»Es ist uns jetzt nicht erlaubt zu feiern«, sagte Ma mit ernster Stimme, während sie auf Zehenspitzen auf einem Hocker stand und sich streckte, um die Vorhänge vom Fenster zu nehmen. »Verstehst du? Also hör auf mich zu fragen, was wir dieses Jahr zu Deepavali machen. Es ist ja noch nicht mal unser Feiertag.« Ich versuchte zuzuhören, aber mein Herz machte viel zu viel Lärm, so wild hämmerte es mir in der Brust. Ma könnte genau jetzt runterfallen. Sie könnte vom Hocker rutschten und sich das Genick brechen, und Gott würde nur den Kopf schütteln und mich daran erinnern, dass alles meine Schuld war.
Ma war zu Hause, weil die Ärzte im Krankenhaus sie heimgeschickt hatten, um sich auszuruhen. Ich hatte gehört, wie Daddy sie gebeten hatte, ins Bett zu gehen, aber sie war wach geblieben, und in der Nähe des Telefons. Die Küche hatte sie nicht betreten. Am Nachmittag hatte sie angefangen, die Wohnung zu putzen, als würde sie Besuch erwarten. »Kommt irgendwer?«, fragte ich vorsichtig.
»Darf ich mein Zuhause nicht sauber halten?«, fauchte Ma. Ich versuchte ihr für den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen, aber das war gar nicht so einfach. Unsere Wohnung war klein, und es war Samstag. Ich war fertig mit den Hausaufgaben und allem, was ich hatte lernen müssen. Ma sprang vom Hocker und ließ die Vorhänge halb abgehängt, so dass sie schief vor den Fenstern baumelten. Sie ging nach draußen, um die Blumen zu gießen. Dann kam sie wieder herein und besprühte die Glasplatte auf dem Couchtisch mit Windex. Ihre Arme und Beine waren jetzt übersät mit wunden Stellen und da und dort waren kleine Blutkrusten zu sehen, wo sie zu stark gekratzt hatte.
Ich öffnete den Kühlschrank. Darin waren ein Plastikbehälter mit einem kleinen Stück Butter, ein Krug mit Wasser, eine Möhre und eine Aubergine im Gemüsefach und ein paar kleine Gläser mit gemörserten Gewürzen. In einem Fach entdeckte ich eine Packung Brot und prüfte es auf Schimmel; zu meiner Erleichterung fand ich keinen. Ich nahm die Butter heraus und schaltete den Toaster ein. Wir hatten im Naturkundeunterricht gelernt, dass Menschen tagelang nur mit Wasser überleben können, also waren Brot und Butter für mich mehr als genug, bis Daddy mit etwas zu essen vom Markt nach Hause kam. Ich hätte gern gewusst, wie Ma das machte. Wie schaffte sie es den ganzen Tag, ohne etwas zu essen? Sie wurde immer dünner. Mir war an diesem Tag zum ersten Mal aufgefallen, dass ihr Armreif ihr fast vom Handgelenk rutschte, wenn sie nur etwas schüttelte.
Dann hatte ich eine Idee. Ich öffnete den Schrank und nahm eine Packung Zucker heraus. Winzige schwarze Ameisen huschten davon, als ich das Gummiband entfernte, das um die Öffnung der Packung gewickelt war. Ich strich die Butter auf das Brot und streute Zucker darauf. Dann streute ich noch ein bisschen mehr. Ich wusste nicht genau, wie man den Herd einschaltete, aber ich hatte Ma Dutzende Male dabei zugesehen. Ich drückte den Knopf ein, drehte ihn um und hörte das schnelle Klicken, ehe die Flamme ploppend aufloderte.
»Pin! Was machst du da?«, rief Ma aus dem Wohnzimmer.
»Mittagessen«, antwortete ich. »Zuckerbrot.«
»Was machst du?«
»Zuckerbrot«, wiederholte ich. Ma war hier nicht die Einzige, die Rezepte erfinden konnte. Ich legte das Brot in die Pfanne, drückte es mit einer Gabel nach unten und sah zu, wie von den braunwerdenden Rändern Rauch aufstieg. Ma sagte nichts mehr. Sie machte weiter mit Putzen. »Möchtest du auch was?«, fragte ich. Es gab eine Pause, und wieder geriet ich in Panik; ich hatte Angst, Ma könnte vor Hunger in Ohnmacht gefallen sein. Ich wurde diese schrecklichen Gedanken einfach nicht los. Gott würde mich garantiert bald wieder bestrafen.
»Ja, lass mir eins übrig.« Mas Stimme brachte eine gewisse Erleichterung.
Ich briet drei Scheiben, dann war nur noch eine Scheibe in der Packung. Ich legte sie auf den Tisch, um Ma an die Lebensmittelknappheit in unserer Wohnung zu erinnern, und es funktionierte. »Ist das alles, was wir im Haus haben? Butter, Brot und Zucker?«, fragte sie mich. Ich nickte.
»Ich war mit deiner Großmutter beschäftigt«, sagte Ma wie zu ihrer Verteidigung.
Ich schob ihr den Teller mit dem Zuckerbrot hin, als Friedensangebot, ehe es Streit gab. »Probier mal«, sagte ich. Die Küche roch nach Geröstetem und Karamell. Ich hatte den Herd ausgedreht und die Pfanne eingeweicht, damit die verkrusteten Zuckerreste nicht daran kleben blieben.
»Wer hat dir das beigebracht?«, fragte Ma und musterte das Brot misstrauisch.
»Niemand. Ich bin von allein draufgekommen.«
Ma nahm einen Biss und kaute. Sie sah aus, als ob sie nachdächte oder sich auf etwas konzentrierte. »Lecker«, sagte sie schließlich.
Ich nahm mir auch eine Scheibe und biss hinein. Es war süß und knusprig. Ich nahm noch einen Bissen. Obwohl ich mich nicht traute, es laut zu sagen, schmeckte es besser als alles, was Ma jemals gekocht hatte, weil es meine Erfindung war. Ich hatte es alleine gemacht. Ich fühlte mich schlau und stolz, als ob ich ausnahmsweise einmal etwas richtig gemacht hätte, auch wenn es so eine Kleinigkeit war wie Zuckerbrot. Nachdem ich meine Scheibe gegessen hatte, bot ich Ma die letzte an. »Wir teilen«, sagte sie und riss das Brot in zwei Hälften. Nachdem sie fertig gegessen hatte, sagte sie: »Weißt du, mein jüngerer Bruder Bilu hätte das geliebt. Er hat alles Süße geliebt. Das ging so weit, dass wir ihn nur zum Essen bringen konnten, wenn wir ihm etwas mit Zucker darauf gaben.« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Ich hörte auf zu kauen und wartete darauf, dass sie weitersprach, aber dann wischte sie sich die Krümel von der Hand und stellte die Teller ins Spülbecken, ohne ein weiteres Wort.
• • •
Ich gab mir große Mühe, um mit Gott wieder ins Reine zu kommen. Ich hörte auf, mir die Haare abzuschneiden, und ich begann wieder gute Taten zu tun. Ich hoffte, dass Er zusah, wenn ich die Bücher in der Schulbibliothek ins richtige Regal stellte, statt sie einfach zwischen die Nachschlagewerke zu quetschen, wie die anderen Mädchen das machten. Ich wollte jetzt, dass Er mich nie aus den Augen ließ. Ich wollte, dass Er sah, wie ich den Lehrerinnen die Tür aufhielt, wie ich Abfall auflas, wie ich die Vögel unten mit meinen Brotrinden fütterte.
Aber Ihm reichte das nicht. Ma blieb zwei Tage lang ununterbrochen im Krankenhaus. Sie rief zu Hause an, um zu sagen, dass sie Nani-ji nicht alleine lassen könne. Ich fragte, ob ich sie besuchen dürfte, aber Ma sagte: »Nein, Pin. Hier sind so viele kranke Leute. Du würdest böse Träume davon bekommen.«
In der Schule fragte mich Farizah, warum ich in den Pausen neuerdings so still geworden sei, und als ich ihr erzählte, dass meine Großmutter krank war, weiteten sich ihre Augen.
»Ich werde meine Eltern bitten, für sie zu beten«, versicherte sie mir.
Ich wusste nicht, wie man betete, aber es war eine gute Idee. Vielleicht würde Gott damit aufhören, Seinen Zorn an Nani-ji auszulassen, wenn ich Ihn direkt in der Sprache anredete, die Er am besten verstand. Ich kannte einzelne Wörter und Ausdrücke, die ich bei den ganzen Abendgebeten aufgeschnappt hatte, die Nani-ji immer ausgeführt hatte, aber nichts davon ergab für mich einen richtigen Sinn. Ich hatte Angst, Gott noch mehr zu provozieren als ohnehin schon.
Dann ging ich eines Nachmittags nach der Schule in Mas Zimmer und nahm ein Sikh-Gebetbuch aus ihrer Kommodenschublade. Sie hatte drei davon, in ein Baumwolltuch gewickelt. Die älteste hatte einen zerfledderten Einband und Seiten, die mir entgegenkamen, sobald ich versuchte umzublättern. Ich schob sie wieder hinein und wählte eine neuere Ausgabe. Die Gebete waren alle in Punjabi-Schrift, die über und unter einem langen Strich verlief, der sich quer über die Seite zog. Einige Schriftzeichen sahen aus wie Teekessel, Schnecken, hockende Männer, ausladende Bäume. Im Tempel waren all diese Zeichen die Grundlage für den leisen Sprechgesang, das stetige Summen aus den Mündern der alten Damen. Ich fuhr mit dem Finger darüber und rechnete fast damit, dass sie unter meiner Berührung hervortreten und sich winden würden.
Hinten in dem neueren Buch gab es eine englische Übersetzung aller Gebete. Gott ist überall und in jedem. Er ist die Wahrheit – Unsterblich, Schöpfer, Ohne Furcht, Ohne Feindseligkeit, Ungeboren und Selbsterschaffen. Ich verstand das nicht so richtig, aber ich las weiter. Ich sah Gott in Seinem Porträt an und versuchte, Ihm vorzulesen. Er wirkte desinteressiert. Ich las weiter, und je mehr Seiten ich umblätterte, desto seltener sah ich Gott an. Nach einer Weile fiel mir auf, dass die Sikh-Gebete große Ähnlichkeit mit den christlichen Chorälen hatten, die wir in der Schule gelernt hatten. Die Götter waren anders und die Menschen waren anders, aber wir sagten dasselbe. Ich klappte das Buch zu und sah Gott an. Ich bemerkte, wie seine Augen von meinen zu einer Stelle über meinem Kopf wanderten. Ein Windhauch zog durch die Wohnung und kühlte mir den Hinterkopf ab – meinen bloßen Hinterkopf.
»Ich hab’s vergessen«, sagte ich und schlug mir die Handflächen über den Kopf. »Es tut mir so leid!« Ich rannte in Mas Zimmer, um mir eine Tuch zu holen. Nun würde ich wieder ganz von vorn anfangen müssen. Nani-ji sagte immer, es habe keinen Zweck zu beten, wenn man Gott nicht einmal den geringsten Respekt erweisen könne. Ich schloss daraus, dass Er sicher gesehen hatte, dass ich etwas sagte, mich aber nicht hören konnte, wenn mein Kopf nicht bedeckt und meine Füße nicht vor ihm verborgen waren.
Während ich in Mas Schrank nach einem Tuch suchte, hörte ich es an der Tür klingeln. Ich ging ins Wohnzimmer und schaute durch den Türspion. Das Gesicht von Fettes Tantchen zog sich in die Breite, so dass sie noch dicker aussah als sonst. »Was will die denn wohl?«, murmelte ich und vergaß für einen Moment meinen Vorsatz, bei Gott Punkte zu sammeln.
»Hallo Pin«, sagte Fettes Tantchen, als ich mit dem Ersatzschlüssel das Gitter aufmachte.
»Hallo«, sagte ich. Wir begrüßten einander mit der gleichen Seitwärtsumarmung wie sie und Ma. »Ma ist nicht hier.«
»Ich weiß. Ich bin nur gekommen, um ein paar Sachen für deine Großmutter zu holen.«
»Nani-ji hat alles mit ins Krankenhaus genommen«, sagte ich zu Fettes Tantchen. Sie drängte sich ungeduldig an mir vorbei und betrat mein Zimmer. Plötzlich wünschte ich mir verzweifelt Ma herbei. Ihr wäre es egal, wie eindrucksvoll Fettes Tantchen war oder wie viel älter als sie. Ma würde ihr was erzählen, wenn sie einfach so hier hereinplatzte.
Es stellte sich heraus, dass ich mich irrte und Nani-ji nicht alles ins Krankenhaus mitgenommen hatte. Fettes Tantchen steuerte geradewegs auf den Schrank zu und wusste genau, welches Regal sie zu durchstöbern hatte. »Was suchst du denn?«, fragte ich unschuldig, aber ich hatte so ein Gefühl, dass ich genau wusste, was Nani-ji sie gebeten hatte zu holen. Fettes Tantchen wühlte und murmelte vor sich hin, bis sie den kleinen Samtbeutel gefunden hatte. Es klimperte leise, als sie ihn aufmachte und jedes einzelne Schmuckstück darin begutachtete. »Alles da«, sagte sie selbstzufrieden. Ich hoffte, dass Gott zusah. Ich hoffte, dass Er meine Gedanken lesen und sehen konnte, wie schwer es mir fiel, den Schmuck nicht Fettes Tantchen aus den Wurstfingern zu zerren und dahin zurückzulegen, wo er hingehörte. Sie hatte kein Recht, auf diese Weise Sachen an sich zu reißen, egal, ob Nani-ji sie darum gebeten hatte oder nicht.
»Das ist der Schmuck meiner Mutter«, erklärte ich ihr. »Warum nimmst du ihn mit?«
»Zuerst war es der Schmuck deiner Großmutter«, erwiderte Fettes Tantchen. »Und sie findet nicht, dass deine Mutter es verdient hat, ihn zu behalten.« Damit drehte sie sich schwerfällig auf dem Absatz um und stampfte aus dem Zimmer. Ich folgte ihr.
»Und wer kriegt ihn dann?«, fragte ich.
Fettes Tantchen zuckte mit den Schultern. »Das hat ja wohl deine Nani zu entscheiden«, sagte sie. Sie machte ein ehrerbietiges Gesicht und verneigte sich vor Gott, wobei sie sich das Tuch über den Kopf zog. Als sie den Beutel mit dem Schmuck in ihre Handtasche steckte und sie zuschnappen ließ, spürte ich, wie mein guter Menschenverstand zurückkehrte, gleichzeitig rutschte mir das Herz in die Hose. Nani-ji hatte schon entschieden, wer den Schmuck bekommen sollte. Fettes Tantchen war nur gekommen, um ihn sich zu holen.
• • •
Zweimal in Folge gab es Zuckerbrot zum Abendessen. Daddy fragte mich, ob ich etwas vom Markt haben wolle, aber ich winkte ab. »Das schmeckt mir besser«, sagte ich. Ich machte ihm eine Scheibe.
»Sehr lecker«, sagte er. »Aber nicht gerade nahrhaft. Lass mich runtergehen und dir ein bisschen Zeige-Reis holen. Möchtest du Surimi? Ein bisschen scharfes Rendang?« Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihm nicht zur Last fallen, und auch sonst niemandem. Das gehörte zu meinem Plan, mit Gott ins Reine zu kommen, und wegen Fettes Tantchens Besuch musste ich jetzt noch härter daran arbeiten.
Ich hatte mir vorgenommen, Daddy nichts davon zu sagen, dass Fettes Tantchen hergekommen war und Mas Schmuck mitgenommen hatte, aber es rutschte mir raus. Daddy erzählte, dass er Fettes Tantchen im Krankenhaus gesehen und sie offenbar noch ein paar Kilo zugelegt habe, falls das überhaupt möglich sei. »Sie ist so breit wie ein Lastwagen, Pin«, sagte er baff. »Wir werden sie ab jetzt wohl Oberfettes Tantchen nennen müssen.«
Ich kicherte und erzählte ihm, dass sie fast unseren Fernseher umgerammt hätte, als sie das Wohnzimmer betreten hatte. Das stimmte nicht, aber es war eine lustige Vorstellung.
Daddy schnaubte und nahm einen großen Bissen von seinem Zuckerbrot. Die Zuckerkristalle rieselten ihm aus dem Mund und verteilten sich auf dem Tisch. Er drückte den Daumen auf jedes Einzelne und bugsierte sie sorgfältig zurück auf seinen Teller. Dann schaute er auf. »Moment mal – wann war Fettes Tantchen hier?«
Ich schluckte versehentlich einen großen Bissen meines unzerkauten Brotes runter und fing an zu würgen. Daddy beugte sich herüber und klopfte mir halbherzig auf den Rücken, aber seine Augen verlangten noch immer eine Antwort. »Wann?«, fragte er.
»Nur einmal.«
»Wann?«
»Dienstag. Am Nachmittag. Ich denke, sie wusste, dass Ma da nicht da sein würde.«
»Was wollte sie?«
»Sie ist in mein Zimmer gegangen und hat Mas Schmuck aus dem Schrank genommen«, sagte ich. »Nani-ji sagt, Ma steht es nicht zu, ihn zu behalten. Sie hat ihn nicht verdient.«
Daddy stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, das ist wirklich schlimm«, sagte er, als er endlich aufschaute. Das Neonlicht über uns summte, und kleine Flugameisen schwirrten um die Röhre. »Sie hat alles mitgenommen?«
Ich nickte schuldbewusst. Ich fühlte mich, als hätte ich Ma bestohlen, obwohl doch Fettes Tantchen die wahre Diebin war. Plötzlich war die vertraute Wut wieder da, die jedes Mal in mir aufgelodert war, wenn ich daran gedacht hatte, dass Nani-ji einen Platz in unserer Wohnung beanspruchte. Sie war im Krankenhaus, sie war krank und hing an Schläuchen und Maschinen, aber noch immer machte sie Probleme. Dann fiel mir ein, dass Gott mein Verhalten beobachtete, und ich holte tief Luft und riss mich zusammen. Ich nahm noch einen Biss von dem Zuckerbrot. Es erfüllte meinen Mund mit Süße und ließ mich Nani-ji für einen Moment vergessen. Als ich fertig war, briet ich noch zwei weitere Scheiben.
»Könntest du auf dem Heimweg noch Brot kaufen?«, fragte ich Daddy, als er zur Abendschicht aufbrach. Er schaute sich zweifelnd zu mir um. »Ich finde nach wie vor nicht, dass du zum Abendessen Zucker auf Toast essen solltest«, sagte er. Ich hörte, dass seine Stimme voller Traurigkeit war, und ich wusste, dass das nichts damit zu tun hatte, was ich aß. Er dachte noch immer an den Schmuck und wie wir das Ma erklären sollten. »Tu mir einen Gefallen und behalte es für dich, okay?«, sagte er. »Deine Ma kriegt Zustände, wenn sie herausfindet, dass deine Großmutter den Schmuck deiner Tante überlassen hat. Das ist ein sehr heikles Thema.«
»Warum hat sie das getan?«, fragte ich und hoffte, dass Daddy sich hinsetzen, die Schuhe ausziehen und mir den Rest von Mas Geschichte erzählen würde. Es gab noch immer so viel, das ich nicht wusste, und Ma war nur gewillt zu erzählen, wenn sie in der richtigen Stimmung war. Ich wusste, dass ich Geduld haben sollte, aber ich machte in Bezug auf Gott so viele Fehler, dass es vielleicht besser wäre, es jetzt gleich herauszufinden. Aber Daddy war kein Wort zu entlocken. Er bedachte mich mit einem entschuldigenden Blick, dann verließ er die Wohnung ohne ein Abschiedswort. Und ich war allein mit Gott an der Wand und dem Geruch nach angebranntem Karamell, der aus der Küche herüberwehte und den Raum zwischen uns füllte.
Am nächsten Tag lautete die Anweisung, nicht in die Schule zu gehen. Ich hätte fast einen Freudensprung gemacht, weil Freitag war, und freitags hatten wir eine Doppelstunde Kunst und eine verkürzte Pause. Dann fiel mir ein, dass wir doch nicht feiern durften. Daddy erklärte mir, dass er mich zu Hause brauche, um ans Telefon zu gehen, weil sicher viele Leute anrufen würden, um sich nach Nani-ji zu erkundigen. Ich sollte ihnen mit trauriger Stimme mitteilen, dass sie dabei sei »diese Welt zu verlassen«, wie Daddy es ausdrückte. »Es ist nur noch eine Frage von Stunden«, sagte Daddy und streichelte mir über die Haare. »Ihre Lunge arbeitet nicht mehr richtig.« Er sah wirklich traurig aus, nicht, als ob er irgendjemandem zuliebe nur so tat.
Ich versuchte zu weinen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, Tränen hervorzupressen. Als das nicht funktionierte, ging ich in die Küche und stellte mich neben den Ständer, wo wir die Zwiebeln aufbewahrten, wenn das Regal zu voll war. Ich dachte, wenn erst die Tränen strömten, würde sich auch die Traurigkeit einstellen. Aber nichts passierte. Die Schuld übermannte mich, als mir klarwurde, dass ich nur wollte, dass dieser Tag vorüber wäre. Ich wollte, dass Nani-ji schnell starb, damit unsere Leben wieder so werden könnten, wie sie gewesen waren, bevor sie bei uns eingezogen war.
Ich weiß, dass das nicht richtig ist, versicherte ich Gott in Gedanken, als ich im Wohnzimmer an Ihm vorbeiging. Sein stechender Blick brannte auf meiner Haut. Ich bedeckte meinen Kopf mit den Händen und bat ungefähr zwanzig Mal um Entschuldigung, bevor ich sah, dass Seine Miene weicher wurde. Seine Augen verwandelten sich von Steinen in Wasserpfützen und Seine Lippen begannen sich an den Ecken zu kräuseln. Es tat mir wirklich leid, aber ich konnte Nani-ji gegenüber einfach nicht anders empfinden. Immer, wenn ich versuchte, traurig wegen ihr zu sein, tauchten ihr unbarmherziges Gesicht und ihre knochigen Finger vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich sie mir vorstellte, hatte sie immer einen anklagenden Finger auf Ma und mich gerichtet. Dann stellte ich mir vor, wie sie wohl gewesen sein musste, als sie in Mas Alter war und Ma selbst ein kleines Mädchen. In Mas Erzählungen hatte es so geklungen, als ob Nani-ji sich seit damals nicht groß geändert hätte. Das einzige Mal, dass ich sie wirklich glücklich gesehen hatte, war, als sie über Pra-ji gesprochen hatte, den Mann, den Ma so sehr verachtete, als ob alle ihre Probleme wie durch einen Zauber von ihren Schultern geglitten und im Boden unter ihren Füßen verschwunden wären.
Ich hatte nicht erwartet, dass viele anrufen würden, um sich nach Nani-ji zu erkundigen, aber da lag ich falsch. Den ganzen Nachmittag lang klingelte das Telefon, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass sie sich nicht wieder erholen würde. Die meisten, die anriefen, waren alte Frauen – das verrieten mir ihre krächzigen, zittrigen Stimmen. »Gott segne dich, Beti«, sagte eine von ihnen liebevoll. Ich dankte ihr und schaute zu Gott hinüber, um zu überprüfen, ob Er zugehört hatte.
Zwischen den Anrufen machte ich mir mein Mittagessen und mühte mich damit ab, den Küchenboden zu fegen. Daddy rief zweimal an, um sich nach mir zu erkundigen, Ma einmal. Ihre Stimme war schwach und sie sagte nicht viel: »Pin, wenn du etwas zum Abendessen willst, bitte deinen Dad, eine Packung Reis zu kaufen.«
»Ich komm’ schon zurecht«, versicherte ich ihr mit fester Stimme.
Daddy kam am frühen Abend nach Hause und wirkte sehr fahrig. Seine Augen suchten die Wände und die Stelle über meinem Kopf ab und blieben niemals irgendwo haften. »Was ist los?«, fragte ich ihn.
»Nichts«, sagte er. Er schüttelte zu heftig den Kopf. Es sah aus, als wollte er etwas aus seinem Schädel schütteln. Dann setzte er sich und zog einen Zettel aus seiner Hemdtasche. Ehe ich es sah, hatte ich schon erkannt, was es war. »Eine richtig gute Zahl, Pin«, sagte Daddy. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich glaube, damit gewinnen wir!«
Ich wechselte einen Blick mit Gott und freute mich im Stillen über diese Gelegenheit, Daddy in die Schranken zu weisen. Jetzt konnte ich mich vor Gott beweisen. »Du solltest in einer Zeit wie dieser nicht spielen.«
»Ich weiß, aber Pin«, jammerte Daddy. Er klang wie ein kleiner Junge. Ich stemmte die Hände in die Hüften, um die Wirkung zu verstärken, und sagte sehr energisch: »Nein!« Ich war gut darin. Obwohl ihr das nicht gefallen würde, war ich gut darin, mich wie Ma zu benehmen.
Daddy erzählte mir, wie er an die Zahlen gekommen war. Er schwor, dass es etwas anderes war als bei den bisherigen. Während seiner Schicht war an diesem Tag ein Mann ins Hotel gekommen und hatte sich nach dem Weg zu einer nahe gelegenen Bank erkundigt. Daddy war mit ihm nach draußen gegangen und hatte ihn die Straße runter geschickt. Als der Mann sich bei Daddy bedankt hatte, hatte ein Gemüselaster zurückgesetzt und sie beide fast umgefahren. Daddy hatte aufgeschrien, um den Mann zu warnen, und der war zurück auf den Bürgersteig gesprungen. Kisten waren auseinander gebrochen und Wassermelonen, Bananen und Longans über die Straße gekullert. Daddy spielte für mich nach, wie der Mann sich noch immer die Hand auf die keuchende Brust gepresst hatte, als er Daddy nach seinem Namen fragte.
»Ich fragte ihn, warum er meinen Namen wissen wolle. Er sagte, er wolle dem Hotel sagen, dass sie dort hervorragende Mitarbeiter hätten. Es hat sich herausgestellt, dass er ein sehr wichtiger Gast ist. Das heißt, dass ich vielleicht eine Gehaltserhöhung bekomme, Pin!«, sagte Daddy. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Er hatte sich das Nummernschild des Obstlasters, die Zahl der auf die Straße gekullerten Früchte, das Datum und die genaue Uhrzeit notiert, wie er sie von der Hoteluhr abgelesen hatte, als er wieder hineingegangen war. »Ich muss die Lose heute kaufen, ehe die Läden zumachen«, sagte er und sah aus dem Fenster. Der Himmel wurde dunkler. Dichte Wolken schoben sich über den Gebäuden zusammen und verbargen die sinkende Sonne vor unseren Blicken. Ich wurde von der Begeisterung in seiner Stimme angesteckt. Für einen Moment vergaß ich, dass ich nicht an die Lotterie glaubte.
»Du kannst nicht gehen«, sagte ich. »Wenn du Lose kaufst, sag ich es Ma.«
Daddy konnte es nicht fassen. »Ach komm, Pin. Nur noch dieses eine Mal. Ich gewinne ganz bestimmt«, versuchte er mich zu überreden. Ich schüttelte den Kopf. »Ich kaufe dir zum Abendessen, was immer du willst.«
»Nein«, sagte ich, aber ich fühlte, wie ich weich wurde. Es ging nicht um das Essen. Es war die Hoffnung in seiner Stimme. Ich glaubte selbst daran, dass er gewinnen könnte. Ich sah wieder Gott an. Es gab doch sicher etwas Gutes, das uns erwartete, und vielleicht war es genau das hier.
»Du kannst mitkommen«, sagte Daddy. Er musste schon gewusst haben, dass ich ja sagen würde, denn als er zur Tür zurückging, fiel mir auf, dass er immer noch die Schuhe anhatte.
Wir wollten Lose kaufen und dann zu McDonald’s gehen, um beide dort zu Abend zu essen. Ma billigte Fast Food nicht und erlaubte mir nie, bei McDonald’s zu essen. »Wie kann irgendwer etwas essen, das dermaßen verpackt ist?«, fragte sie mich einmal, als wir am Restaurant vorbeikamen, wo Leute ihre Burger aus buntem Papier wickelten und ihre Zähne in die weichen Brötchen schlugen. »Das ist Nahrung. Das ist keine Mahlzeit«, sagte sie. »Ich hoffe, ich habe dir beigebracht, dass es da einen Unterschied gibt. Wie bei einem Haus und einem Zuhause.«
Als Daddy und ich über den Basketballplatz gingen, hörte ich einen vertrauten Ruf. »Mädchen!« Deven brüllte und kam auf mich zugerannt. »Oh!« Er verstummte, als Daddy sich umdrehte. »Oh, hallo Onkel«, brummelte Deven.
»Hallo Junge«, sagte Daddy. »Du bist wohl Pins Fußballfreund.« Er nickte in Richtung des Balls unter Devens Arm.
»Ja, Onkel«, sagte Deven. Dann drehte er sich zu mir um: »Wie kommt es, dass du nie mehr mit uns spielst?«
Ich schaute ihm über die Schulter und sah Kaypoh auf dem Platz. Hinter ihm dribbelte Roadside mit dem Ball. »Viel zu tun«, murmelte ich. Den wahren Grund konnte ich vor Daddy nicht nennen – dass ich nicht Roadsides Schatzi genannt werden wollte. Schlimmer noch; ich wollte nicht, dass die Jungen sich über die Vorstellung lustigmachten, dass Roadside eine indische Freundin haben könnte.
»Wir brauchen einen Torwart«, sagte Deven.
»Sie kann heute mit euch Jungs spielen«, sagte Daddy. Ich sah ihn überrascht an. Er lachte. »Ich geh dir was zum Abendessen kaufen, Pin, und erledige, was ich zu erledigen habe. Du bleibst hier und spielst mit deinen Freunden. Du hast dir auch ein bisschen Spaß verdient. Das bringt dich auf andere Gedanken.«
Er dachte wohl, dass ich mich so seltsam benahm, weil mir die Sache mit Nani-ji zu schaffen machte, aber ich machte mir größere Sorgen darum, was Gott mit mir vorhatte. Ich hatte Seinen Blick im Rücken gespürt, als wir die Wohnung verlassen hatten. »Okay«, sagte ich. Daddy tippte sich an die Stirn und klimperte mit den Wohnungsschlüsseln. »Aber nur eine halbe Stunde, Pin. Ich nehme diesen Weg zurück, dann können wir zusammen raufgehen. Wir haben nur diesen einen Schlüsselbund für uns zwei, und ich will nicht, dass deine Ma anruft und sich Sorgen macht.« Seine eigentliche Angst war es, erwischt zu werden, das wusste ich.
»Du hast keine richtigen Schuhe an«, sagte Deven. »Kannst du barfuß spielen?«
»Ja«, sagte ich.
Die anderen Jungs hatten sich schon auf dem Platz versammelt. Sie warfen ihre Hemden und Taschen auf einen Haufen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Kara ablegte, deshalb sandte ich Gott eine eilige Bitte um Vergebung. Ich legte sie vorsichtig zu den Wertsachen der Jungs – Uhren, Walkmen, mit Büroklammern zusammengehaltene Geldscheine.
»Ich geh ins Tor!«, rief ich. Kaypoh kniff die Augen zusammen, als er mich sah. Roadside ergriff das Wort.
»Okay, aber der Torwart muss den Ball holen, wenn er vom Spielfeld getreten wird. Sei nicht so ein Feigling wie letztes Mal«, warnte er mich.
»Ich bin nicht feige«, sagte ich zu Roadside. Er zuckte mit den Schultern und stapfte davon.
»Lasst uns spielen!«, brüllte Kaypoh, und die Jungs verteilten sich alle über das Spielfeld.
Knöchel und Füße jagten los und schossen über das Spielfeld, als ob sie sich von den Körpern gelöst hätten, zu denen sie gehörten. Ich ließ den Ball nicht aus den Augen, sprang mit schnellen Bewegungen zwischen den beiden Torpfosten hin und her, als die Jungs von der gegnerischen Mannschaft näher kamen. Die Jungs aus meinem Team waren zu gut, um jemanden durchzulassen. Immer, wenn der Ball in meine Nähe kam, grätschten sie dazwischen und traten ihn zurück in die andere Hälfte, so dass die andere Mannschaft in die Gegenrichtung rennen musste. Ich hätte mich für mein Team freuen sollen, aber ich wollte unbedingt, dass der Ball auf mich zugeflogen kam, so dass ich mich mit dem Körper vor das Tor werfen könnte wie die WM-Torwarte im Fernsehen. Ein Torwart konnte einem schwachen Team den Sieg sichern, und wie würde Gott mich dann noch bestrafen können?
Aber mir wurde ziemlich bald klar, dass mich die Jungs schon wieder ausgetrickst hatten. Ich hatte nur für diese Seite ins Tor gedurft, weil das Team so gut war, dass sie im Grunde keinen Torwart brauchten. Wenn sie mich wirklich für gut genug gehalten hätten, hätten sie mich ins andere Tor gestellt. Der gegnerische Torwart wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, als Roadside den Ball an seinem Kopf vorbeikickte.
»Tor!«, brüllten sie alle und klatschten einander ab.
Es fing an zu nieseln. Dunkle Wolken zogen in raschem Tempo über den Himmel. Ang Mo Kio war in der Monsunzeit enger und voller Schatten. Herabgefallene Blätter und Zweige wirbelten über den Boden, bevor sie sich schließlich irgendwo niederließen. Ich sah eine riesige Schnecke am Spielfeldrand entlangkriechen, ihr Körper war schleimig und aufgequollen.
»Mädchen! Nicht träumen!«, rief Kaypoh. Eilig ließ ich meinen Blick von der Schnecke zum Ball wandern. Das Spiel hatte wieder angefangen. Der Ball rollte auf mich zu und ich warf mich nach vorne, um das Tor zu schützen, als Roadside dazwischen grätschte und den Ball mit einem raschen Schlenzer vom Tor wegbeförderte. Die Jungs aus meinem Team atmeten auf und lobten Roadside, bis ihnen aufging, dass der Ball noch immer rollte und ein alter Onkel auf seinem Fahrrad vorbeifuhr. Roadside rief laut, um ihn zu warnen: »Tschuldigung Onkel! Der Ball!«
Der Onkel schlenkerte ein bisschen, um dem Ball auszuweichen, aber eines seiner Räder schickte ihn vom Spielfeld. Der Onkel fuhr weiter, brummelte in seinen Bart und starrte uns alle wütend an. »Es regnet – ihr werdet alle krank werden!«, rief er. Niemand beachtete ihn, denn unsere Blicke waren auf den Ball geheftet, der noch immer rollte. Einige Jungen begannen ihm nachzusetzen, aber es war zu spät. Der Ball rollte zielsicher in den Kanal. Alle stöhnten wie aus einem Munde.
»Mädchen«, sagte Kaypoh. Er nickte zum Kanal hinüber. »Los.«
Ich zögerte. Der Regen begann jetzt wirklich niederzuprasseln, und er begann sich im Kanal zu sammeln. Die Jungs tanzten herum und schüttelten die Haare, um sich gegenseitig nass zu spritzen. Ich blieb nahe beim Tor. Ich wusste, sie konnten mich nicht zwingen, wenn ich nicht in den Kanal steigen wollte.
»Mach schon«, sagte Roadside.
»Es sieht gefährlich aus«, sagte ich.
Roadside seufzte. »Komm schon, Mädchen. Das haben wir besprochen. Du bist der Torwart, und es ist die Aufgabe des Torwarts, den Ball zu holen.«
Mädchen? So hatte Roadside mich noch nie genannt. Ich verstand nicht, warum er so grob zu mir war. Es wirkte, als wollte er mehr sein wie Kaypoh.
»Aber du hast den Ball getreten«, erklärte ich ihm.
Roadside kam dichter an mich heran und flüsterte: »Komm schon, Pin. Ich helfe dir, wenn etwas passiert. Wenn du deine Aufgabe nicht erfüllst, kannst du nicht mehr bei uns mitspielen.« Laut wiederholte er das: »Dann kannst du nicht mehr bei uns mitspielen.«
»Na gut«, sagte ich und ging widerstrebend zum Kanal. Es sah nicht so schlimm aus. Es war etwas Wasser darin, aber ich konnte den Fußball langsam auf das andere Ende der 10. Avenue zutreiben sehen. Da war McDonald’s, wo Daddy jetzt vermutlich in der Warteschlange stand.
An der einen Seite des Kanals war eine Eisenleiter befestigt, und es war leicht, hinunterzuklettern. Die Jungs feuerten mich an, als ich hinunterstieg, und für einen Moment fühlte ich mich mutig und stolz. Dann hörte ich das Wasser unter mir. Es floss jetzt etwas schneller. Ich klammerte mich an die unterste Sprosse der Leiter und testete mit einem Fuß das Wasser aus. Es war kalt, aber es war nicht besonders tief. Ich holte tief Luft und gebot mir selbst, ruhig zu bleiben.
Roadside rief mir von oben Mut zu. »Ich kann ihn sehen! Gleich rechts von dir!« Ich hielt mich an der untersten Sprosse fest und stellte beide Füße auf den Grund des Kanals. Die Stadt sah sehr weit weg aus von hier unten. Ich sah Räder und Füße, aber nicht die dazugehörigen Autos und Menschen. Die Gebäude sahen noch höher aus, und der Himmel über ihnen schien sich meilenweit auszudehnen. Es goss noch immer, und ich wusste, ich musste schnell sein, sonst würde das Wasser anfangen zu steigen.
Ich streckte die Hand nach dem Ball aus, aber eine kleine Strömung trieb ihn weiter, und ich musste mich weiter recken, um ihn zu erreichen. Ich schaffte es nicht. Meine Fingerspitzen streiften ihn kaum. Dann begann aus den Rohren auf beiden Seiten noch mehr Wasser in den Kanal zu strömen, und der Ball wurde noch weiter weg getrieben. Ich ließ die Leiter los und watete in Richtung des Balls. Das Wasser reichte mir gerade bis unter die Knie und ich hatte noch jede Menge Zeit, ehe es höher steigen würde. Und es sah so aus, als würde der Regen jetzt ohnehin aufhören.
Ich erwischte den Ball, ehe er wieder wegtrieb, und klemmte ihn mir unter den Arm. Als ich mich umdrehte, spürte ich, wie mir etwas über den Fuß kroch. Mir fiel ein, dass ich einmal in einem ausgetrockneten Kanal eine Schlange gesehen hatte, als Daddy und ich beim Bishan Park über eine Brücke gegangen waren. Ich hätte sie für einen kleinen Ast gehalten, wenn Daddy mir nicht gesagt hätte, ich sollte stehenbleiben und zusehen, wie sie sich bewegte.
Ich trat kreischend um mich, stolperte und spürte, wie sich meine Shorts mit Wasser vollsogen. Als ich aufschaute, starrten die Jungs immer noch in den Kanal hinunter. »Wirf den Ball rauf, Mädchen. Was sitzt du da rum?« Ich drückte mich hoch und eilte zur Leiter zurück. Das war einfach nur ein loser Zweig. Ein feuchter Blätterhaufen, versuchte ich mich selbst zu überzeugen.
Ich musste Roadside den Ball zuwerfen, denn ich brauchte beide Hände, um die Leiter hochzuklettern. Ich warf einmal, aber der Ball fiel wieder zurück. »Nochmal«, rief Roadside. »Und beeil dich!« Er klang besorgt. Ich warf den Ball so hoch ich konnte und zielte auf die Straße. Ich hoffte, er würde schnurstracks auf die andere Seite hüpfen und von einem Auto zerquetscht werden, weil er mir so viel Ärger gemacht hatte.
Dann hörte ich ein furchtbares Rauschen. Aus zwei Öffnungen an den hohen Wänden, die mich von beiden Seiten umschlossen, schoss trübes Wasser und presste mich wieder auf den Hosenboden. Zuerst lachten die Jungen, aber als einer meine erstickten Schreie hörte, fingen sie an, miteinander zu streiten. »Geh runter und hilf ihr.« – »Nein, es ist zu tief.« – »Du gehst.« Zuerst mischten sich ihre Rufe mit dem Verkehr und dem Prasseln des Regens auf den Bäumen und sämtlichen Geräuschen des Viertels. Dann schlug das Wasser über meinen Kopf zusammen und ich konnte nichts mehr hören.
Der Strom trug mich weiter und meine Lunge fühlte sich an, als würde sie bersten. Ich fuchtelte mit den Armen herum auf der Suche nach etwas, an dem ich mich festhalten könnte, aber überall um mich herum waren nur hohe, glatte Mauern. Für einen Augenblick wurde alles dunkel und ich dachte, ich sei ertrunken, aber dann ging mir auf, dass mich das Wasser nur unter die Brücke gespült hatte.
Das war der Moment, in dem ich Gott sah. Ich sah Ihn genau so wie beim ersten Mal, als Ma mir erklärt hatte, dass Gott überall sei. Da war Er in den höchsten Zweigen der Bäume, dort starrten mich Seine Augen aus dem trüben Wasser heraus an. Er guckte über die Brücke und saß oben auf der Mauer und ließ Seine rauen Füße hinunter baumeln. Hilf mir, flehte ich ihn an, als mir noch mehr Wasser in die Nase schoss. Meine Kehle brannte. Bitte, hilf mir.
Das Wasser hörte nicht auf zu strömen und der Regen wurde noch heftiger, aber als ich wieder vorwärtsgeschoben wurde, spürte ich etwas Hartes und Kaltes an meinem Knöchel und schlang schnell mein Bein darum. Es war eine weitere Leiter, am anderen Ende des Kanals. Ich konnte nicht fassen, dass mich das Wasser so weit getragen hatte. Ich zog mich vorwärts und klammerte mich fest an die Sprossen über mir. Ich wartete, bis ich nicht mehr husten musste, dann kletterte ich aus dem Kanal. Es war niemand da. Die Jungs waren weggelaufen. Roadside war weg. Daddy war nirgendwo zu sehen, obwohl er doch über diesen Weg kommen und mich im Regen auf dem Bürgersteig sitzen sehen musste, bis auf die Knochen durchnässt und zitternd nach einer Nahtod-Erfahrung. Sogar Gott war weg. Wenn Er allerdings noch in der Nähe wäre, wusste ich, was Er sagen würde. Er würde meine kurzen Haare ansehen und mein nacktes Handgelenk, und Er würde jeden bösen Gedanken zählen, den ich in Bezug auf Nani-ji gehabt hatte, und alles Verwerfliche, was ich je getan hatte. Er würde eine Augenbraue heben und sagen: Jetzt sind wir quitt.
• • •
Ich hatte immer noch Wasser in den Ohren, als ich in die Wohnung trat. Ich legte den Kopf schräg, um es herauszuschütteln, und merkte nicht, dass Daddy auf mich zugestürzt kam. »Wo warst du denn bloß?«, verlangte er zu wissen. »Und was ist passiert? Ich bin über den Basketballplatz gegangen, aber ihr wart alle verschwunden. Habt ihr in den Abflusskanälen gespielt?«
Ich lieferte Daddy eine Kurzfassung von dem, was geschehen war. Ich erzählte ihm nicht, wie die Jungen mich dazu gebracht hatten, in den Kanal zu steigen. Ich wollte nicht, dass er es Ma erzählte. Sie würde sich die Jungs vermutlich vorknöpfen und mich blamieren. Es war jetzt sowieso egal. Ich würde nie wieder mit ihnen Fußball spielen.
»Ich bin nur schnell in den Kanal gestiegen, um den Ball zu holen, und dabei bin ich ein paarmal ausgerutscht. Das war alles.« Ich sah an Daddy vorbei, als ich das sagte. Er durchschaute meine Lüge nicht. Er war mit etwas anderem beschäftigt.
»Deine Ma hat gerade angerufen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Nani-ji ist von uns gegangen.«
Ich ließ mich in den Rattansessel im Wohnzimmer sinken. Daddy machte sich nicht die Mühe mir zu sagen, dass das Wasser aus meinen Kleidern die Bezüge durchweichte. Sie waren ohnehin alt und verschossen, bedruckt mit bräunlichen Bildern von ausladenden Blüten und geschwungenen Stängeln.
»Von uns gegangen«, hatte er respektvoll gesagt, als sei sie einfach nur von einem Zimmer ins andere gegangen. Wenn ich vor ein paar Minuten im Kanal ertrunken wäre, hätten sie dann dasselbe über mich gesagt? Hätten die Zeitungen eine Geschichte über ein dummes Mädchen gedruckt, das ins Wasser gesprungen war, um einen Ball zu retten und den Jungs zu imponieren? War das alles, um was es ging, einfach »davon zu gehen«?
»Sie ist gestorben?«, fragte ich Daddy, einfach um sicherzugehen. Er nickte und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Du zitterst, Pin. Du solltest duschen und dir trockene Sachen anziehen. Wir müssen heute Abend in den Tempel gehen. Morgen Früh wird es Gebete geben, und dann die Beisetzung …«
In meinen Ohren hörte ich ein leises Summen, wie das Geräusch der Flugameisen, die gegen die Leuchtröhre flogen. Es wurde lauter und verschlang Daddys Worte. Nani-ji war tot. Nani-ji hatte uns verlassen. Manchmal hatte ich nachts, wenn sie schlief, gesehen, wie ihre Finger sich verkrampften wie die Ränder von vertrockneten Blättern. Ich stellte sie mir jetzt im Krankenhausbett vor, mit geschlossenen Augen, die Finger flach auf der Matratze, die Beine ausgestreckt. Dann stellte ich mir vor, wie Ma neben Nani-ji saß, ihr die Haare glattstrich, ein letztes Mal mit ihr sprach. Sie flüsterte etwas, aber ich konnte es nicht verstehen – das Summen in meinen Ohren übertönte alles andere. Aus Mas Gesicht war alle Farbe gewichen und ihre Haut war bedeckt von flammend roten Pusteln.
Daddy legte die Arme um mich, als ich anfing zu weinen. »Ach Pin. Ich weiß, ich weiß, Pin.« Aber das tat er nicht. Er wusste nichts. Ich war erleichtert, dass ich traurig war, endlich, und ein Teil von mir weinte um Nani-ji. Wenn ich mich richtig anstrengte, wenn ich an die wenigen Augenblicke dachte, als Nani-ji sich nicht in Mas Angelegenheiten eingemischt oder ihr vorwurfsvolle Blicke zugeworfen hatte, verspürte ich einen kurzen Stich, der mich daran erinnerte, dass ich sie niemals wiedersehen würde. Aber ich weinte, weil ich an diesem Nachmittag fast ertrunken wäre, weil ich nicht den Rest meines Lebens damit verbringen wollte, Zuckerbrot zu Mittag und zu Abend zu essen, weil ich nicht glaubte, dass Daddy jemals das große Los ziehen würde, weil Fettes Tantchen Mas Schmuck weggenommen hatte. Ich weinte, weil ich mir blöd vorkam, weil ich gedacht hatte, in unserer Wohnung würde jetzt alles wieder normal werden. Nichts war je normal gewesen.
»Ich weiß, dass du traurig bist. Aber deine Großmutter war jetzt an der Reihe«, flüsterte Daddy in meine schmutzigen Haare.
Ich sagte nichts. Ich war müde und ausgelaugt, nicht traurig. Die einzige Person, die meine Gedanken lesen und den Unterschied sehen konnte, war Gott, aber Er war seltsam still.