die Hotels und Banken, die in der Stadt aus dem Boden schossen. An klaren Tagen konnte man das vage Skelett der beginnenden Skyline erkennen. Vielleicht würde sie eines Tages in den Wolken wohnen.
Alle in der Nachbarschaft wussten Bescheid über die Opiumhöhlen, weil sie Freunde hatten, die ihren Vater dort gesehen hatten. Jini konnte sehen, dass sie Bescheid wussten, weil sie immer verlegen die Augen niederschlugen, wenn sie die Familie ohne ihren Vater im Tempel sahen. Sie fragten nicht nach ihm. Niemand wollte etwas sagen. Der, der es ihnen endlich erzählte, war Pra-ji.
Pra-ji ist ein Weiser, der mit Gott spricht und Seine Botschaft dann denen übermittelt, die Seine Hilfe suchen; er ist von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet und hat einen langen, graumelierten Bart. Seine Augen sind klein, aber wenn er spricht, sprühen sie vor Leben. Im Tempel gibt er mit seiner tiefen Stimme beim Singen den Ton an, und die Männer und Frauen stimmen ein.
Nach dem Gottesdienst spricht er im Hof mit einzelnen Familien. Sie strömen mit ihren Fragen um ihn zusammen. Meine Tochter ist krank – wird sie wieder gesund? Ich habe Rückenschmerzen, die nicht verschwinden – würden Sie Gott fragen, warum Er mir das antut? Wird meine Mutter es schaffen, aus Indien herzukommen? Wer hat meine Ladenfenster eingeschlagen? Was soll ich tun, wenn mein Sohn mir nicht gehorcht? Er befasst sich ruhig mit all diesen Fragen, gibt verständige Antworten. Die Menge zerstreut sich erst, wenn alle hungrig werden und jemand verkündet, dass jetzt Langar serviert wird. Dann können ihre Fragen warten.
Jinis Mutter hat eine Frage für Pra-ji, und als die Menge in den Tempel zurückströmt, bleibt sie draußen, weist jedoch Sarjit an, Jini und Bilu hineinzubringen.
»Sie wird ihn bitten, eine Frau für dich zu finden«, sagt Jini, als sie sich bei der Essensausgabe anstellen. In ihren Augen tanzen boshafte Funken. Sarjit streckt die Hand aus, um sie in den Arm zu kneifen, aber sie weicht aus und tritt dichter an Bilu heran, der an seinem Daumen lutscht. Sie sieht, wie Sarjit rot wird.
»Ich will keine Frau«, murmelt er. Er hat ihr einmal erzählt, dass er Physik studieren möchte, aber die Vorstellung, sie könnten das Geld für die Studiengebühren auftreiben, ist lächerlich. Er verdient ganz gut bei der Armee; wenn er da aufhört, was soll aus der Familie werden? Ihre Mutter würde ihm das niemals verzeihen.
Sie bekommen ihr Essen auf Stahltellern, denselben, die sie auch zu Hause haben. Die Männer und Frauen, die sie bedienen, sind demütig, mit bedeckten Köpfen und niedergeschlagenen Augen. Mutter hat Jini eingeschärft, daran zu denken, wie groß Gott ist, wenn sie ihr Roti und Dhal und Joghurt bekommt. »Unsere ist die einzige Religion, bei der sogar der Ärmste niemals verhungern wird«, sagt sie immer voller Stolz. »So lange du in den Tempel gehst und betest und an Gott glaubst, wirst du im Gegenzug Langar erhalten.« Hinter den Männern und Frauen wabern Dampfwolken aus Tontöpfen, und aus riesigen Kerosinbrennern züngeln Flammen hungrig in die Höhe. Jini nickt zum Dank und geht, um sich auf die Frauenseite der Halle zu setzen. Sie hält einen Platz auf dem Boden für ihre Mutter frei, die sich nicht blicken lässt. Jini wird von einer plötzlichen Angst erfasst. Was soll sie tun, wenn auch ihre Mutter sie verlässt?
Sie schaut hinüber zu Sarjit und Bilu. Sarjit versucht, Bilu dazu zu bringen, beim Essen stillzuhalten. Er gibt sich alle Mühe, Bilu nicht zu sehr zu bedrängen – alles kann ihn aus der Fassung bringen, und sie wollen sich die Peinlichkeit ersparen, dass die gesamte Punjabi-Gemeinde Zeuge von Bilu in voller Aktion wird. Bilu windet sich, und am Ende landet das meiste von seinem Essen auf dem Boden. Sarjit macht ein verzweifeltes Gesicht. Er versucht, Jinis Blick einzufangen, die mit den Schultern zuckt; im Geheimen gönnt sie es ihm, dass er ausnahmsweise mal mit Bilu zurechtkommen muss. Manchmal beneidet sie ihn dafür, dass er die ganze Woche über in der Kaserne bleiben kann, weit weg von der Familie.
Nach dem Essen bringen sie ihre Teller in die hintere Küche und waschen sich die Hände. Der Küchenboden ist nass und fettig unter Jinis Füßen. Die Spülbecken quellen über vor schmutzigem Geschirr und grauer Seifenlauge. Jini schrubbt sich die Hände und muss daran denken, was ihr Bruder über seinen Armeekameraden gesagt hat, der nie badet. An ihrem Daumen ist wieder so ein seltsamer kleiner Fleck, den sie noch nicht bemerkt hatte. Wenn sie kratzt, entzündet er sich und wird rot. Sie lässt Wasser darüber laufen, bis eine alte Frau hinter ihr sagt, sie solle sich beeilen. »Du sollst nicht so viel Wasser verbrauchen«, knurrt sie, worauf Jini hastig um Entschuldigung bittet und beiseite tritt.
Ihre Mutter steht noch immer auf dem Hof und redet mit Pra-ji, als Jini, Sarjit und Bilu nach draußen kommen. Sarjit versucht, Bilu ruhig zu halten, der herumhampelt und jammert und zum Himmel hochschielt.
»Sat sri akal, Pra-ji«, sagt Jini. Pra-ji erwidert ihren Gruß. »Du bist aber groß geworden, meine Liebe«, sagt er. Sie wird rot. Alle sagen, dass sie groß geworden ist, und sie weiß, dass sie meinen, dass sie wächst und erwachsener aussieht, aber manchmal kann sie nicht umhin sich zu fragen, ob die anderen auch bemerken, dass ihre Brust sich zu wölben beginnt. Einige ihrer Schulfreundinnen haben angedeutet, dass sie mit ihrem Körper als Mittelstufenschülerin durchgehen könnte. Sie wirft sich das Tuch über die Brust, damit Pra-ji sie nicht sehen kann, aber der hat sich jetzt Sarjit und Bilu zugewendet.
»Wie geht es in der Armee?«, fragt er Sarjit auf Englisch. Jinis Mutter bittet sie mit einem raschen Blick um eine Übersetzung, aber Jini schüttelt den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass es nichts Wichtiges ist.
»Gut«, sagt Sarjit. Neben Pra-jis massiger Gestalt sieht Jinis Bruder aus wie ein Knochengestell. Seine Knie und Ellbogen stehen unvorteilhaft hervor, und sein Gesicht ist noch kaum behaart.
»Sehr schön. Deine Mutter sagt mir, dass du vorhast, bald zu heiraten.« Jini prustet los. Ihre Mutter wirft ihr einen scharfen Blick zu.
Sarjit zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden. Seine Wangen färben sich rot.
»Ich kenne eine Familie in Ipoh, die ihre Tochter gerne hierher verheiraten würde. Eine gute Familie. Der Vater ist Polizist«, sagt Pra-ji zur Mutter. Sie nickt lebhaft und schenkt Sarjit nur einen kurzen Blick. Bilu lässt Sarjit stehen und fängt an, mit dem Schuhberg zu spielen, den die Leute auf dem Hof hinterlassen haben. Nachdem er seine Hände über die Sohlen gerieben hat, steckt er sie in den Mund.
»Lass das!«, ruft Jini. Sie klatscht in die Hände, um Bilus Aufmerksamkeit zu erregen. Er glotzt sie an, für einen Moment erstarrt, dann stopft er sich die ganze Faust in den Mund. Jini öffnet den Mund, um noch einmal zu rufen, aber sie reißt sich zusammen, als sie bemerkt, dass mehrere Leute auf dem Hof sich umgedreht haben um zu gaffen. Sie scheinen zu glauben, dass die Familie aus der Entfernung nicht bemerken wird, dass sie Bilu anstarren wie ein seltsames Tier.
Pra-ji senkt die Stimme und erklärt der Mutter: »Dieses Mädchen würde viel Verständnis haben für … die Probleme der Familie. Das kann ich Ihnen versichern.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«, fragt die Mutter besorgt.
Ein Lächeln huscht über Pra-jis Gesicht. »Sie hat nicht viele Bewerber. Sarjit wäre ihre beste Option.«
• • •
Als sie an diesem Abend zu Hause sind, weint Jinis Mutter. Sie weint jeden Sonntag, wenn Sarjit seine Sachen zusammenpackt, um am nächsten Morgen aufzubrechen. Jini sitzt bei ihm im Zimmer und sieht zu, wie er seine Kleidungsstücke zusammenfaltet.
»Kommst du nächstes Wochenende wieder? Dann kannst du deine neue Freundin kennenlernen«, zieht sie ihn auf. Er haut sie auf den Mund, und es tut so weh, dass ihr Tränen in die Augen treten.
»Hör auf!«, faucht er. »Das ist nicht lustig. Hörst du Ma nicht weinen?«
»Sie ist traurig, weil du weg gehst. Sie weint jede Woche.«
»Nicht nur deshalb.«
»Warum denn dann?«
»Ich glaube, Pra-ji hat ihr mehr über Pa erzählt und darüber, was er so getan hat. Ich glaube, er ist für immer nach Indien gegangen.«
»Für immer?«
»Ja. Das bedeutet, dass er nicht zurückkommt, verstehst du?«
»Das kann nicht sein.«
»Kann es doch. Als ihr beide eure Schuhe geholt und Bilu geholfen habt, hat er mich beiseite genommen und gesagt, ich würde wohl der Mann im Haus werden, weil Pa nicht zurückkommt«, sagt er düster.
»Woher weiß er das?«
Sarjit zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er weiß alles. Er sagt, er hat mit Guru-ji gesprochen, der ihm gesagt hat, er soll uns sagen, wir sollten nicht mit Pas Rückkehr rechnen. Jetzt muss ich heiraten, Jini. Ich kann mich da nicht mehr weigern.«
Jini spürt, wie wieder die Wut in ihr aufkocht, so dass sie ihr Herz in ihren Ohren pochen hört. Sie geht alle schlimmen Wörter durch, die sie kennt – englische Wörter mit vier Buchstaben, chinesische Flüche, die sie in der Schule gehört hat. Sie stellt sich vor, wie sie sie ihrem Vater an den Kopf wirft wie Messer, bis er zusammenbricht.
»Ich gehe morgen ganz früh los, wahrscheinlich, bevor du aufwachst. Pass auf dich auf«, erklärt er und streckt die Hand aus, um an einem ihrer Zöpfe zu ziehen. Dann lässt er sie wieder sinken. »Unternimm was wegen deiner Haut, ja? Das wird langsam ekelig.«
Sie schaut auf ihre Arme hinunter und sieht drei neue Pusteln, leuchtend rot und hart wie Pickel. »Ich bade!«, beteuert sie. »Zweimal jeden Tag. Neulich habe ich sogar Schimpfe bekommen, weil ich zu viel Wasser verbrauche.« Aber Sarjit schaut weiter skeptisch.
»Geh jetzt, damit ich fertig packen kann«, sagt er, dann zieht er an einem ihrer Zöpfe und macht dabei das Geräusch einer Klospülung nach. Sie kneift ihn in den Arm und verlässt das Zimmer, wobei sie an einer der Pusteln auf ihrer Haut herumkratzt.
Sie geht hinaus auf den Hinterhof, sitzt im Mondlicht da und überlegt. Im Dunkeln wirken die Häuser in der Nachbarschaft weniger geduckt. Helles Neonlicht fällt aus quadratischen Obergeschossfenstern und bringt helle Wände und Deckenventilatoren, verrostete Eisengitter und Wandkalender zum Vorschein. Sie schaut sich zu ihrem eigenen Haus um, um zu sehen, was andere sehen könnten, wenn sie hineinlugen. Ein Tor, das nie zubleiben will. Ein Mosaik aus Gras und Lehm und Staub. Eine Mutter, die in ihrem Zimmer unruhig auf- und abläuft, niemals schläft, immer grübelt. Einen launischen kleinen Jungen, der keinen Ausdruck findet für seinen Schmerz, außer er reißt den Mund auf und schreit ihn hinaus. Einen jungen Mann, der auf seinem Bett auf dem Rücken liegt, die Decke anstarrt und über Theorien und Gleichungen nachdenkt, die er niemals lösen wird.
Und wie würde sie für Vorüberkommende aussehen? Ein Mädchen, das im Mondlicht hockt und mit der Hand über ihren pickligen Arm fährt. Ein Mädchen mit langen Zöpfen, die ihr über den Rücken hängen. Ein Mädchen, das langsam erwachsen wird, aber die ganze Welt anhalten, die Häuser am Wachsen hindern, die Nacht daran hindern möchte, die Abendsonne zu verschlingen, einfach alles anhalten möchte, bis ihre Familie wieder normal ist.