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1991

Mas Gesicht war nass von Tränen, als sie ihre Geschichte beendet hatte. »Als die Leute anfingen zu fragen, wo meine Mutter und ich gewesen waren, als Bilu starb, musste ich sagen, dass ich bei Pra-ji zu Hause gewesen war. Aber der stritt alles ab. Er sagte, ich sei niemals dort gewesen. Er hatte Angst, ich würde den Leuten erzählen, was er getan hatte, also tat er einfach so, als ob es nie passiert wäre. Danach ging es los mit den Gerüchten.«

»Was für Gerüchte?«, fragte ich.

»Sie meinten, ich sei wohl in der Stadt gewesen, um mich mit Männern zu treffen, weil ich ja nicht beweisen konnte, wo ich wirklich gewesen war. Pra-ji schürte die Gerüchte noch, da bin ich mir sicher. Wenn er die anderen davon überzeugen könnte, dass ich so eine wäre, würde sich niemand meine Version der Geschichte anhören.«

Mir fiel das Dienstmädchen ein. »Glaubst du, dass es das war, was Rani passiert war?«

Ma nickte. »Deshalb wollte sie wissen, wo meine Mutter war. Ich dachte, sie sei bloß neugierig, aber sie versuchte nur, mich zu warnen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was sie bei dieser Bestie für ein Leben hatte.« Sie schauderte. Ma fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen. Die Tränen hinterließen eine glitzernde Spur auf ihrer Haut. »Dein Tantchen meint, ich hätte es nicht verdient, meinen Schmuck zurückzubekommen, wegen dem, was an diesem Tag passiert ist. Sie sagt, mein Fehlverhalten habe ihnen alles genommen, und Nani-ji habe mir den Schmuck ohnehin nur geliehen.«

Wir saßen lange schweigend da. Ma reckte den Hals, um draußen auf die Uhr zu gucken, und sprang auf, als ihr aufging, dass es Zeit wurde, mit dem Kochen anzufangen. Sie schritt eine Minute lang in der Küche auf und ab, bevor sie den Kühlschrank öffnete. Die Details ihrer Geschichte begannen sich vor mir abzuspulen. Ich konnte sie jetzt vor mir sehen, wie sie gewesen war, mit 15, verängstigt und verwirrt. Ich dachte daran, wie sie kaum mehr hatte sprechen können vor Wut, als wir damals den Tempel verlassen hatten. Sie konnte Fettes Tantchen einfach nicht damit davonkommen lassen, dass sie sich ihren Schmuck genommen hatte. Es musste einen Weg geben, um ihn zurückzuholen.

»Vielleicht hört Fettes Tantchen sich deine Version der Geschichte doch noch an, wenn du sie an einem guten Tag erwischst«, schlug ich vor.

Ma schüttelte den Kopf. »In all den Jahren, die ich dein Fettes Tantchen nun kenne, habe ich nie erlebt, dass sie einen guten Tag gehabt hätte. Ich glaube nicht, dass sie die Kapazität hat, großzügig zu sein.« Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Ma brachte mich zum Schweigen. »Das reicht, Pin«, sagte sie streng, und ich musste das Thema fallen lassen. Ich sah sehr genau hin, als sie die Zutaten für das Abendessen herausholte. Anis, Kardamom und rotes Chilipulver, Fleisch und Kartoffeln, Reis und knackige grüne Bohnen. Ma grübelte immer noch. Sie konnte nicht so leicht vergessen.

•   •   •

Das Chinesische Neujahrsfest war in zwei Wochen, und die Stadt war voller roter Lichter. Riesige Lampions hingen an den Straßenlaternen und Stoffdrachen tanzten, wenn die sanfte Februarbrise ihnen durch die Rippen wehte. Daddy und ich setzten uns am Samstagmorgen vor die Verkaufsbuden, um das Viertel zu zeichnen, aber ich schaffte es nicht. Um Singapur während des Chinesischen Neujahrsfestes zu zeichnen, brauchte man Rot, Pink und Gold. Man musste die Musik einbeziehen – ganz hohe Töne, begleitet von scheppernden Becken und hallenden Trommeln –, die aus den Gemischtwarenläden am Weg gegenüber den Ständen dudelte.

»Ich kann das nicht«, sagte ich zu Daddy und schob ihm mein Papier wieder hin. Er war zu vertieft, um aufzuschauen. Er hielt nichts von Farben beim Zeichnen und behauptete, alles, was er an Farben brauchte, seien die Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau.

»Fertig«, sagte er. »Schön?«

Ich nickte, obwohl das Bild auf mich ein bisschen trist wirkte. Er hatte den Block auf der anderen Straßenseite gezeichnet, wo Lampions in unterschiedlichen Formen und Größen in den Gängen baumelten. »Du kannst es behalten und ausmalen, wenn du willst«, sagte er.

»Danke«, murmelte ich und faltete die Zeichnung zusammen.

»Dich beschäftigt etwas«, bemerkte Daddy. »Erzählen?«

»Nichts«, sagte ich.

»Bist du von weiteren Geistern belästigt worden?«

»Nein.« Die Gestalt am Fenster war nicht wieder aufgetaucht, und ich war inzwischen davon überzeugt, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Nachts schaukelten die Lampions auf unserem Gang manchmal im Wind und warfen seltsame Schatten an die gegenüberliegenden Wände.

»Wie läuft’s in der Schule?«, fragte Daddy.

»Geht schon.«

»Mrs Paraswati, richtig?«

»Parasuram.«

»Ist sie eine gute Lehrerin?«

Ich zog eine Grimasse. »Sie gibt zu viele Hausaufgaben auf«, klagte ich.

»Alle Lehrer geben zu viele Hausaufgaben auf. Aber das ist besser für euch. Denk doch mal dran, wie schlau du am Ende des Schuljahrs sein wirst. Noch viel schlauer als die Mädchen in den anderen Klassen, die nicht Mrs Parasurna haben.«

»Parasuram!« Ich war genervt. Daddy hatte ein grauenhaftes Namensgedächtnis.

»Hab ich doch gesagt.«

»Ich habe in der Schule eine neue Freundin, Kristen. Ihr Geburtstag fällt in diesem Jahr auf das Chinesische Neujahrsfest, und sie hat mir erzählt, dass sie eine Party macht. Sie ist gerade aus Amerika hergezogen.«

»Das ist ja nett«, sagte Daddy. »Da wollte ich schon immer mal hin. Wenn ich im Lotto gewinne, fahren wir.«

»Falls du gewinnst«, korrigierte ich ihn. Du weißt nicht, ob das jemals passiert.«

»Wenn!«, sagte Daddy energisch. Er fing wieder an zu zeichnen und drückte dabei seinen Bleistift fest aufs Papier. Am Nebentisch saß ein kleiner Junge mit seiner Mutter, die ihn mit Löffeln voller Reisbrei fütterte. Er klatschte in die Hände, zappelte herum und drehte manchmal den Kopf weg, wenn seine Mutter versuchte, ihm den Löffel in den Mund zu stecken. Sein ganzes Gesicht und der Kragen seines T-Shirts waren voller Brei. Daddy versuchte, ihn zu zeichnen. Seine kühnen Striche passten nicht so recht zu dem schmalen, glatthaarigen Kopf des Jungen und seiner kleinen Nase, den Äuglein und dem Mündchen. Aber es war noch früh am Tag, und da war Daddy immer besonders selbstbewusst. Ich beschloss, ihn nicht weiter zu korrigieren.

Kristen verteilte ihre Einladungen am folgenden Montag. Das Geschnatter in unserem Klassenzimmer war so laut, dass Mrs Parasuram damit drohen musste, uns Punkte von unserem wöchentlichen Diktat abzuziehen, damit wir uns beruhigten. Niemand wollte bei einem Diktat schlecht abschneiden. In dieser Woche kamen Wörter wie Pandämonium und Usurpator dran. Elaine Lee und ich hatten uns gegenseitig im Bus abgefragt, bis ich sicher war, dass sogar Tantchen Honey die Wörter auswendig konnte, obwohl ihr Englisch bei Weitem nicht ausreichend war.

Kristen schrieb mir eine Notiz auf den Rand ihres Naturkundehefts. »Denk dran, Rot zu tragen!« Ich antwortete mit einem kurzen, lässigen Nicken, aber meine Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte ich überhaupt etwas Rotes? Ich hatte rosa Kleider, aber die waren alle entweder zu kindlich oder nicht elegant genug für eine Party.

In der Pause versammelte sich eine Gruppe von Mädchen um unseren Tisch, um über die Party zu reden. Als Farizah aufstand, um sich etwas zu trinken zu holen, folgte Kristen ihr mit den Augen. Sie wartete, bis Farizah außer Hörweite war, dann erzählte sie den anderen Mädchen, sie fände es toll, wenn wir alle ähnliche Cheongsams tragen könnten. »Es müssen nicht alle genau die gleichen sein«, sagte sie großzügig. »Aber meine Mom sagt, wir würden auf einem Foto richtig hübsch zusammen aussehen, wenn wir alle kurze, rote Cheongsams mit schwarzen Schuhen tragen würden.«

Jetzt sah ich zu Farizah hinüber, die sich am Getränkestand angestellt hatte. Alle Mädchen aus der Klasse waren eingeladen worden, sie auch. »Ich glaube nicht, dass Farizah ein kurzes Kleid anziehen darf.«

»Aber Sofia Rahman ist auch Muslimin, und sie sagt, dass sie es tun wird«, sagte Kristen.

»Schon, aber Farizah ist … anders. Sie wird vermutlich einen langen Rock oder eine Hose tragen.«

»Dann hätte ich sie vielleicht nicht einladen sollen«, sagte Kristen. Ich sah die anderen Mädchen an, um Unterstützung zu bekommen, aber die feixten ebenfalls. Nicht viele verstanden Farizah, und noch weniger mochten überhaupt erst den Versuch machen.

»Sie kommt wahrscheinlich sowieso nicht«, sagte ich eilig. »Sie isst nicht von Tellern, die mit Schweinefleisch in Berührung gekommen sind.« Das stimmte. In der dritten Klasse hatte Alison Chu zu Hause ihren Geburtstag gefeiert und die ganze Klasse eingeladen. Kartoffelcurrypuffs, Erdnusspfannkuchen und Keropok waren alle auf den besten Porzellanplatten serviert worden, die Alisons Mutter hatte. Farizah hatte sich geweigert, irgendetwas zu essen. Sie hatte gesagt, es sei bei ihnen eine Sünde, von einem Teller zu essen, der jemals mit Schweinefleisch in Berührung gekommen sei. Es waren noch zwei andere Musliminnen auf dem Fest gewesen, und sie hatten gesagt, dass es in Ordnung sei. »Das Essen ist halal«, hatten sie ihr versichert. »Es spielt keine Rolle, ob der Teller mit Schweinefleisch in Berührung gekommen ist, so lange das Essen selbst nicht damit in Berührung gekommen ist.« Farizah hatte sich stumm geweigert.

»Das ist ja schräg«, sagte Kristen. Sie zog eine fiese Grimasse, die die anderen Mädchen zum Lachen brachte. Ich stimmte ein; mein Lachen klang gezwungen und ich spürte die Blicke der anderen auf mir, die testen wollten, ob ich auf ihrer Seite war oder nicht. Farizah war ohnehin nicht in der Nähe. Ich beschloss, dass sie manchmal wirklich schräg war, und sofort fiel mir das Lachen leichter.

»Aber du kommst doch auf jeden Fall zu meiner Party?«, fragte Kristen mich später, als wir uns anstellten, um zurück ins Klassenzimmer zu gehen.

»Auf jeden Fall«, sagte ich und schenkte ihr mein überzeugendstes Lächeln. Ich wollte nicht anders aussehen als die anderen Mädchen und riskieren, dass hinter meinem Rücken über mich gelästert wurde, aber ein roter Cheongsam würde teuer sein, vor allem jetzt, wo alle Welt in Singapur damit beschäftigt war, sich für das Neujahrsfest einzudecken. Ma würde es auf jeden Fall für Geldverschwendung halten, extra für eine Party ein Kleid zu kaufen – das wusste ich, da musste ich sie gar nicht erst fragen. Daddy würde vermutlich dasselbe sagen, bloß auf nettere Weise.

Bei der Morgenversammlung ein paar Tage später hielt Mrs D’Souza wieder eine Rede über Gott und Geld. »Während der Chinesischen Neujahrsfeiern bekommen wir rote Päckchen von unseren Verwandten und hoffen, dass sie viel Geld enthalten. Gott will, dass ihr reich werdet, nicht nur in euren Brieftaschen, sondern auch in euren Herzen. Wenn ihr dankbar seid für eure Geschenke, werdet ihr sie Gott darbringen. Im Gegenzug wird er eure Gaben wachsen lassen.« Das war das Stichwort für die Schulpräfektinnen, rote Umschläge zu verteilen. Mit ihren goldenen Ornamenten und den Bildern von zarten Zweigen mit rosa Blättern und prallen Apfelsinen, die von ihnen herunterhingen, hatten sie große Ähnlichkeit mit den chinesischen Neujahrspäckchen. Aber direkt neben der Lasche prangte in goldenen Lettern der Name unserer Schule.

Die Lippen noch immer zu einem angestrengten Lächeln gespreizt, erklärte Mrs D’Cruz, die Schule baue dort, wo das alte Kunstgebäude gestanden hatte, eine neue Kapelle. Bei der Errichtung dieser neuen Kapelle sei man aber von Spenden abhängig, dann nannte sie die Namen einiger Eltern, die bereits dicke Schecks ausgestellt hatten. »Wir erwarten nicht, dass ihr hohe Summen spendet, aber überlegt euch, ob ihr nicht einen Teil eures Taschengeldes für den guten Zweck dazugeben wollt. Denkt doch nur daran, wie zufrieden Gott dann mit euch sein wird.« Um mich herum wechselten all die anderen Mädchen Blicke und zogen ihre Geldbeutel hervor. Ich tastete nach einem dünnen Zwei-Dollar-Schein in meiner Tasche und wusste, wenn ich den opferte, würde ich nicht mehr genug Geld haben, um mir für den verbleibenden Tag etwas zu essen zu kaufen.

»Gibst du nichts?«, fragte mich Kristen. Sie steckte einen grünen Fünf-Dollar-Schein in den Umschlag und klebte ihn zu.

»Ich hab heute mein Geld vergessen«, log ich. Und dann hatte ich eine Erleuchtung. Mrs D’Cruz’ ganzes Gerede über Gott, der unser Geld wachsen ließ, hatte mich auf eine Idee gebracht.

Nach der Morgenversammlung gingen wir in unser Klassenzimmer zurück, und in der ersten Stunde stand Sozialkunde auf dem Plan. Mrs Parasuram machte weiter mit ihrem langweiligen Vortag über Sir Stamford Raffles. Sie ließ ein Bild seines weißen Standbildes in der Innenstadt herumgehen. Breitbeinig, mit verschränkten Armen und gerecktem Kinn, stand er da, als ob er versuchte, die gesamte Insel in Beschlag zu nehmen. Ich hob die Hand und fragte, ob ich zur Toilette gehen dürfte.

»Die Stunde endet in zwanzig Minuten. Dann kannst du gehen«, sagte Mrs Parasuram. Ehe sie mit dem Unterricht weitermachen konnte, schoss meine Hand erneut in die Luft und ich fuchtelte mit ihr herum.

»Ja, Parveen?«, fragte Mrs Parasuram. Ihre Stimme klang gereizt.

»Es ist dringend«, verkündete ich. Die Klasse kicherte. In der zweiten Klasse hatte Deborah Ong genau das gesagt und gleich darauf Durchfall und Kotzeritis gleichzeitig bekommen.

»Okay, dann geh schon«, sagte Mrs Parasuram eilig. Sie hatte offenbar von Deborah Ong gehört.

Ich griff unter meinen Tisch und schob mir den Umschlag in die Tasche. Auf den Gängen war es still, nur hin und wieder drang aus einem der anderen Klassenzimmer die erhobene Stimme einer Lehrkraft. Ich schaute mich um, ehe ich die Toiletten links liegen ließ, nur für den Fall, dass im Treppenhaus Präfektinnen herumlungerten. Ich wollte nicht, dass jemand mich verpfiff, weil ich gar nicht auf die Toilette ging. Ich hastete die Treppe hinunter und hielt mich dabei dicht an der Wand, bis ich die vertrauten bunten Glasfenster erreicht hatte. Dann, ohne es mir noch einmal zu überlegen, schlüpfte ich in die alte Kapelle.

Ein kalter Luftzug wehte mir ins Gesicht, auf Hals und Beine, als ich mich rasch in die erstbeste Bank setzte. Außer mir war keine Menschenseele da. Es war dunkler als in meiner Erinnerung an das letzte Mal, als ich hier hereingeschaut hatte. Ich schloss die Augen, und sofort sah ich ein Bild dieses Gottes vor mir. Er hatte lange Haare, und Er machte sich nicht die Mühe, sie hochzubinden und unter einem Turban zu verstauen.

»Hallo«, sagte ich. Meine Kehle war trocken, und ich brachte nur ein Krächzen heraus. Ich räusperte mich und machte noch einen Versuch. Diesmal wurde es ein Flüstern.

Hallo. Die Stimme dieses Gottes war sanfter, fast die eines Mädchens. Er klang wie der Mann von den Stadtwerken, der bei uns vorbeikam, um uns freundlich daran zu erinnern, die Stromrechnung zu bezahlen.

»Wie soll ich dich nennen?«, fragte ich. Diesmal war ich souveräner.

Ganz, wie du möchtest, Kind, antwortete Er. Mir fielen einige Spitznamen ein, aber ich beschloss, das mit dem Namen erst einmal zu verschieben, solange es sich vermeiden ließ.

»Ich bin Pin«, sagte ich.

Ich weiß.

»Weißt du auch meinen Nachnamen?«

Kaur. Du bist eine Sikh.

»Ist es denn dann okay, dass ich hier bin?«, fragte ich besorgt.

Er kicherte, nicht boshaft, aber es machte mich trotzdem nervös. Es erinnerte mich daran, wie Ma beim Erzählen ihrer Geschichte verstummt war, um die Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. Es war kein glückliches Lächeln gewesen – es war ein Lächeln, das verhindern sollte, dass ihre Lippen bebten vor Wut, dass sie etwas sagte, was sie später bereuen würde. Es war ein Lächeln, mit dem sie mich davor bewahren wollte, etwas Schlimmes zu sehen, aber es machte mir trotzdem Angst. Ich hatte Angst, das Lächeln würde sie durcheinanderbringen und davon abhalten, mir die Wahrheit zu sagen. Genauso ging es mir jetzt mit Gott. Ich hatte Angst, dass Er nicht ehrlich zu mir sein würde.

Es ist absolut in Ordnung, erwiderte Er. Erst jetzt merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte, während ich auf Seine Antwort wartete. Ein langer Seufzer löste sich von meinen Lippen und erfüllte die Luft um mich herum mit Wärme. Ich rutschte weiter in die Mitte der Bank und schloss wieder die Augen, während ich mich darauf konzentrierte, wie dieser Gott aussah. Seine Augen, beschloss ich schließlich, hatten durchaus Ähnlichkeit mit den Augen meines Gottes – wässrig, die Augenwinkel leicht gesenkt, als ob Er gerade einen traurigen Film gesehen hätte. Seine Mundwinkel waren auf die gleiche Weise gesenkt. Er war dünner als mein Gott, und ich dachte, das könnte damit zusammenhängen, dass sie ja ganz andere Dinge aßen. Mein Gott lebte von fettigem gebratenen Brot, das in dicke, scharfe Soßen getunkt wurde, gelb gefärbtem Gemüse und klumpigem Joghurt, und da war es ja kein Wunder, dass Er den ganzen Platz in Seinem Bilderrahmen ausfüllte. Ich erinnerte mich vage daran, dass Mrs D’Cruz etwas über Brot und Wein und ein großes Abschiedsmahl erzählt hatte, aber dieser Gott hatte wohl nicht sehr viel gegessen. Ich konnte unter Seiner gebräunten Haut die schmale Leiter Seiner Rippen sehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, ging mir auf, wie lange ich schon aus dem Klassenzimmer weg war, und ich wurde unruhig. »Ich muss zurück, sonst wird meine Lehrerin böse«, sagte ich. Ich hätte Ihm fast erzählt, dass sie glaubte, ich sei auf der Toilette, aber wenn Er ein ordentlicher Gott war, würde Er Lügen vermutlich nicht billigen. Ich fischte den Umschlag aus meiner Tasche und schob eilig den Zwei-Dollar-Schein hinein, leckte die Lasche an, fuhr sie mit dem Daumen nach und steckte den Umschlag in den Opferstock.

»Hilf mir«, sagte ich einfach und meinte damit, dass ich Seine Hilfe bei allem brauchte. Ich fühlte mich noch immer nicht wohl dabei, mit meinem eigenen Gott zu sprechen, weil Er weiterhin in der Abstellkammer wohnte, und ich hatte Angst, dass er noch immer sauer war. Wenn dieser Gott meinem Geld helfen könnte zu wachsen, wie Mrs D’Cruz versprochen hatte, wäre es vielleicht genug, um mir ein rotes oder pinkes Kleid für Kristens Party zu kaufen und ihr einen Ang pow zu schenken. Vielleicht würde Daddy im Lotto gewinnen und es würde leichter sein, die Rechnungen zu bezahlen, und er könnte weniger arbeiten oder sich eine weniger anstrengende Arbeit in der Stadt suchen. Vielleicht könnte er es sich eines Tages sogar leisten, Ma schöneren und teureren Schmuck zu kaufen, so dass sie all das vergessen würde, was Fettes Tantchen und Nani-ji ihr genommen hatten.

Ich hastete aus der Kapelle in die Hitze der Spätnachmittagssonne. Ich hielt den Atem an, als ich an meinen Platz zurückhuschte, in Sorge, dass Mrs Parasuram würde wissen wollen, wo ich so lange gewesen war. Aber sie registrierte es kaum, als ich das Klassenzimmer betrat. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Vorträge darüber zu halten, wie Singapur sich aus einem Sumpf in eine geschäftige Metropole verwandelt hatte. Ihre Augen loderten vor Begeisterung, als ob sie wirklich gerade Zeugin davon würde, wie das Land sich verwandelte.

•   •   •

Am nächsten Tag passierte etwas, das mich an diesen neuen Gott glauben ließ. Es fing in der Pause an, als ich im Kiosk unter meinem Tisch eine Ein-Dollar-Münze fand. »Schau mal!«, rief ich, als ich aus dem Augenwinkel einen Goldschimmer erblickte. »Ich hab sie zuerst gesehen!«

Kristen bückte sich ebenfalls hinunter, um zu schauen. »Wow«, sagte sie. »Ich habe noch nie eine Dollarmünze gefunden. Sonst liegen doch immer nur Ein-Cent-Münzen auf dem Boden herum.«

Ich legte den Dollar auf den Tisch und wir untersuchten ihn beide. Er war zweifelsfrei echt – es war keine von diesen in Goldfolie gewickelten Schokoladenmünzen. Im Kindergarten hatte mir ein befreundeter Junge einmal weismachen wollen, die Folie sei aus echtem Gold, aber das hatte ich ihm nicht geglaubt.

Ich steckte den Dollar schnell in die Tasche und Kristen widmete sich wieder ihrem geeisten Wachskürbistee. »Du willst nicht teilen?«, fragte sie auf ihre unschuldige Art, die bedeutete, dass sie mir nicht böse sein würde, wenn ich nein sagte. Ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen.

»Ich kann nicht«, sagte ich, brachte es aber nicht über mich, es zu erklären. »Entschuldige«, murmelte ich und schickte mich an aufzustehen. Kristen legte ihre Essstäbchen aneinander und begann in ihren dünnen Bihun-Nudeln herumzustochern. Dampf stieg auf, und zwischen ihrer Nase und ihrer Oberlippe erschienen Schweißperlen.

Es läutete zum ersten Mal, während ich aufstand, und Kristen fing hektisch an zu essen. Suppe spritzte auf den Tisch, was uns beide zum Kichern brachte. Im Nu schien Kristen die Dollar-Münze vergessen zu haben, und ich war froh, weil ich ihr nicht erklären musste, wozu ich sie brauchte.

Während der Tag voranschritt, glaubte ich immer weniger daran, dass der neue Gott etwas mit dem gefundenen Geld zu tun hatte. Es war schließlich nur ein Dollar – was konnte ich mir schon dafür kaufen? Ich würde dafür einen Teller Nudeln in der Schule oder eine Tasse heiße Schokolade bekommen und hätte noch ein paar Cent übrig. In ihren Reden sagte die Schulleiterin immer, Gott gebe reichlich, wenn jemand in Not sei. Ich musste nicht hungern. Ich brauchte nur ein Kleid. Ich dachte an Ma und Nani-ji, die ihre letzten Cents sparten, um in ihrem Kampong Zwiebeln und Salz kaufen zu können, und hatte plötzlich ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Aber ich wollte auf Kristens Party unbedingt so aussehen wie die anderen Mädchen.

Bei den Gebeten nach der Pause stimmte ich ins »Vaterunser« ein. Ich kannte es auswendig, weil ich es mir in all den Jahren so oft hatte anhören müssen, und ich hielt den Kopf gesenkt, damit niemand mich sah und sich wunderte, warum ich plötzlich zu einem anderen Gott betete. Ich betete intensiv, mit zusammengekniffenen Augen und so fest gefalteten Händen, dass sie danach klebrig waren vom Schweiß.

Er hörte mir zu. Er musste mir zugehört haben, denn als Daddy an diesem Abend nach Hause kam, verkündete er, er habe sehr gute Neuigkeiten.

»Pin. Ich habe gewonnen!«, schrie er, während er sich am Vorhängeschloss zu schaffen machte, das ungeduldig gegen die eisernen Gitterstäbe klackerte. Der Ton hallte durch den ganzen Gang.

»Du hast was gewonnen?«, fragte ich.

»Bei der 4D!«, rief Daddy. »Einen Trostpreis, also keine ganz große Sache, aber immerhin habe ich etwas gewonnen!« Er stieß das Gitter auf und streckte die Arme aus, um mich hochzuheben, aber ich schlüpfte wie eine Einbrecherin an ihm vorbei, zurück in unsere Wohnung. Trostpreise beliefen sich auf drei-, vier- oder fünfhundert Dollar. Die großen Preise lagen in den Tausendern. Ich versuchte, mir das Gewicht von dreihundert Dollar vorzustellen, dann das von Mas Schmuck. Wogen sie gleich viel? Ich war mir nicht sicher. Trotzdem war ich ganz aufgeregt wegen Daddy. Endlich hatte er gewonnen, und das war kein Zufall. Ich dachte an das Geld, das ich dem Gott in der Schule gespendet hatte, und ich stellte mir vor, wie es Wurzeln schlug wie ein Baum.

»Deine Ma freut sich sehr darüber«, sagte Daddy. Seine Stimme klang nicht überzeugend. Er streckte abermals die Arme aus zu einer Umarmung, und ich erwiderte sie halbherzig. Wie ein Gespenst glitt Ma in ihrem langärmligen Nachthemd aus ihrem Schlafzimmer. »Freust du dich nicht, dass wir etwas extra haben, um Pin zu verwöhnen?«, rief Daddy ihr zu. Ich hätte im Boden versinken mögen. Mich zu verwöhnen war vermutlich das Letzte, was Ma mit dem Lotteriegeld anfangen wollte. Ma drehte sich um, um mich anzusehen, und bedachte mich mit einem schiefen Lächeln.

»Es ist noch Suppe da vom Mittagessen, falls du noch nichts gegessen hast«, sagte Ma.

Ich nickte. »Ich hab Hunger«, sagte ich. Mas Füße, die über den Boden schleiften, klangen wie der alte Besen, der in der Abstellkammer stand. Als ich noch sehr klein gewesen war, hatte ich immer die Füße gehoben und zugesehen, wie sie mit den harten Borsten den Staub vom Wohnzimmerteppich gefegt hatte. Ich drehte mich zu Daddy um, um zu fragen, was los war mit ihr, aber er war damit beschäftigt, aufgeregt im Wohnzimmer auf- und abzuschreiten und sich über seine Strategie zu verbreiten. »Sieh mal, Pin, beim letzten Mal wusste ich, dass meine Zahlen nicht funktionieren würden, weil ich es nicht gefühlt habe, Pin, ich habe es nicht gefühlt. Aber dann habe ich diese Lose hier gekauft, und da war etwas, ich weiß nicht, wie ein Licht, eine Wärme oder sowas. Ich glaube, ich habe es in meinem Herzen gespürt. Und ich wusste plötzlich genau, was ich zu tun hatte. Die Zahlen flogen mir einfach zu. Manchmal fliegen dir die Zahlen einfach zu.« Er hielt kurz inne und riss ein Stück von der Zeitung ab, um sich seinen eigenen geistreichen Spruch zu notieren und dann mit dem Schnipsel bedeutungsvoll in meine Richtung zu wedeln. »Wir können alles schaffen, Pin.«

Er begann mich anzustecken mit seiner Begeisterung, und ich dachte wirklich, das könnte der Beginn einer noch größeren Erfolgsserie sein. Aber immer, wenn sich in meinem Magen das Glücksgefühl auszubreiten begann, wanderten meine Augen zu Ma, und ihre ausdruckslose Miene jagte mir Angst ein. Ich hätte sie an diesem Tag nicht bitten dürfen, mir die ganze Geschichte zu erzählen. Es war zu viel gewesen, und jetzt ging es ihr schlecht, weil sie ihre Erinnerungen in die Gegenwart geholt hatte.

Ma stellte eine Schüssel mit Suppe auf den Tisch und ging wortlos zurück in ihr Zimmer. Sie sah nicht mehr traurig aus. Ihre Augen war nicht geschwollen, und es lag auch kein wirklich betrübter Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ich rührte die Suppe mit dem Löffel um, um die Hitze entweichen zu lassen, und danach nahm ich einen Schluck. Ma hatte den Pfeffer vergessen und kaum gesalzen, so dass die Hühnerbrühe nach nichts schmeckte. Aufgequollene weiße Reiskörner klebten an weißen Hähnchenstreifen. Sie zerfaserten völlig, als ich versuchte, sie mit meinem Löffel aufzunehmen, was bedeutete, dass Ma dem Topf keine große Beachtung geschenkt hatte, während die Suppe auf dem Herd stand. Alles war völlig zerkocht und fade. An einem guten Tag hätte Ma Röstzwiebeln auf die Suppe gestreut, um dem Gericht etwas Knuspriges zu verleihen. Heute hätte ein guter Tag sein müssen, weil wir plötzlich mehr Geld hatten. Aber Ma war völlig gleichgültig. Ihr Essen log nicht.

Daddy sah zu, wie ich ein paar Schlucke nahm, dann fragte er: »Wie ist es, Pin?«

»Nicht so toll«, flüsterte ich. Ich behielt Mas Tür im Auge, für den Fall, dass sie sie plötzlich öffnete. »Es schmeckt nach nichts. Und ich mag Suppe nur mit Röstzwiebeln.«

»Dann nichts wie weg hier. Lass uns irgendwo anders essen. Wo möchtest du hin?«

Ich dachte eine Weile nach, bevor ich diese Frage beantwortete. »Es gibt tatsächlich etwas, das ich wirklich brauche«, fing ich an. Ich zögerte. Ich hatte den neuen Gott um Geld gebeten, und jetzt, wo wir es hatten, scheute ich mich davor, es zu benutzen. Aber dann machte ich mir klar, dass es ziemlich unverschämt wäre, nicht einen Teil von Daddys Geld dafür zu verwenden, ein Kleid für das Chinesische Neujahr zu kaufen, wo es den neuen Gott doch einiges gekostet haben musste, dafür zu sorgen, dass bei der Lotterie genau diese Zahlen gezogen wurden.

Ich erzählte Daddy von Kristens Party und warum ich ein Kleid brauchte. »Natürlich!«, rief Daddy. »Auf nach Chinatown. Mach dich fertig. Und Pin – lass dir Zeit, hörst du? Wir nehmen nämlich nicht den Bus oder die Bahn. Wir nehmen ein Taxi!«

Ich stieß einen Jubelruf aus und rannte in mein Zimmer, um meine Schuluniform durch Ausgehkleider zu ersetzen. Im Fahrstuhl bat ich Daddy, mir das Geld zu zeigen, das er gewonnen hatte. Er öffnete seine Brieftasche gerade weit genug, dass ich einen Blick auf ein paar blaue Scheine erhaschen konnte. Fünfzig-Dollar-Scheine waren blau, und obwohl ich sie nicht sehr oft gesehen hatte, war ich enttäuscht. Ich hatte gedacht, die Lotterieleute hätten Daddy einen Stapel Hunderter oder sowas gegeben. Ich hatte noch nie größere Geldscheine gesehen als Fünfziger.

Das Taxi jagte über den Highway, bis Singapur nur noch eine Serie von Herzschlägen war. Wir schossen vorbei an Bäumen und weißen Wohnblocks, glänzenden Gebäuden und Schildern, die den Weg in die Innenstadt wiesen. Wir glitten nach Chinatown hinein, als ob wir das jeden Tag täten. Daddy sagte dem Fahrer sogar, er solle die fünf Dollar Wechselgeld behalten, aber als der Fahrer das ablehnte, sah ich Erleichterung in Daddys Augen aufblitzen. Er steckte das Geld ein und schob mich sanft aus dem Wagen.

In Singapur gab es einige Orte wie Chinatown, die in mir sofort die Erinnerung an eine Vergangenheit oder eine Gegend weckten, in denen ich nie gelebt hatte. Little India war auch so – Reihen von aneinandergeschobenen bunten Shophouses, Männer auf hölzernen Podesten, die aufgequollene Jackfruits verkauften, Schaufenster mit Puppen in funkelnden Hochzeitssaris, Bürgersteige voller Farbklekse und zerquetschter Obstschalen, und ein so intensiver Geruch nach Sandelholz, dass er sich in meinen Haaren festsetzte. Chinatown war aufdringlicher als Little India, weil wir zur Festzeit da waren, und es war auch voller. Daddy hatte mir eingeschärft, seine Hand nicht loszulassen, während wir uns einen Weg durch die Menge bahnten. Rote Lampions hingen von jeder Decke und jedem Laternenpfahl. Goldene Buddhastatuen und grimmige Drachen grinsten uns aus Schaufenstern entgegen. Dunkelrote Bak-Kwa-Scheiben und gummihäutige gerupfte Enten hingen von Haken in Restaurantfenstern. Wir passierten die gleißenden Lichter von Kinos, und hörten Trommeln und Becken den Takt zu Neujahrsliedern spielen. Wir verzehrten ein spätes Abendessen in einem Dim-Sum-Restaurant, wo wir aus einer Speisekarte auswählen mussten und uns das Essen von einer Kellnerin gebracht wurde. Ich fragte Daddy, ob er seine Stelle jetzt aufgeben würde, wo er in der Lotterie gewonnen hatte.

»Nein, Pin«, sagte er und lachte. »Ich habe bei Weitem nicht genug gewonnen, um mit Arbeiten aufzuhören.«

»Aber vielleicht kannst du dir einen besseren Job suchen«, erklärte ich ihm.

»Ich mag meinen Job«, sagte er. Er zog ein Stück Papier aus der Tasche.

»Ist das das Gewinnerlos?«, fragte ich und streckte die Hand aus, um es mir zu schnappen. Er zog das Papier weg.

»Nein«, sagte er. »Das habe ich zu Hause gelassen.« Er begann auf dem Stück Papier zu zeichnen. In Chinatown gab es so viel zu zeichnen, aber es gab zu viele Farben. Ich drehte meinen Kopf um zu schauen, was er da wohl zeichnete. Zwei große Lampions schwangen in der leichten Brise hin und her, und es gab auch eine Shophouse-Zeile, deren klaffende Fenster den Blick freigaben auf dunkle Wohnungen mit Fernsehern und Wäscheleinen vor den Simsen. Aber Daddy zeichnete ein Mädchen – mich. Er zeichnete ein Porträt von mir.

»Du bist so groß geworden, Pin. Du hast große Ähnlichkeit mit deiner Ma«, sagte er und betrachtete das Bild. Ich sah mir die Zeichnung an und fand sie nicht besonders gut. Meine Augenbrauen waren krumm und meine Nase war in Wirklichkeit breiter als auf dem Bild. Auf Daddys Zeichnung sah ich streng und unerbittlich aus.

»Ich weiß jetzt, was Ma passiert ist«, platzte es aus mir heraus. Ich erwartete, dass der gesamte Raum erstarren würde – die Ventilatoren würden aufhören sich zu drehen und die Serviererinnen würden zwischen den Tischen stehen bleiben – aber nichts passierte. Nicht einmal Daddys Miene veränderte sich.

»Ich weiß, dass du es weißt«, sagte er schließlich. Er fügte dem Bild einige Striche hinzu, um meine Haare fülliger zu machen. »Ich habe es dir ja gesagt. Deine Ma hatte eine sehr harte Kindheit. Und die Menschen machen ihr noch immer große Schwierigkeiten, deshalb ist sie manchmal nicht sie selbst. Aber sie liebt dich, Pin. Sie liebt uns beide sehr.«

»Warum ist sie heute so traurig?«, fragte ich.

»Sie hat versucht, mit deinem Fetten Tantchen zu sprechen«, sagte Daddy. »Sie hat versucht, sie zur Vernunft zu bringen, und deine Tante hat ihr gesagt, sie solle sie nie wieder anrufen.«

Ich erlaubte es mir diesmal nicht, wütend auf Fettes Tantchen zu sein. Zuerst spürte ich, wie die Wut in mir aufstieg und einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterließ, aber als ich dann das Essen ansah, das vor mir auf dem Tisch stand, löste sich das Gefühl in Luft auf. Ich nahm einen Bissen von meiner Teigtasche: Schweinefleisch, umgeben von einer weichen, weißen Hülle aus Stärke. Sie lag sorgfältig verschnürt in der Schüssel, wie ein Geschenk. Die Hülle löste sich, als ich versuchte, den Kloß mit meinen Essstäbchen aufzunehmen, und ich saß da mit einem Klümpchen Schweinefleisch.

»Ma kann das nicht kochen«, sagte ich zu Daddy.

»Kann sie wohl«, sagte er.

»Aber sie hat noch nie Teigtaschen gemacht.«

»Vielleicht gab es noch nie einen Anlass für Teigtaschen.«

Ich überlegte, welcher Anlass wohl nach Teigtaschen verlangen würde. Sie sahen ziemlich schlicht und einfach aus, vielleicht war die Form ein bisschen seltsam. Ich versuchte, die Geflügeltasche hochzuheben, aber sie rutschte mir ebenfalls weg, und diesmal plumpste sie auf den Tisch, prallte ab und fiel auf den Boden. Ich schaute mich eilig um, ob irgendwer was gemerkt hatte, aber das Restaurant war erfüllt von lautem Geschnatter, und wer nicht mit Reden beschäftigt war, war mit Essen beschäftigt.

»Tut mir leid«, sagte ich zu Daddy.

»Wieso denn? Das ist dein Essen.«

Ich sagte Mas Mantra auf: »Weil, ›wenn du Essen wegwirfst, wirfst du Geld weg‹.«

Daddy grinste. »Und jetzt weißt du auch, warum Ma zu Hause noch nie Teigtaschen gemacht hat, Pinny-Pin. Sie wartet, bis du zu einer anmutigen Frau herangewachsen bist, die niemals ihr Hauptgericht über den ganzen Boden verteilen würde.«

Nach dem Essen überquerten wir die Hauptstraße und gelangten zu einer Reihe von Kleidergeschäften. Mir gefiel gleich das erste Kleid, das ich sah, und ein anderes wollte ich mir gar nicht mehr zeigen lassen. Es war ein dunkelroter Cheongsam mit hohem Kragen und einem Schlitz an der Seite. Ich sah darin aus wie eine Dame, nicht wie ein Mädchen. Ma schleifte mich normalerweise am Arm hinter sich her und zerrte mich in jeden Laden, bis sie sicher war, dass das Kleid, das mir gefiel, die beste Qualität zum niedrigsten Preis war. Daddy war das egal. Er schien nicht viel Ahnung von Kleidern zu haben. In der Umkleidekabine hielt ich mir mit den Händen die Haare über den Kopf und drehte mich einige Male um mich selbst, wie ein Model. Das Kleid war mit weißen Blümchen bedruckt, und in der Mitten jeder Blume saß eine kleine Paillette, die das Licht einfing und funkelte.

Ich konnte hören, wie Daddy draußen versuchte, mit der Ladenbesitzerin zu handeln. Er war nicht so aggressiv wie Ma. Ich konnte das Zittern in seiner Stimme hören, als er die Frau bat, mit dem Preis runterzugehen. »Ich bin von hier, wissen Sie. Kein Ausländer«, teilte er der Ladenbesitzerin mit, einer gedrungenen alten Frau mit schweren Jade-Ohrringen und einem passenden Armreif.

Als ich aus der Umkleidekabine kam, öffnete Daddy gerade mit düsterer Miene seine Brieftasche und nahm zwei Fünfzig-Dollar-Scheine heraus, um sie der Frau zu geben. Während sie mein Kleid einpackte, fragte ich, ob es wirklich so viel gekostet hatte.

»Einhundert«, sagte er leise auf Punjabi. »Aber das Kleid gefällt dir, ja?«

Ich nickte. Irgendetwas fühlte sich falsch an. Daddy rang sich ein Lächeln ab, aber er schaute zu Boden. Ich dachte daran, wie er sicher den ganzen Tag lang versucht hatte, Ma zu trösten nach ihrem Telefongespräch mit Fettes Tantchen. Wie dringend er immer alles wieder in Ordnung bringen wollte, um ausnahmsweise einmal alle glücklich zu sehen. »Daddy?«, fragte ich, als wir den Laden verließen. »Hast du wirklich im Lotto gewonnen?«

»Natürlich, Pinny«, antwortete er. »Warum? Meinst du, ich lüge dich an? Ich bin nur nicht daran gewöhnt, hundert Dollar für ein Kleidchen auszugeben.«

»Ich weiß«, sagte ich, aber ich glaubte ihm trotzdem nicht. Der neue Gott konnte meine Bitte nicht so schnell erfüllt haben, schon gar nicht, wo es in manchen Teilen der Welt Leute gab, die Ihn die ganze Zeit um Geld anflehten, und die schienen es dringender zu brauchen. Es war dumm von mir gewesen zu glauben, dass Er mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Wer war ich denn schon?

Auf der Straße winkte Daddy ein Taxi herbei, hielt aber inne, als er sah, dass schon Fahrgäste darin saßen. Ich zeigte auf eine Bushaltestelle. »Wir können da den 166er nehmen. Der fährt zum Ang Mo Kio Busbahnhof.«

Daddy schüttelte den Kopf. »Das würde zu lange brauchen. Lass uns einfach ein Taxi nehmen.« Er versuchte zu klingen, als sei das für ihn etwas völlig Alltägliches, aber seine Worte wirkten gezwungen, als ob er sie vorher eingeübt hatte. Ich hätte gern gewusst, wie lange er schon vorgehabt hatte, so zu tun, als habe er im Lotto gewonnen.

Wir versuchten, ein anderes Taxi anzuhalten, aber der Fahrer zeigte auf ein Schild mit der Aufschrift »Besetzt«. Ich sah, wie Daddy sich umschaute und mit dem Kleingeld in seiner Tasche klimperte. Er suchte nach einer Telefonzelle, um ein Taxi zu bestellen. Das war noch teurer. »Ich hab Durst«, sagte ich eilig. »Ich möchte einen Saft oder eine Sojamilch oder sowas haben.«

Daddy wies auf einen kleinen Getränkestand, und wir gingen hinüber. Ein Schild pries frische Fruchtsaftmischungen und Eistee an. Ich bestellte einen Wassermelonensaft, und wir setzten uns beide hin. Dann sah ich Daddy in die Augen und erzählte ihm, warum ich mir das Kleid gewünscht hatte. Ich ging davon aus, dass er darauf bestehen würde, das Kleid zurückzugeben, wenn ich ihm von Kristens Bitte erzählte, und davon, wie sie über Farizah gelästert hatte, und dann hätte ich eine Entschuldigung, um nicht auf Kristens Party gehen zu müssen. Sie könnte sich nicht über mich lustigmachen, wenn ich sagte, dass mein Vater mich nicht gehen ließ.

»Diese Kristen hört sich nicht besonders nett an«, sagte Daddy.

»Sie ist eben erst hergezogen«, erklärte ich, als ob das alles wettmachen würde. Ein skeptischer Ausdruck hatte sich in Daddys Gesicht festgesetzt. Ich sah ihn erwartungsvoll an. Das sollte sein Stichwort sein, um mir die Wahrheit zu sagen. »Pin, du bist jetzt alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn du auf diese Party gehen möchtest, hast du ein Kleid. Wenn du nicht hingehen möchtest, können wir es zurückgeben.«

Ich brauchte Daddy wegen der Lotterie nicht weiter zu bedrängen. Die Wahrheit kam an den Tag, als der Straßenhändler mit dem Wassermelonensaft an unseren Tisch kam. »Vier fünfzig«, sagte er.

»Für Saft?«, rief Daddy und warf einen Blick auf das Glas. Ich war ebenfalls überrascht. Der Händler zuckte mit den Schultern, dann kniff er die Augen zusammen. »Mein Laden ist sehr billig. Sie zahlen?«, fragte er. Seine Stimme hatte so einen Unterton, als sei er bereit zuzuschlagen. Ich schaute mich um und mir ging auf, dass wir in einer Straße voller Touristen saßen. Sie wälzten sich durch die engen Gassen und drängten sich um die offenen Stände, an denen Jadearmbänder, kleine Bronzebuddhas und Seidentäschchen verkauft wurden. Sie wussten nicht, wie man handelte, und sie hatten es auch nicht nötig.

»Ja, ja, okay«, sagte Daddy. Er griff zu seiner Brieftasche und prüfte die noch verbliebenen Geldscheine. Er hatte noch zwei Fünfzig-Dollar-Scheine, aber plötzlich schien er sich nicht von ihnen trennen zu wollen. Als er dem Händler endlich das Geld reichte, sah er nervös aus. »Ich weiß, dass ich Ihnen fünfzig gegeben habe«, sagte er finster, als der Mann zum Stand zurückging, um das Wechselgeld zu holen.

Ich öffnete den Mund, um Daddy zu fragen, warum er mich wegen der Lotterie angelogen hatte, aber ich wusste, dass ich ihn damit in Verlegenheit bringen würde. Und ich wusste, warum. Alle wollen irgendwann beweisen, dass sie schon immer recht hatten, auch wenn die ganze Welt das Gegenteil behauptet. Ich dachte daran, wie Farizah auf ihren Glaubensregeln bestand, auch wenn die ein bisschen schräg waren. Ich dachte an die Hoffnung in Mas Augen, als sie für mich ihre Geschichte noch einmal durchlebt hatte. Ich dachte daran, wie dringend ich den Jungs aus dem Viertel hatte zeigen wollen, dass ich so gut Fußball spielen konnte wie sie, und wie ich fast ertrunken wäre, um den Ball zu retten und damit zu beweisen, dass ich mutig war und eine Bereicherung für ihre Mannschaft.

Ich nahm die Tüte mit meinem neuen Kleid und schob sie Daddy über den Tisch zu. »Kannst du es zurückbringen?«, fragte ich ihn. »Ich will nicht mehr auf Kristens Party gehen.«

Daddy rieb sich die Stirn. »Meine Güte, Pin. Du machst mir ja heute eine Menge Ärger«, sagte er. Er machte ein bekümmertes Gesicht und nahm die Tüte langsam an sich. Aber die Erleichterung zeigte sich in seinen Augen und in dem Grinsen, das sich in seinem Gesicht ausbreitete und auf unserer ganzen Busfahrt nach Hause dort blieb.

•   •   •

Am nächsten Tag in der Schule schrieb ich Kristen einen Zettel. »Liebe Kristen. Leider kann ich nicht zu deiner Neujahrsparty kommen.« Ich beschloss, ihr keinen Grund zu nennen. Ich schob den Zettel unter ihr Federmäppchen und fragte Mrs Parasuram, ob ich zur Toilette gehen dürfe.

»Ja«, sagte sie. »Aber beeil dich bitte. Wir haben heute noch eine Menge Arbeit vor uns.«

Ich ging mit schnellen Schritten zur Tür und rannte los, sowie ich um die Ecke gebogen war. Ich ließ die Toiletten links liegen – ich musste gar nicht. Ich musste wieder in die Kapelle.

Ein kalter Luftzug traf meine Arme und Beine. Ich setzte mich hin, schloss die Augen und brütete eine Minute lang schweigend vor mich hin, bevor ich zu sprechen begann.

»Ich glaube, du hast versucht, mich auszutricksen. Du hast Daddy lügen lassen, dass er in der Lotterie gewonnen hat, damit ich glauben sollte, wir hätten Geld. Warum?« Die Wörter hallten von den Wänden wider, bevor sie sich auflösten. Mir kam in den Sinn, dass Er diese Frage wahrscheinlich inzwischen satthatte, weil sie Ihm so oft gestellt wurde. Gott antwortete nicht.

»Ihr seid alle gleich«, sagte ich zornig, und zuerst war ich wirklich wütend. Aber als meine Worte zu mir zurückschallten, hörte ich die Wahrheit in ihnen. Sie waren alle gleich. All diese Gebete, all diese Lehren – die Götter sahen anders aus, aber ihre Absichten waren dieselben. Sie beobachteten uns auf Schritt und Tritt und taten einige seltsame Dinge, und bisweilen war es schwer zu glauben, dass es sie wirklich gab, weil sie sich niemals zu zeigen schienen, wenn man sie brauchte.

Ich sah auf meine Knie hinunter, die unter meinem Trägerrock hervorlugten. Ich drehte meine Hände um, betrachtete die Linien, den Kontrast zwischen der helleren Haut auf meinen Handflächen und der dunkleren auf der anderen Seite. Alles dasselbe. Kristen konnte sich über Farizahs Religion lustigmachen, so viel sie wollte. Fettes Tantchen konnte sich über Mas Pusteln mokieren. Abigail Goh konnte hinter deren Rücken Gemeinheiten über Mrs Parasuram sagen. Sie waren doch alle gleich. Als ich diesen Gott wieder anrief, rechnete ich damit, dass Er nicken und mich segnen würde, weil ich das endlich durchschaut hatte, aber Seine Miene blieb ausdruckslos.

Die Tür quietschte, als sie geöffnet wurde und mich aus meinen Gedanken riss. Ich drehte mich um, um zu schauen, wer da kam, und wünschte, ich hätte mich unter der Bank oder im Schatten versteckt. Die Farben von Mrs Parasurams Sari hoben sich prachtvoll vom Licht draußen ab.

»Was denkst du eigentlich, was du hier zu suchen hast?«, fragte sie streng. Ich hatte keine Antwort für sie. Sie schüttelte den Kopf. »Auf der Stelle raus hier, Miss Kaur!« Ich rutschte von der Bank und lief zur Tür. Noch immer kopfschüttelnd sprach Mrs Parasuram weiter. »Da war ich nun, auf dem Weg zurück ins Lehrerzimmer, weil ich eure Hefte dort vergessen hatte, und dachte bei mir: ›Hoffentlich ist mit Parveen alles in Ordnung. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass sie mitten im Unterricht zur Toilette wollte, obwohl sie doch die Vorschriften kennt.‹ Und dann sah ich deine Schuhe vor der Kapelle, und da saßt du dann tatsächlich und schwänzt meinem Unterricht.« Als ich die Schuhe nahm, fiel mir auf, dass sich die Gummisohle löste und zwischen den Zehen braungrüne Streifen waren, vom letzten Mal, als ich beim Fangenspielen über die sumpfige Schulwiese gerannt war. Mrs Parasuram hatte mich angewiesen, meine Schuhe zu putzen, und die Klasse ausgeschimpft, weil wir im Gras gespielt hatten. »Für euch ist eigens ein schöner Sportplatz angelegt worden, damit ihr nicht mehr auf der nassen Wiese herumrennen müsst wie eine Horde Dorfkinder«, hatte sie gesagt, den Blick auf diejenigen von uns gerichtet, die vorgeschlagen hatten, im Sonnenschein Fangen zu spielen. Wahrscheinlich hatte sie deshalb meine Schuhe vor der Tür erkannt. Sie war viel aufmerksamer, als mir klar gewesen war.

»Entschuldigung«, murmelte ich.

Mrs Parasuram sah nicht zufrieden aus. »Warum bist du hier?«

»Ich … ich weiß nicht«, stammelte ich. Mir fiel keine Entschuldigung ein, die für Mrs Parasuram gepasst hätte.

»Ich bin enttäuscht von dir, Pin. Die meisten Mädchen gehen dem Ärger möglichst aus dem Weg, aber du scheinst ihn geradezu zu suchen. Ich werde dich von jetzt an sehr genau beobachten. Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis. Ich hoffe, du weißt, was das bedeutet.« Sie bekräftigte ihren Satz mit einem scharfen Zungenschnalzen. »Jetzt zieh deine Schuhe an und geh zurück in die Klasse.«

Mein ganzer Körper fühlte sich an wie aus Blei auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer. Kristen schwatzte gerade mit Abigail Goh, als ich an meinem Tisch ankam. »Hast du meinen Zettel gelesen?«, fragte ich, als ich bemerkte, dass er verschwunden war.

»Ja«, sagte Kristen eisig. »War auch gut so. Du bist sowieso nicht mehr eingeladen.«

Ich war verwirrt. Noch gestern hatten Kristen und ich gegenseitig in unseren Poesiealben geblättert. Ich hatte meinen üblichen Spruch hineingeschrieben: »Trink heißen Kaffee, trink heißen Tee, verbrenn dir die Lippen, Vergessen tut weh.«

Ich hörte ein Schnauben und sah, wie Abigail sich die Hand auf den Mund presste, um ihr Lachen zu unterdrücken. »Du und Farizah seid ausgeladen. Kein Zutritt für Fanatikerinnen«, sagte sie und warf einen vielsagenden Blick auf meine Kara.

»Ich muss sie tragen, wegen meiner Religion. Ich bin eine Sikh«, erklärte ich ihr, wie ich es schon unzählige Male bei den Präfektinnen, den Lehrerinnen und den Mädchen im Schulbus getan hatte, die mich gefragt hatten. »Ich bin keine Fanatikerin.« Mir war nicht klar, wie laut ich gesprochen hatte, bis ich merkte, wie die ganze Klasse verstummte. Abigail Goh hob eine Augenbraue.

»Sikhs sind ekelhaft«, teilte sie Kristen mit. »Die Männer haben Bärte und tragen diese komischen Turbane. Sie waschen sich nur einmal in der Woche die Haare.« Sie rümpfte die Nase.

Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Ich bekam keine Luft mehr. Alle in der Klasse warteten darauf, dass ich etwas sagte. Einige Mädchen traten lautlos vom Tisch zurück, um sich von Abigails gehässigen Worten zu distanzieren. Andere beeilten sich, um die Räume wieder zu füllen, und sahen mich forschend an. Ich hätte gern über den Tisch gelangt und Abigail so hart ins Gesicht geschlagen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern würde, was sie zu mir gesagt hatte.

Mrs Parasuram kam in die Klasse zurückgerauscht und trug einen wackeligen Heftstapel vor sich her. Alle liefen zurück zu ihren Plätzen, aber ich blieb stehen und funkelte Abigail wütend an. Sie starrte zurück und ich merkte, dass sie unruhig wurde. Sie wollte, dass ich etwas erwiderte, aber das tat ich nicht.

»Was geht hier vor?«, rief Mrs Parasuram. »Parveen, setz dich bitte.«

Ihre Stimme brachte die Erinnerung daran zurück, was sie zu mir gesagt hatte, als ich Abigail zum ersten Mal angefahren hatte. Es gibt viel Schlimmeres. Ich konnte hören, wie sie jetzt durch den Gang hindurch auf mich zukam. »Parveen, was habe ich dir gerade gesagt?« Sie klang, als sei sie am Ende mit ihrer Geduld. Ich drehte mich nicht zu ihr um. Ich starrte immer noch Abigail an. Auf einmal tat sie mir sehr leid. Sie hatte keine echten Freundinnen. Die Mädchen, die sie umschwärmten, hatten Angst vor ihr, und alle anderen hassten sie insgeheim. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als Abigail zu sein. Das sagte ich ihr. Ich sagte es leise, dann sagte ich es noch einmal, damit Mrs Parasuram es hören könnte. »Es gibt nichts Schlimmeres, als Abigail Goh zu sein.« Abigail verzog keine Miene, begann aber unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen.

Mrs Parasuram räusperte sich. Ich drehte mich um und setzte mich auf meinen Stuhl. Ich rechnete damit, nach der Stunde wieder dableiben zu müssen, da ich ohnehin schon Ärger hatte, weil ich in die Kapelle gegangen war, aber Mrs Parasuram sagte nichts. Sie ging nach vorn und nahm den Unterricht wieder auf. Ich gab mir alle Mühe, mich auf den Stoff zu konzentrieren und meine Gedanken nicht umherschweifen zu lassen oder vor mich hin zu träumen, wie sonst manchmal in Naturkunde. Ich meldete mich und gab korrekte Antworten auf zwei Fragen. Als es zur Pause klingelte, schaute ich zu Mrs Parasurum hinüber und sah, dass sie vor sich hinlächelte. Mir ging auf, dass es das erste Mal war, dass ich sie lächeln sah.

Mrs Parasuram wies mit dem Kopf auf eine Gruppe von Mädchen. Ich drehte mich um und sah Abigails üblichen Fanclub. Als Abigail hinausging, trotteten sie kichernd und tuschelnd hinter ihr her. Ich war ein bisschen enttäuscht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass sie mir zustimmen und endlich begreifen würden, was für ein Mensch Abigail wirklich war. Zumindest Kristen würde sicher zurückbleiben und mir sagen, dass ihr alles leidtat. Aber die Einzige, die in der Tür wartete, war Farizah. Ich hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil ich mit Kristen mitgelacht hatte, als sie sich über Farizah lustiggemacht hatte. Wenn Farizah an meiner Stelle gewesen wäre, hätte sie sich nie und nimmer so verhalten.

Ich drehte mich zu Mrs Parasuram um und öffnete den Mund, um ihr zu erklären, was sich zwischen Abigail und mir abgespielt hatte, aber sie kam mir zuvor.

»Du hast dich heute gut geschlagen, Parveen«, erklärte sie mir. Zuerst dachte ich, sie meinte den Naturkundeunterricht, aber dann sah ich, dass ihr Blick noch immer auf den Mädchen ruhte, die gerade um die Ecke verschwanden. »Du hast dich sehr gut geschlagen.«