PAK-PAK-PAK-pak-pak.
Die flachen Sohlen von Jinis abgenutzten Sandalen knallen auf den Beton, während sie sich vorbeischlängelt an parkenden Autos und auf der Seite liegenden Fahrrädern, die aussehen, als machten sie in der Hitze des Nachmittags ein Nickerchen. Sie rennt schneller als je zuvor, aber niemand achtet auf sie. Zum ersten Mal ist ihr das lieber so. Normalerweise hat sie gern ein Publikum. Sie genießt die Blicke und das ehrfürchtige Aufstöhnen der Kinder im Kampong, wenn sie vorübersaust. »Sie ist so schnell für ein Mädchen!«, sagen einige. Andere sagen, dass sie schneller läuft als jeder Junge, den sie je gesehen haben. Wenn sie das sagen, klingen sie ein bisschen misstrauisch.
Jini hat vor drei Jahren angefangen zu rennen, als sie erfahren hat, dass ihr Vater sie endgültig verlassen hat. Die Wut flutete ihr Herz und strömte ihr durch die Adern. Sie hatte damals viele böse Gedanken in Bezug auf ihren Vater, und je mehr von diesen Gedanken ihr kamen, desto schlimmer wurde ihre Haut. Pusteln erschienen auf ihrem Bauch und verschwanden ebenso plötzlich. Kleine Beulen bedeckten ihre Knöchel. Zum Glück zwingt ihre Mutter sie, lange Hosen zu tragen, weil sie Shorts für unanständig hält. »Du läufst halbnackt durch die Gegend. Ich will nicht, dass die Leute reden und sagen: ›Seht euch Harjinder Singhs Tochter an, treibt sich rum, weil kein Mann im Haus ist.‹« Heute Morgen war ihre Mutter zufrieden, weil sie eine weite Baumwollbluse mit langen Ärmeln angezogen hat. Sie weiß nichts von den Pusteln; selbst Sarjit hat seit Wochen keinen Kommentar mehr dazu abgelassen, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Er spricht neuerdings kaum noch mit ihr.
Sie soll nicht draußen herumrennen, aber ihre Mutter ist im Tempel und wird nicht vor dem Abend nach Hause kommen. Sie arbeitet jetzt als Putzfrau, fährt mit dem Bus raus aus dem Kampong und weg von ihren tratschenden Nachbarn zu den Häusern der britischen Offiziere beim Flottenstützpunkt. Die bezahlen sie schlecht, weil sie kein Englisch spricht, und manchmal versteht sie ihre Anweisungen nicht. Aber wenn sie zu Hause von diesen Leuten spricht, betont sie immer, wie freundlich sie sind. »Und sie haben cremefarbene Haut«, erzählt sie Jini beim Kochen. »Ihre Häuser haben drei oder vier Stockwerke und riesige Bücherregale.« Sie hat einmal für Jini ein paar Bilderbücher mitgebracht, aber Jini fand sie zu kindisch. Ihre Mutter hatte eine Augenbraue gehoben und ihr gesagt, sie solle sich nicht beschweren. »Immerhin bringe ich dir Bücher mit«, sagte sie. »Du kannst von Glück sagen, dass ich dich weiter zur Schule gehen lasse. Das Geld für die Schulgebühren und die Bücher könnten wir auch für Essen und Kleidung brauchen. Nach der Mittleren Reife wirst du anfangen müssen zu arbeiten.«
Deshalb rennt Jini. Weil es Dinge gibt, die sie nicht hinnehmen will und kann. Beim Rennen hat sie das Gefühl, dass sie allem entkommen kann, den Anweisungen ihrer Mutter, ihren Gedanken in Bezug auf ihren Vater, dem immer schlimmer werdenden Jucken am ganzen Körper von den unerklärlichen Pusteln.
»Hey Jini!«, hört sie eine Stimme rufen. Sie wird langsamer und schaut sich um. Nicht stehenbleiben, nicht stehenbleiben. Das ist ihr Gesetz – für nichts und niemanden stehenbleiben, wenn sie rennt. Es sei denn, natürlich, es ist Bilu, dann muss sie ihren Schritt verlangsamen und ihn nach Hause bringen. Er hat noch immer die Angewohnheit, ihr hinterherzulaufen, wenn sie morgens zur Schule geht und nachmittags zum Rennen rausgeht. Er klammert sich nicht mehr an Sarjit, weil Sarjit ihn ignoriert.
»Was?«, fragt Jini und wird noch langsamer; sie ist wirklich erschöpft und ihre Wadenmuskeln brennen. Die Stimme gehört einem Nachbarjungen, den sie kennt. Er kommt mit schnellen Schritten auf sie zu, einen Fußball unter den Arm geklemmt. Er trägt kein Hemd und der Schweiß strömt ihm über die knochige Brust und sammelt sich in seinem Nabel. Sie wendet sich ab.
»Du rennst sehr schnell.«
»Weiß ich.«
»Wovor läufst du weg?« Einige weitere Jungen gesellen sich zu ihm. Sie schaut sich nervös um. Obwohl sie sonst niemanden sehen kann, ist sie sicher, dass Augen auf sie gerichtet sind, beobachtend, abwartend.
»Vor dir«, sagt sie lässig und dreht sich auf dem Absatz um. Sie kann noch ein bisschen weiterrennen, wenn das bedeutet, von den Jungs wegzukommen.
»Oder läufst du zu jemandem?«, ruft einer. Die anderen prusten los und springen auseinander, als ein weißes Auto auf der huckeligen Straße angefahren kommt und laut hupt.
»Haltet die Klappe!«, brüllt sie den Jungs zu. Der Wagen wird langsamer und der Fahrer hupt noch einmal. Sie schaut gar nicht erst hin; es kann niemand sein, den sie kennt. Sie rennt weiter, bis sie nicht mehr kann, dann geht sie außer Puste nach Hause. Als sie das Tor öffnet, fühlt sie sich leicht, als ob sie jeden Funken Elend, der sich in ihrem Herzen angesammelt hat, ausgetreten hätte. Sie streift die Ärmel und die Hosenbeine hoch und wirft einen raschen Blick auf ihre Arme und Beine. Der Ausschlag scheint verschwunden zu sein, und die Schwellung hat ebenfalls nachgelassen. Sie lächelt erleichtert und geht ins Haus.
• • •
»Ich hab dich rennen sehen«, sagt ihre Schwägerin vorwurfsvoll. »Die Nachbarn reden über dich.«
»Ist das ein Verbrechen?«, fragt Jini mit gespielter Unschuld.
»Werd ja nicht frech«, sagt Bhabi-ji und droht ihr mit dem Finger. »Ich bin älter als du.«
Jini zuckt gleichgültig mit den Schultern und streckt die Hand aus, um Bilu zu kitzeln, der gerade gut drauf ist. Er kichert. Speichel läuft ihm am Kinn hinunter und sammelt sich in seinem Schlüsselbein. »Schleimi-Schleimi-Baby«, singt sie ihm ins Ohr. Er macht den Mund auf, um ihre Wörter aufzunehmen wie ein Küken. Sie macht mit den Händen Furzgeräusche und er kreischt vor Vergnügen.
»Ruhe!«, schreit Bhabi-ji. »Jini, reg ihn nicht auf!«
»Ich mach’ ihn nur glücklich«, gibt Jini zurück. »Er ist doch den ganzen Tag lang im Haus eingesperrt.« Mit dir, der Ärmste, denkt sie.
»Was erwartest du denn von mir? Dass ich ihn aller Welt vorführe? Heute hat er versucht, dir nach draußen zu folgen. Er hat dich am Haus vorbeirennen sehen und wollte dir hinterherlaufen.«
»Das hat er schon seit Jahren nicht mehr gemacht«, sagt Jini. »Wahrscheinlich war er heute nur aufgeregt.«
»Ganz egal, ich will, dass du von jetzt an nach der Schule zu Hause bleibst. Kein Rumgerenne mehr. Deiner Mutter wird es nicht gefallen, wenn die Leute davon erfahren. Und sie wird mich dafür verantwortlich machen.«
»Ich tue nichts Verbotenes«, wehrt Jini sich lauthals. Das regt Bilu auf. »Verboten-verboten-boten-boten-boten!«, heult er wie eine Sirene, bis das Wort seinen Sinn verloren hat. Das ist es, was sie an ihm liebt. Er kann allem den Ernst nehmen. »Boten-boten-boten-boten-boten-boten-boten …«
»Schluss!« Sie erstarren allesamt. Sarjit steht in der Küchentür und starrt Jini und Bilu wütend an. Er wagt es nicht, seine Frau auf dieselbe Weise anzusehen, denn sie ist größer und mächtiger als er. Seit er sie geheiratet hat, ist er Jini gegenüber kühler geworden und Bilu gegenüber strenger, er behandelt ihn wie einen Gast, der schon viel zu lange geblieben ist. Deshalb geht Bilu ihm aus dem Weg; er kann sich vielleicht nicht benehmen wie die anderen, aber er merkt genau, wenn jemand ihn nicht um sich haben will.
Jini unterdrückt ein paar wütende Widerworte, denn sie darf ihrer Schwägerin gegenüber nicht respektlos sein, die zehn Jahre älter ist als sie. Sie ist sogar älter als Sarjit, der sie kurz nach seiner Entlassung aus der Armee geheiratet hat. Die Hochzeit ging schnell über die Bühne. Jinis Mutter wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die Familie ziehen, wegen ihres verschwundenen Mannes. Die ganze Sache war ihr noch dazu ein bisschen peinlich, weil Pra-ji recht gehabt hatte, was dieses Mädchen aus Ipoh betraf. Sie sah nicht gut aus. Sie war ziemlich übergewichtig und sie sah immer aus, als ob sie sich gleich über irgendetwas beschweren würde. Sie war unfreundlich und stieß während der Trauung immer wieder Seufzer aus, als ob sie es nicht erwarten könnte, dass die Zeremonie beendet wäre und sie nach Hause gehen und ein Nickerchen halten dürfte. Sie kommandierte Jini herum und versuchte oft, sie zu maßregeln, weil die Mutter ständig weg war. Und sie fühlte sich unwohl in Bilus Nähe – in den ersten Monaten sprach sie mit ihm, ohne ihm je in die Augen zu sehen. Jetzt überlässt sie ihn Jini, rechnet es sich aber als Verdienst an, wenn die Mutter sagt, dass er sich gut benimmt, und das ärgert Jini. Bilu ist nur ruhig, weil Jini ihm etwas vorsingt und ihm vorliest und ihn manchmal heimlich mit in den Laden gehen lässt, wenn er ihr versprochen hat, sich gut zu benehmen und die ganze Zeit an ihrer Hand zu bleiben.
Ihre Mutter kommt aus dem Tempel zurück, mit Nachschub an Roti, Dhal und Joghurt, in Plastiktüten verpackt, die an den Enden zugebunden sind, so dass sie aussehen wie dicke Zwiebeln. Sie bringt die Tüten in die Küche und bittet Bhabi-ji, das Essen zu servieren. »Hilf ihr, Jini«, sagt sie, ehe sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzieht.
»Willst du nichts essen?«, ruft Jini.
»Ich hab im Tempel gegessen«, antwortet ihre Mutter. Sie isst jetzt jeden Abend im Tempel, nachdem sie gebetet hat.
Sie verzehren stumm ihr Abendessen. Sarjit liest Zeitung und bleibt vollständig für sich. Jini macht Grimassen für Bilu, der kichert und dann sein Essen über den Tisch sprüht.
»Aufhören«, sagt Bhabi-ji zu Bilu. »Ich warne dich!« Es ist ihre Aufgabe, ihn bei den Mahlzeiten zu füttern, weil er mit seinen eigenen Fingern eine solche Sauerei macht. Er kann das Brot immer noch nicht brechen oder das Dhal aufnehmen, ohne alles auf dem Tisch zu verteilen. Manchmal lässt er beim Essen den Kiefer hängen und weigert sich zu kauen, so dass das Essen ihm einfach das Kinn hinunterläuft. Wenn er kichert, besteht die Chance, dass er so weit abgelenkt ist, dass Bhabi-ji ihn füttern darf. Aber sie sieht das nicht so. Jetzt merkt sie, dass Jini Grimassen schneidet, und stemmt sich vom Tisch hoch. »Das reicht«, sagt sie. »Ich hab genug von deinen Respektlosigkeiten.« Sie stürzt in das Zimmer der Mutter. Jini hört sie mit leiser, zorniger Stimme sprechen, und in ihrer Magengrube macht sich Angst breit.
Ihre Mutter kommt aus ihrem Zimmer, streicht sich die Haare aus den Augen. Sie sieht seltsam munter aus. Sie hebt eine Hand und schlägt Jini auf die Wange. »Habe ich von deiner Schwägerin gehört, dass du draußen herumgerannt bist und mit den Jungen aus der Nachbarschaft geredet hast? Mit ihnen gespielt? Was ziehe ich da bloß für eine Tochter groß?«
»Ich habe nicht mit ihnen gespielt!«, brüllt Jini ihre Bhabi an. Die Lautstärke trägt ihr eine zweite Maulschelle ein. Sarjit seufzt, faltet seine Zeitung zusammen und flieht in sein Zimmer. »Ich bin gerannt«, sagt Jini leise.
»Gerannt? Wozu denn?«
»Um zu trainieren.« Jetzt strömen ihr Tränen über die Wangen.
»Trainieren? Unsinn. Du gehst mir nicht mehr aus dem Haus! Kein Wunder, dass Tantchen Lakhbeer mich im Tempel so komisch angeschaut hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass meine Tochter mir so viel Ärger macht. Ist es nicht schlimm genug, dass dieser Bastard von einem Vater uns verlassen hat?«
Jini und Bhabi-ji starren sie beide geschockt an. Die Mutter hat noch nie so ein Wort für ihren Mann benutzt. Sie sieht jetzt selbst leicht verwirrt aus, als ob jemand anderes es gesagt hätte.
An diesem Abend hilft Jini schweigend beim Abwasch, ohne in die selbstzufriedene Miene ihrer Schwägerin zu sehen. Sie kann sie nicht ausstehen. Sie wünschte, ihr Bruder hätte jemand Netteres geheiratet. Sie weiß, dass ihre Mutter genauso denkt, aber Bhabi-ji gehört jetzt zur Familie, und es steht ihnen nicht zu sich auszusuchen, wer zu ihrer Familie gehört. Pra-ji hat das leise zu ihrer Mutter gesagt, als er Sarjit bei einer kleinen Ehevermittlungszeremonie seiner zukünftigen Frau vorgestellt hat. Er war so freundlich, einen Teil der Zeremonie in seinem eigenen Haus abzuhalten. Er wollte nicht einmal Geld von Jinis Mutter annehmen, doch sie bestand darauf, also nahm er das Geld und versprach, es dem Tempel zu stiften. Jini erinnert sich noch gut an das Gesicht ihrer Mutter, als sie Bhabi-jis platte Nase, den Schatten auf ihrer Oberlippe, die breiten Hüften und die stämmigen Arme gesehen hat. »Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte die Mutter, obwohl sie die Schwiegertochter noch gar nicht richtig kennengelernt hatte. Es klang, als ob sie sich selbst überzeugen wollte.
Bhabi-ji weiß, dass Jinis Mutter enttäuscht ist, deshalb tut sie alles, um sie zufriedenzustellen. Wenn Jinis Mutter sie bitten würde, im Regen um das Haus zu rennen, bekleidet mit nichts als einem Bettlaken und einer Plastiktüte auf dem Kopf, würde sie es sofort tun. Sie hat Jini schon früher verpfiffen – vor ein paar Wochen hat sie der Mutter gepetzt, dass Jini ein chinesischer Fluch rausgerutscht ist, als sie sich beim Zwiebelschneiden aus Versehen in den Finger geritzt hat. Ihre Mutter war wütend, dass Jini überhaupt chinesische Wörter kannte, schmutzig oder nicht, denn andere Sprachen sind im Haus streng verboten. »Sowas wie ›singapurisch‹ gibt es nicht. Du bist indisch, malaiisch oder chinesisch. Wenn sich alles vermischt, vergisst du am Ende deine Traditionen.« Jini hatte ihre Mutter noch nie so unversöhnlich erlebt, aber jetzt, wo ihr Vater weg war, machte die Mutter dieses neue Land dafür verantwortlich, ihn verführt und schwach gemacht und am Ende verjagt zu haben. Mutter hat Bhabi-ji die Erlaubnis erteilt, Jini Chili auf die Lippen zu reiben, wenn sie in diesem Haus je wieder ein Wort in einer anderen Sprache von ihr hört.
Als sie jetzt das Geschirr abspülen, passt Jini gut auf, dass ihre Arme bedeckt bleiben, weil sie spürt, wie die Pusteln zurückkehren. Seit dem Essen ist der Drang, sich zu kratzen, immer schlimmer geworden, und sie möchte ihren ganzen Leib schrubben, bis sich ihre Haut abpellt und eine neue Schicht zum Vorschein kommt. Wenn Bhabi-ji ihre Flecken sieht, wird sie das garantiert ausnutzen, um ihr Ärger machen, um die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken, damit niemand ihre eigenen Fehler bemerkt. Dieses eine Mal ist Jini dankbar für das trübe Licht in ihrer Küche, für das bleiche Mondlicht, das es schwer macht, einen Flecken auf der Haut von einem harmlosen Schatten zu unterscheiden. Bei ihrer Schwägerin wird sie sich immer im Schatten halten und hinter Lichtspiegelungen verstecken müssen.
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Als Jini zum ersten Mal klarwurde, wie schnell sie rennen konnte, war sie in der Schule und sie machten im Sportunterricht einen Hundert-Meter-Sprint. Ihr Lehrer war so beeindruckt, dass er sie nach dem Unterricht da behielt, um sie gegen einige der älteren Jungen antreten zu lassen. Einer von ihnen, ein lockiger Junge, lächelte mehr als er redete. Manche nannten ihn Blackie, aber er grinste sie nur breit an. Er hatte dunkle Haut, und die Haare standen ihm in so viele Richtungen vom Kopf ab, dass er ein Tamile sein musste. Das dachte Jini jedenfalls, deshalb war sie überrascht, als er sie eines Tages nach der Schule auf Punjabi ansprach.
»Wie kommt es, dass du so schnell rennen kannst?«, fragte er.
»Du bist ein Punjabi?«, fragte sie.
»Klar. Seh ich nicht so aus?«
»Nein«, sagte sie. »Ehrlich, tust du nicht. Deine Haare.«
Er lachte. »Punjabis haben keine Locken?«
»Nein … ich meine, doch. Mein Bruder hat welche. Aber deine Haare sind kurz. Deine Eltern erlauben es dir, dir die Haare schneiden zu lassen?«
»Klar. Die sind nicht besonders religiös. Und es ist schwierig, Haare wie meine lang zu tragen. Die verwursteln sich total. Also haben sie mir schon immer die Haare geschnitten.«
Jini schüttelte den Kopf. »Meine Mutter würde mich umbringen. Sie würde mich von der Schule nehmen und für den Rest meines Lebens jeden Tag in den Tempel schicken.«
»Meine Eltern gehen nicht sehr oft in den Tempel. Wir beten lieber zu Hause.«
Wer um alles in der Welt tat denn sowas? Jini sprach danach nicht mehr viel mit ihm, aber sie sah ihn ab und zu in der Schule. Er grüßte sie nie, worüber sie froh war, weil sie nicht wollte, dass andere sie aufzogen und ihnen Geschichten andichteten. Aber sie sah ihn einige Male im Viertel, wenn er mit den anderen Jungs Fußball spielte, und wenn sich ihre Blicke begegneten, neigte er leicht den Kopf und schickte ein kurzes Lächeln in ihre Richtung. Sie war ihm dankbar für seinen Takt.
Seit ihre Mutter das mit dem Rennen herausgefunden hat, kann sie nur noch im Sportunterricht in der Schule rennen. Ihr Lehrer, Mr Goh, will sie dazu überreden, dem Rennteam beizutreten. »Es gibt Wettrennen und Marathons. Ich könnte dich trainieren, so dass du zu einer richtig guten Läuferin wirst. Du hast das Zeug dazu.« Aber immer, wenn er ihr damit kommt, lehnt sie ab. »Meine Eltern«, sagt sie nur. Er nickt und schenkt ihr ein verständnisvolles Lächeln. »Ich weiß«, sagt er. Viele Punjabi-Kinder gehen auf diese Schule, und oft müssen sie darum bitten, irgendetwas anders machen zu dürfen als die anderen. Einige Mädchen sitzen während der Sportstunden auf der Bank oder tragen sogar an den heißesten Tagen Jogginghosen, weil ihre Eltern es ihnen nicht erlauben, die üblichen Shorts anzuziehen. Es gibt Jungen, die zugegeben haben, noch nie schwimmen gewesen zu sein, weil es zu umständlich ist, sich danach die langen Haare zu waschen, trotzdem versucht Mr Goh Jini dazu zu überreden, sich dem Team anzuschließen. »Ich will nicht, dass du zu Hause Ärger bekommst«, sagt er sanft. »Aber vielleicht gefällt deinen Eltern einfach die Vorstellung nicht. Wenn du dann Erfolg hast, werden sie möglicherweise zugänglicher.«
»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich werde es mir überlegen.«
Am nächsten Tag leiht sie sich ein Paar Shorts und ein T-Shirt von einer chinesischen Klassenkameradin. Sie wird sich etwas überlegen müssen, um die Sachen zu Hause unbemerkt zu waschen, aber im Moment hat sie andere Probleme. Ihre Beine sind völlig verpustelt: voll von großen, kreisrunden Malen und langen roten Linien, wo sie sich im Schlaf gekratzt haben muss. Sie beschließt, auf den Sportplatz rauszulaufen und so zu tun, als ob es die Pusteln nicht gäbe. Sie benutzt sie als Motivation, um schneller zu rennen – wenn sie langsamer wird, können die anderen ihre unreine Haut sehen. Wenn sie sich schnell genug bewegt, um ein Schemen zu werden, wird niemand sie sehen. Das ist noch ein Grund, aus dem sie es liebt zu rennen – sie kann sich unsichtbar machen.
Auf der Aschenbahn feuert Mr Goh sie lautstark an, und bald werden die Vorüberkommenden langsamer, um zuzusehen. Jini steigert ihr Tempo, damit sie sie nicht erkennen. Ihr ist klar, dass ihre Mutter irgendwann dahinterkommen wird, denn in ihrem Viertel gibt es keinen einzigen Punjabi, der ein Geheimnis für sich behalten kann, aber gerade will Jini einfach nur rennen. Sie denkt an Sarjit, der so schweigsam ist, wie er kaum noch mit ihr spricht, jetzt, wo seine Frau die Herrschaft über alles an sich gerissen hat. Sie rennt es weg. Ihren Vater in Indien, der sein Leben genießt, während sie nur noch ein verblasster Farbklecks in seiner Erinnerung ist. Sie rennt schneller. Der Zorn ihrer Mutter, die Verbitterung ihrer Schwägerin, die Ödnis, die das alles in ihr dahinwelkendes Haus bringt. Sie spürt, dass sie ihren eigenen Geschwindigkeitsrekord bricht, und als sie endlich langsamer wird, hat sie das Gefühl, über allem und allen anderen zu schweben.
»Ich bin beeindruckt«, meint Mr Goh. Er klopft ihr auf den Rücken und sagt, sie solle am nächsten Tag wiederkommen.
Jini wäscht die geliehene Kleidung unter dem Wasserhahn hinter dem Schulhaus. Die spröden Grasstoppeln pieksen sie in die Füße, als sie in die Hocke geht und den Schmutz mit ihren Fingerknöcheln herausschrubbt. Dann reibt sie sich Arme und Beine mit Wasser ein, um die Pusteln zum Verschwinden zu bringen.
Als sie das Schulgelände verlässt, muss sie sich eine Lüge ausdenken, die sie ihrer Schwägerin verkaufen kann, wenn sie nach Hause kommt. Sie musste länger bleiben wegen einer Extrastunde. Auf der Straße war ein Unfall und sie musste einen Umweg nach Hause nehmen. Ein plötzliches Hupen reißt sie aus ihren Grübeleien. Sie fährt herum und sieht dasselbe weiße Auto wie das letzte Mal, als sie zum Rennen draußen war. Sie legt die Hand an die Stirn zum Schutz vor der Mittagssonne und schaut angestrengt ins Auto, um zu sehen, wer darin sitzt. Ein Fenster wird heruntergekurbelt, und es ist Pra-ji.
»Sat sri akal, Jini!«, ruft er. Sie geht zu dem Auto hinüber und betrachtet den glänzenden Lack. Das Auto ist sehr imposant. »Sat sri akal«, sagt sie und faltet ehrerbietig die Hände.
»Wie geht es dir? Kommst du gerade aus der Schule?«
»Ja. Ich hatte eine Extrastunde.«
Pra-ji lächelt verkniffen. »Ach so. Soll ich dich nach Hause fahren? Ich bin unterwegs zum Tempel.«
Sie klettert ins Auto. Drinnen riecht es frisch und neu, wie feuchte Erde nach einem langen Monsun. Er sagt nicht viel auf dem kurzen Weg zu ihrem Haus, aber kurz bevor sie ankommen, fragt er sie nach ihrem Geburtstag.
»Schon vorbei. 15 Mai.«
»Mai also. Und du bist sechzehn?«
Sie wird rot. Sie wird oft für älter gehalten, weil sie so groß ist und wegen ihres Körpers, der sich jetzt unübersehbar entwickelt. Ihre Brüste werden sichtbarer, sogar unter dieser Faltenschürze.
»Vierzehn«, sagt sie.
»Dann bist du in zwei Jahren mit der Mittelschule fertig. Was hast du danach vor?«
Jini zuckt mit den Schultern. »Ich denke, ich werde arbeiten gehen müssen.«
Pra-ji nickt langsam, und für eine lange Weile sagt keiner mehr etwas. Plötzlich sieht sie, dass sie vor ihrem Haus stehen. Sie bedankt sich und rennt hinein, wobei sie sich im Kopf eine Lüge zurechtlegt.
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Jini darf das Haus inzwischen nur noch verlassen, wenn sie für ihre Mutter oder ihre Schwägerin etwas erledigen soll. Es hat ihr immer davor gegraut, die Straße runter zu Laden-Onkels Geschäft zu gehen, aber jetzt reißt sie sich darum, glücklich, rauszukommen. Ihre Mutter sagt ihr immer, sie solle sich beeilen. »Und nicht draußen reden oder spielen«, sagt sie. Bhabi-ji wiederholt die Ermahnungen der Mutter, wenn die nicht in der Nähe ist. Heute soll Jini eine Packung Zucker kaufen. Sie haben keinen mehr und Pra-ji kommt zum Tee.
Im Laden stehen verschiedene Sorten Zucker in den Regalen. Laden-Onkel hantiert wütend mit einem Rechenschieber herum und kritzelt dabei in ein blaues Kontobuch. »Mädchen, was willst du? Beeil dich. Steh hier nicht rum.«
»Ich brauche Zucker«, sagt sie.
»Zucker. Hier – alles voll davon.«
»Den billigsten«, sagt sie und scannt die Reihe mit den Augen. Die Preise stehen nicht auf den Packungen.
Laden-Onkels Mine glättet sich. »Wieviel hast du?«, fragt er.
Jini zögert, aber Laden-Onkel wirkt aufrichtig. Er schiebt sein Kontobuch zur Seite. »Wieviel?«, fragt er noch einmal. Sie öffnet die Faust, um die Münzen zu zeigen, die sie umklammert hat. Wenn Laden-Onkel das Geld sieht, wird er ihr erzählen, dass sie hier nichts zu suchen hat. Billige Inderin hat er sie einmal genannt; ihr Gesicht glüht bei der Erinnerung.
Aber Laden-Onkel sagt nichts. Er tritt vom Tresen zurück und kommt mit einer Packung Zucker und einer Plastiktüte zurück. Er reißt die Packung oben auf und kippt den Zucker in die Plastiktüte, immer wieder inne haltend, um die Tüte in den Händen zu wiegen und einen Blick auf Jinis Münzen zu werfen. »Das reicht«, sagt er dann, nimmt Jini ein paar Münzen ab und lässt den Rest auf ihrer Handfläche liegen.
Sie öffnet den Mund, um sich zu bedanken, aber er winkt ab. »Du kannst wiederkommen und Sachen genauso kaufen«, sagt er. »Nächstes Mal bringst du eigene Tüte.« Jini nickt.
Sturmwolken beginnen sich jetzt am Himmel aufzutürmen, und ein greller Blitz weit hinter dem Kampong sorgt dafür, dass Kinder durch die Straßen laufen und »Elektrisch! Elektrisch!« rufen. Der Himmel hat die Farbe von Asche. Regentropfen treffen ihr Gesicht, zuerst sanft, dann härter, wie kleine Kugeln. Sie rennt zurück nach Hause, ohne aufzublicken, und knallt gegen Pra-ji, der am Tor steht.
»Sat sri akal«, sagt sie schnell und wie zur Entschuldigung. Er erwidert den Gruß und geht mit ihr ins Haus. Im Wohnzimmer sitzt Bilu auf dem Boden und weigert sich, irgendjemanden anzusehen. Sein Gesicht ist nass von Tränen.
»Er hat wieder versucht dir nachzulaufen«, sagt Bhabi-ji vorwurfsvoll. »Ich musste ihn am T-Shirt festhalten, und da ist es hinten gerissen. Er wird zu stark.«
»Zu stark?«, fragt Jini. Es gefällt ihr gar nicht, wie Bhabi-ji Dinge wie diese sagt. Sie scheint immer anzudeuten, dass sie mit Bilu nicht mehr fertigwerden, dass sie ihn wegschicken sollten. Sie bemerkt, wie Pra-ji sie forschend ansieht.
»Komm mit in die Küche und hilf mir beim Tee«, sagt Bhabi-ji.
»Eigentlich wollte ich mit Jini reden«, sagt Pra-ji. »Wenn du nichts dagegen hast?«
Bhabi-ji wirft Jini einen argwöhnischen Blick zu und sagt: »Natürlich nicht.« Dann verschwindet sie in der Küche, klappert aber laut mit Töpfen und Pfannen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.
»Mutter arbeitet heute in Bukit Timah. Möglicherweise hängt sie irgendwo fest, wegen des Regens«, sagt Jini zu Pra-ji. Er scheint nicht zuzuhören.
»Wie geht es dir, Jini?«, fragt er sie nach einem kurzen Schweigen.
»Gut«, sagt sie und ringt sich ein Lächeln ab.
»Du kommst in der Schule gut mit?«
Es tut ihr weh, das zuzugeben. Sie hat gute Noten, und sie ist die schnellste Läuferin. »Du kannst dir aussuchen, was du tun willst«, hat Mr Goh erst kürzlich zu ihr gesagt. Sie mochte ihm nicht antworten, dass er sich irrte.
»Ja, so einigermaßen«, sagt sie bescheiden und spielt mit ihren Daumen.
»Du bist eine schnelle Läuferin«, sagt er zu ihr. Sie löst ihre Hände voneinander und schaut schuldbewusst zu Boden.
»Sie haben mich gesehen?«, fragt sie. »Bitte …«
Pra-ji lacht. »Keine Sorge, Jini. Ich bin nicht hergekommen, um dich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich weiß, dass deine Mutter es nicht gutheißt.«
Jini fühlt sich, als würde sie gleich tot umfallen vor Verlegenheit. Pra-ji hat sie in ihren Laufshorts gesehen! »Sie weiß es nicht«, sagt Jini, und ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Pra-ji hebt eine Augenbraue. »Du bist also ungehorsam gegenüber deiner Mutter?«
Jini nickt. Vom Scheitel bis zur Sohle läuft sie rot an vor Scham. Ihre Haut brennt.
»Ich renne einfach wirklich gerne«, erklärt sie ihm leise. »Es sorgt dafür, dass ich mich besser fühle.«
»Du hast es sehr schwer«, sagt Pra-ji und nickt. »Ich verstehe.«
»Ich weiß, dass es nicht richtig ist, meine Mutter zu belügen«, sagt Jini »Aber bitte, sagen Sie ihr nichts!«
Bilu stößt ein kehliges Stöhnen aus, und beide erschrecken. Jini zieht ihn vom Boden hoch und setzt ihn auf den Stuhl, aber er lässt sich einfach wieder runtergleiten und kriecht unter dem Tisch herum.
»Ich werde ihr nichts sagen«, erwidert Pra-ji, während er weiter Bilu unter dem Tisch im Auge behält, der jetzt seinen Finger langsam über den Boden kreisen lässt. »Aber du musst trotzdem wissen, dass Gott uns straft, wenn wir unseren Eltern keinen Respekt erweisen. Als ich dich neulich nach der Schule gesehen habe, habe ich mir Sorgen gemacht und deshalb Guru-ji angefleht, barmherzig zu sein.« Sein Blick wandert von ihren Augen zu ihren Armen. Jini spürt, wie ihr Herz für einen Moment aussetzt, und ihre Kehle schnürt sich zusammen. Aber Pra-ji sieht nicht böse aus, nur besorgt. »Lass mich mal sehen«, sagt er.
Widerstrebend steift Jini die Ärmel hoch und zeigt Pra-ji die roten Stellen auf ihrer Haut. »An den Beinen habe ich das auch«, sagt sie. Sie hat Angst, in Tränen auszubrechen, und wenn Bhabi-ji mit dem Tee kommt, wird sie wissen wollen, was los ist.
»Es ist noch schlimmer, als ich dachte«, sagt Pra-ji. »Weißt du, was das ist?«
»Nein«, sagt Jini, obwohl sie es sich schon denken kann.
»So straft Gott dich, wenn du lügst und schmutzige Gedanken hast. Weißt du, was schmutzige Gedanken sind, Jini?«
Sie muss darüber nachdenken. Die Wut, die sie anfangs auf ihren Vater hatte, hat sich gelegt, aber als sie jetzt an ihn denkt, lodert sie wieder auf. Das Bild ihres Vaters, wie er tot irgendwo herumliegt, ist der schmutzigste Gedanke, den sie je gehabt hat. Sie nickt widerstrebend, und ihr Gesicht glüht vor Scham.
Pra-ji schließt die Augen und drückt mit der Hand ihren Kopf nach unten, wie es Gott immer zu tun scheint, auf dem Porträt, das an ihrer Wohnzimmerwand hängt. Sie sieht Ihn dort so oft, dass sie Ihn kaum noch bemerkt, und neuerdings, bei all ihren schrecklichen Gedanken und Lügen, hat sie angefangen, Ihn ganz und gar zu ignorieren. »Du musst dich ändern oder deine Haut wird schlimmer werden. Für jeden unreinen Gedanken, den du hast, wird Gott dir unreine Haut schicken. Hast du von meinem Dienstmädchen gehört, Rani? Weißt du, was sie getan hat?«
Jini nickt. Es sind unzählige Geschichten über Rani im Umlauf. Ihre Eltern haben sie verstoßen, als herauskam, dass sie mit ihrem malaiischen Freund durchbrennen wollte. Sie hatte ihnen dreist erklärt, dass sie zum Islam übertreten und den Jungen heiraten wolle, um von ihnen wegzukommen. Sie haben sie verprügelt und sie aus dem Haus gejagt. Pra-ji hatte versucht zu vermitteln, aber die Eltern wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, und so hat er sie als Dienstmädchen zu sich genommen.
»Sie konnte früher problemlos gehen. Dann, kurz nachdem sie zu mir geschickt worden war, klagte sie, dass mit ihrem Fuß etwas nicht stimmte. Etwas Unerklärliches – sie hatte Schmerzen in den Beinen und nach einer Weile wurde ihr linker Fuß lahm. Sie wollte zu einem Arzt gehen, aber ich fragte sie: ›Wozu soll das gut sein?‹ Das hier war Gottes Werk, da war ich sicher. Ich habe mit ihr gesprochen und fand heraus, dass sie noch immer Kontakt zu diesem Malaien hatte. Beim Einkaufen schaute sie immer kurz bei ihm vorbei. Ich habe sie zurechtgewiesen und ihr erklärt, es sei doch offensichtlich, dass Gott sie strafe. Er wollte, dass sie aufhörte, sich herumzutreiben. Bei dir macht Gott dasselbe, Jini. Er benutzt Krankheit und Deformierungen, um uns eine Lehre zu erteilen.«
Jini schaut auf Bilu hinunter. Das kann doch ganz bestimmt nicht ganz richtig sein! Was sollte Bilu denn getan haben, um das zu verdienen? Pra-ji scheint den Zweifel in ihren Augen zu lesen.
»Wenn du willst, kannst du zu einem Arzt gehen. Er wird dir Medizin geben und dafür sorgen, dass alles für eine Weile verschwindet. Aber Gott wird sich auf andere Weise offenbaren. Du musst dich ändern.«
Sie war noch nie auf die Idee gekommen, zu einem Arzt zu gehen. Wenn sie erkältet ist, sagt sie das nicht einmal ihrer Mutter, denn sie weiß schon, wie die reagieren wird. »Was soll ich denn machen?« Das würde jede Mutter im Viertel sagen. Wegen einer Erkältung zum Arzt zu gehen, wäre rausgeschmissenes Geld, mit dem man Lebensmittel kaufen oder die Stromrechnung bezahlen könnte. Einmal, als sie noch sehr klein war, hat sie so schrecklich gehustet, dass sie dachte, ihre Lunge würde bersten. Ihre Mutter hat ihr heißen Tee eingeflößt und ihr die Brust mit Minzöl eingerieben, bis sie einschlief. Das sind die einzigen Heilmittel, die sie zu Hause haben. Ein weiteres Heilmittel, das noch weniger kostet, ist der Glaube.
Bhabi-ji kommt mit einem Tablett mit Teetassen und frittierten Pakoras aus der Küche. Jini fragt sich, woher sie die Pakora-Mischung hat, denn als sie zuletzt in der Küche war, waren die Schränke leer. Sie schaut aus dem Fenster. Ihre Mutter sitzt jetzt wohl irgendwo in jemandes Haus fest und betet dafür, dass der Regen bald aufhört. Sie hasst es, irgendwen – besonders Pra-ji – warten zu lassen.
Als Jini an diesem Abend im Bett sitzt, zwingt sie sich dazu, nicht mehr an ihren Vater zu denken. Sie legt sich einen Text für Mr Goh zurecht, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht mehr rennen kann, weil sie ihrer Mutter gehorchen muss. Sie gelobt sogar, ihrer Schwägerin mehr zu helfen, sich nicht mehr über die Küchenarbeit zu beklagen, in der Schule weniger aufzupassen und ihr Schicksal hinzunehmen. In wenigen Jahren wird sie arbeiten, und sie wird verheiratet werden. Dann wird Gott wieder mit ihr zufrieden sein, weil sie alles richtig gemacht hat.
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Ihre Mutter hat den Nachmittag frei und nutzt das, um sich zu Hause auszuruhen, ehe sie am Abend in den Tempel geht. Bhabi-ji ist draußen im Hof und hängt Wäsche zum Trocknen auf. Das grelle Sonnenlicht macht alle Konturen schärfer. Jini kann kaum nach draußen schauen, ohne die Augen gegen die Sonne abzuschirmen. Sie sehnt sich nach der Erleichterung, die Regen und kühle Luft mit sich bringen. Stimmungen ändern sich mit dem Wetter und schwächen sich ab. Die streunenden Hunde draußen hören auf mit ihrem lauten Gebell und liegen in den gemusterten Schatten der Bäume. Der Nachbarschaftsklatsch wird weniger boshaft. Gerade jetzt kann sie hören, wie ihre Schwägerin mit den Nachbarinnen Geheimnisse austauscht.
»Und ich habe gehört, dass sie ihn jetzt doch heiratet.«
»Ihre Eltern sind einverstanden?«
»Anfangs nicht, aber jetzt haben sie sich damit abgefunden.«
»Habt ihr das von Manmohan Singhs Sohn gehört? Der hat ein Motorrad.«
»Wirklich?«
»Fährt überall damit herum, als wäre er der König der Welt. Eines Tages wird er einen Unfall bauen, und dann wird er’s schon begreifen.«
»Kinder hören nie zu.«
»Da sagst du was Wahres.«
Jini hat das Gefühl, dass ihre Schwägerin sie meint, wenn sie sagt, dass Kinder niemals zuhören. Ihre Mutter kann das auch hören. Sie sind beide in der Küche. Jini ist inzwischen eine Expertin darin, aus dem Weizenmehl einen dicken Teigklumpen zu machen.
»Ich sollte dir beibringen, wie man ihn zu einem flachen Fladen ausrollt. Das kannst du immer noch nicht«, sagt ihre Mutter. Sie streut etwas Mehl auf die Arbeitsfläche, dann nimmt sie sich einen kleinen Teigball. Mit dem Handballen drückt sie ihn platt, um ihn dann mit der flachen Hand zu glätten. Jini sucht im Schrank nach der Teigrolle und reicht sie ihrer Mutter.
»Das ist wichtig«, sagt ihre Mutter. »Passt du auch auf? Das ist nicht so einfach, wie es aussieht. Du rollst ihn aus, aber dabei müssen deine Handgelenke locker sein und du darfst die Griffe nicht zu fest packen.«
Jini nimmt ihr die Teigrolle ab und presst sie auf den Teig. Der Teig bleibt an der Rolle kleben. Sie zupft ihn herunter und macht noch einen Versuch. Er bleibt wieder kleben, und diesmal fährt sie einfach weiter mit der Teigrolle vor und zurück. Als sie fertig ist, hat das, was auf der Arbeitsfläche vor ihr liegt, kaum Ähnlichkeiten mit einem Roti-Fladen. Es ist weder kreisförmig noch oval und an einigen Stellen ist der Rand viel dünner als an anderen.
»Ich kann das nicht«, sagt sie schlicht.
»Dann versuch es nochmal«, sagt ihre Mutter und macht aus dem Teig wieder eine Kugel. Wie leicht er seine ursprüngliche Form annimmt, als ob er niemals eine andere gehabt hätte.
Jini ist sich der Narben auf ihren Armen bewusst, als sie den Teig wieder und wieder ausrollt, in dem Versuch, ein zufriedenstellendes Roti herzustellen. Zum Glück hat sie lange Ärmel und auf ihren Händen sind weniger Narben, die zudem als Kratzer durchgehen können. »Das war Bilu«, erzählt sie ihrer Mutter. »Er hat mich gekratzt.« Das ist nicht ganz falsch. Bilu war in letzter Zeit sehr oft wütend und hat damit gedroht, alle zu beißen und zu kratzen, die in seine Nähe kommen.
»Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll«, sagt ihre Mutter kopfschüttelnd. »Er isst kaum noch.«
»Ich meine, du solltest es mit Zucker versuchen«, erwidert Jini. »Er mag es, wenn ich Zucker auf sein Essen streue.«
»Zucker ist nicht gut«, sagt ihre Mutter. »Er muss anfangen, wie andere Kinder zu essen.« Sie nimmt Jini die Teigrolle ab. »Du machst das nicht richtig«, schimpft sie. »Sieh dir bloß dein Roti an. Platt in der Mitte, dick an den Rändern. Versuch’s nochmal!«
Jini weiß, dass sie hundert Versuche machen kann und es doch nicht kapieren wird. Normalerweise würde sie einen Vorwand finden, um die Küche zu verlassen, aber sie bemüht sich ja in letzter Zeit, brav zu sein, und bisher klappt es auch. Die Narben sind verblasst. Gestern Abend sind sie wieder röter geworden, aber sie hat beschlossen, dass die Schwüle daran schuld war und der Schweiß ihre Haut gereizt hat. Sie findet jetzt Gründe für alles, was ihre Haut macht. Wenn die Pusteln weniger werden, lobt sie sich, weil sie an diesem Tag nur gute Taten getan und nur reine Gedanken gehabt hat. Wenn sie trotz ihrer guten Vorsätze verrücktspielen, schiebt sie das auf das Wetter oder die Moskitos oder durchforstet ihr Gewissen nach möglichen bösen Gedanken, die sich dort verstecken könnten. Und immer findet sie etwas.
Ihre genervte Mutter nimmt ihr die Teigrolle schließlich weg und schickt sie auf den Hof, um ihrer Schwägerin mit der Wäsche zu helfen. »Ich mach das hier fertig«, sagt sie. »Und dann muss ich Bilu baden.« Bilu ist draußen im Hof und spielt im Dreck. Jini hat so ein Gefühl, dass es ihre Mutter heute nicht leicht haben wird. Er fühlt sich viel zu wohl, um freiwillig mit ins Haus zu kommen.
Sie ist gerade dabei, stumm die Wäscheklammern am Ende der Wäscheleine zu befestigen, so weit von ihrer Schwägerin entfernt, wie nur möglich, als sie hört, wie jemand hinter dem Zaun ihren Namen ruft.
»Jini, pst, Jini!« Sie fährt herum und sieht den Jungen mit den Locken durch den Zaun lugen und ihr zuwinken. Sie schaut sich um. Bhabi-ji ist ins Gespräch mit den Nachbarinnen vertieft. Sie kann ihre Mutter durch das Küchenfenster sehen, aber die scheint mit Kochen beschäftigt zu sein.
»Was willst du?«, fragt sie den Jungen.
»Wie kommt es, dass ich dich nie mehr rennen sehe?«
»Ich kann nicht rennen«, sagt sie.
»Und wie du das kannst.«
»Nein, ich meine, meine Mutter lässt mich nicht.«
»Oh«, sagt der Junge finster. Er sieht aus, als suche er nach einer Lösung, aber nach einer Weile gibt er auf. Jini verspürt einen Stich. Für einen Moment hatte sie gehofft, dass er etwas Ermutigendes auf Lager hätte. Dann hellt sich seine Miene auf.
»Will’ste ’nen Zaubertrick sehen?«, fragt er sie. »Ich kenne ganz schön viele.« Er holt eine Münze hinter ihrem Ohr hervor, aber sie hat das Geldstück schon die ganze Zeit in seinem Ärmel gesehen. Er ballt die Hände zu festen Fäusten und fordert sie auf zu raten, in welcher er die Münze hat. Sie tippt beide Male falsch, weil in keiner Faust das Geldstück ist.
»Der ist wirklich ganz gut«, sagt sie. Dann sieht sie ihre Mutter auf den Hof kommen. »Ich muss los«, sagt sie plötzlich, rennt zurück in die Küche und beginnt sich im Spülbecken die Hände zu waschen, die Stellen zwischen ihren Fingern zu schrubben. Das ist ein Ritual, das sie sich zurechtgelegt hat für jedes Mal, wenn sie bei einer Handlung erwischt werden könnte, die ihre Mutter, Pra-ji oder Gott vielleicht nicht gutheißen würden. Ihre Mutter kommt in die Küche. »Jini«, sagt sie streng und dreht den Hahn zu. »Mit wem hast du da geredet?«
»Mit einem aus der Schule. Einem Klassenkameraden. Er wollte etwas wegen Mathe fragen.«
»Das ist keiner, mit dem du reden solltest«, sagt ihre Mutter. Jini wird klar, dass ihre Mutter zu müde ist, um böse zu werden. Sie lässt sich auf einen Stuhl sinken.
»Warum? Was hat er angestellt?«, fragt Jini.
»Er hat nichts angestellt, aber seine Familie … die sind anders als wir. Eine niedrigere Kaste. Sie haben dunklere Haut, und sie sind nicht besonders religiös«, sagt ihre Mutter. Es stimmt also, was er ihr über den Tempel erzählt hat. »Wir sind Jat. Sie nicht. Als Pra-ji nach einer Braut für Sarjit Ausschau gehalten hat, hatte er ein hübsches Mädchen aus dieser Kaste im Auge, aber ich habe nein gesagt. Ich will lieber ein fettes Mädchen aus der richtigen Kaste als ein hübsches von denen.«
Ihre Mutter kann es ihr vom Gesicht ablesen. »Ich weiß, du findest das unsinnig«, sagt sie leise. »Aber wir haben so wenig, Jini. Wir sind mit fast nichts hergekommen, und zwanzig Jahre später haben wir noch weniger. Wer wir sind, ist alles, was wir haben.« Sie geht hinaus in den Hinterhof, um Bilu zu holen, dessen Gesicht und Glieder schmutzverkrustet sind. Er beginnt zu zappeln und öffnet den Mund, um zu schreien.
Jini war noch nie so sicher, dass ihre Mutter sich irrt. Sie kommt vielleicht aus einer höheren Kaste, aber das kann doch nicht alles sein, was sie ist. Jini dreht den Hahn auf und fängt wieder an, sich die Hände zu waschen.
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Sie stehen im Tempel auf dem Hof und die Leute drängen sich mit ihren Fragen um Pra-ji. Jini erkennt den Vater des Jungen, der das Motorrad gekauft hat, der Junge, über den ihre Schwägerin getratscht hat. »Können Sie mit Guru-ji sprechen und Ihn bitten, meinen Sohn damit aufhören zu lassen?«, bittet der Mann. Pra-ji nickt und sagt, ja, das könne er. Er kann alles, und deshalb wollen die Menschen nicht weggehen. Selbst, nachdem ihre Fragen beantwortet wurden, bleiben sie auf dem Hof, bis drinnen das Essen serviert wird. Jini und ihre Mutter stehen unter ihnen und warten darauf, dass er sich ihnen zuwendet. Jini hört, wie die Frauen um sie herum sich darüber unterhalten, was sie durch Pra-ji alles erreicht haben.
»Mein Sohn hatte einen Asthma-Anfall. Er röchelte die ganze Nacht hindurch, und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich habe Pra-ji um Hilfe gebeten und er hat mit Guru-ji gesprochen. Und jetzt seht euch meinen Sohn an – er strotzt nur so vor Gesundheit!«
»Ich hatte neulich Geldsorgen, weil unser Dach undicht war und wir nicht genug Geld hatten, um jemanden zu bezahlen, der es reparierte. Das habe ich Pra-ji erzählt, und wenige Tage darauf bekam mein Mann eine kleine Lohnerhöhung, gerade genug, um das Dach zu flicken.«
Jinis Mutter harrt immer aus, bis die anderen weg sind und sie als Letzte noch darauf wartet, mit Pra-ji zu sprechen. Er lächelt und nickt ihr zu, dann begrüßt er die beiden mit gefalteten Händen. »Hallo, Jini«, sagt er und drückt ihren Kopf nach unten. Sie merkt, dass er sie wieder von Kopf bis Fuß mustert, vermutlich will er sehen, ob sie noch Pusteln hat. »Wie geht es dir?«
»Gut, danke«, sagt sie.
»Pra-ji, mein Sohn isst nicht.«
»Sarjit? Oder Bilu?«
»Ach nein, Sarjit hat einen guten Appetit. Bilu. Er verweigert das Tempelessen, und wir müssen alles für ihn zu Hause kochen und Zucker reingeben. Aber jetzt verweigert er sogar das. Was soll ich nur machen?«
»Lass mich mit Guru-ji sprechen, und dann reden wir weiter«, sagt er mit seiner ruhigen Stimme. »Ich bin sicher, Er wird uns leiten.«
Jinis Gedanken machen sich selbständig. Sie betrachtet die Kuppel des Tempels, die vom flirrenden Sonnenlicht beleuchtet wird. Es sieht beinahe majestätisch aus. Überall auf dem Boden verstreut liegen Schuhe herum, und Kinder spielen im sonnenverbrannten Gras »Wie spät ist es, Mr Wolf?«. Eine weitere Gruppe Kinder kauert um einen kleinen Busch mit roten, sternförmigen Blüten. An den Stempeln dieser Blüten hängt ein winziger Tropfen Nektar, und die Kinder rupfen sie grob ab. Die kratzigen Stoffe ihrer Punjabi-Kleidung wogen und wehen hinter ihnen her, als sie herumwirbeln, dann wild durcheinander schreiend losrennen und herumbalgen. Manchmal wünscht Jini, sie könnte sich beeilen mit dem Älterwerden, weil sie jetzt in einem Alter feststeckt, wo Spiele wie »Mr Wolf« zu kindisch für sie sind, während sie sowas wie Kochen noch nicht hinkriegt, und sie immer noch zu jung ist, um mit Jungen zu reden. Ihre Mutter und Pra-ji sprechen jetzt mit gedämpften Stimmen.
Dann sieht Jini sie, ein Mädchen in einem schlichten, blauen Punjabi-Gewand, mit einem Salwar, der ihr vielleicht zu klein ist, denn Jini kann ihre Knöchel darunter hervorragen sehen. Irgendwas an ihr ist komisch, das Jini zuerst nicht erfasst, aber dann geht ihr auf, dass es ihr Gang ist. Sie hinkt, sie zieht einen Fuß hinterher, als sie den Hof in Richtung Straße überquert. An ihren Händen hängen Plastiktüten mit Lebensmitteln. Eine Frau in der Nähe sagt zu einer anderen, dass dieses Mädchen ja ganz schön Nerven habe, sich in den Tempel zu wagen und ihr Essen zu verzehren. »Nach dem, was sie mit diesem Malaien getrieben hat.« Jini wird klar, dass dies das Mädchen ist, von dem Pra-ji ihr erzählt hat. Bilder schießen ihr durch den Kopf, was das Mädchen wohl getan hat, um diesen lahmen Fuß zu verdienen. Sie stellt sich vor, wie sie aus ihrem Fenster klettert und zu dem Jungen rennt, der nur ein Schatten auf dem dunklen Hof ist, um ihn leidenschaftlich zu küssen.
Sofort muss Jini wieder an ihre Pusteln denken, und sie beginnt an einer an ihrem Schienbein zu kratzen. Die hat wütend angefangen zu brennen angesichts ihrer Vorstellung, und sie versucht sie zu beruhigen, aber je mehr sie kratzt, desto schlimmer juckt es. Sie reißt ihren Blick von dem Mädchen los, das jetzt die Straße hinaufhumpelt, während ihr die Plastiktüten gegen die Beine schlagen. Jini schaut sich zu ihrer Mutter um, die gerade ihren Geldbeutel hervorzieht und Pra-ji zwei neue Zehn-Dollar-Scheine in die Hände drückt.
»Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen«, sagt sie zu ihm. Er nickt und steckt das Geld schweigend in seine Tasche. »Komm, Jini. Lass uns essen gehen«, sagt die Mutter. Jini dreht sich um, um ihr zu folgen, und denkt dabei über das Geld nach. Sie weiß, dass Pra-ji manchmal von den Leuten Gebühren nimmt, vor allem jetzt, wo so viele ihn um Hilfe bitten, aber er verspricht immer, das meiste Geld dem Tempel zu spenden. Zwanzig Dollar sind zu viel für nur ein Anliegen; das weiß sogar Jini.
Als sie weggeht, tippt Pra-ji sie leicht am Ellbogen an. »Was macht deine Haut?«, fragt er.
»Alles in Ordnung«, lügt sie. Seine Augen wandern zu ihrem Schienbein hinunter. Er muss gesehen haben, wie sie sich gekratzt hat, als er mit ihrer Mutter gesprochen hat.
»Ich kann dir helfen«, sagt er. Sie würde seine Hilfe annehmen, wenn sie das Geld dafür hätte, aber das kann sie sich nicht leisten, deshalb sagt sie: »Nein, danke.«
»Na gut, aber komm zu mir, wenn du dir die Sache anders überlegst.«
»Ich will nicht, dass alle es erfahren«, sagt Jini und denkt daran, wie die Frauen eben erst über dieses Mädchen hergezogen sind.
»Sie werden es nicht erfahren, ich sage kein Wort, Jini. Du bist wie eine Tochter für mich. Wir können uns bei mir zu Hause unterhalten. Ich kann mit Guru-ji sprechen, während du dabei bist, und wir können dich heilen.«
Jini nickt und starrt auf den Boden. Sie sieht, wie ihre Mutter sich die Füße an der Matte abwischt und langsam den Speisesaal betritt, und plötzlich wird sie vom Kummer überwältigt. »Okay«, sagt sie zu Pra-ji. »Dann komme ich in den nächsten Tagen zu Ihnen.«
Er verzieht die Lippen zu einem Lächeln und tätschelt ihr den Kopf. »Braves Mädchen«, sagt er sanft. Sie lässt ihn ihre Haare berühren, seine Handfläche auf ihren Kopf drücken, dann geht sie zu ihrer Mutter in die Halle. Beim Essen kann sie die Speisen kaum schmecken. Vielleicht hat sie sich zu sehr an den Zucker gewöhnt, den sie zu Hause auf alles streut. Oder vielleicht ist sie zu aufgeregt wegen der Vorstellung, ein für alle Mal geheilt zu werden. Aber als sie weiter isst, geht ihr auf, was ihre Geschmacksnerven betäubt, was es ihr unmöglich macht, Gottes Speisen zu genießen. Sie denkt an das humpelnde Mädchen und stellt sich vor, wie lang der Weg zurück vom Tempel sich anfühlen muss mit dem Gewicht dieses Fußes, den sie langsam hinter sich herschleift.