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Depression und Trauma |
„Die Katastrophe sagt mit zynischem Gähnen: Geduld, Geduld, du wirst dich schon an mich gewöhnen.“
Masha Kaléko, 1978
Da in der Lebensgeschichte vieler Depressiver Traumen eine fatale Rolle spielen, wie im Abschnitt über Depression bei Frauen gezeigt worden ist, scheint es wichtig, auf die vielfältigen Auswirkungen von Traumatisierungen, auch wenn diese in der Kindheit erfolgt sind, einzugehen. Je jünger ein Kind ist, umso verletzlicher ist es – diese Erkenntnis ist unumstritten.
Das Trauma ist ein Konzept, das ein oder mehrere äußere Ereignisse mit seinen spezifischen Folgen für die innere Realität verknüpft. Der Erste Weltkrieg zwang Sigmund Freud und andere Psychoanalytiker, sich mit der krankmachenden Wirkung von Außenweltfaktoren zu beschäftigen. Das Konzept des Reizschutzes wurde entwickelt. Unter Reizschutz versteht man die individuelle Fähigkeit einer Person, auch eines Kindes, sich von den von der Außenwelt einströmenden, oft als bedrohlich erlebten Reizen, wie z.B. Lärm, abzuschirmen. Man kann beobachten, wie schon kleine Kinder im Kindergarten sich mitunter die Ohren zuhalten, weil es ihnen zu laut ist. Dieser Reizschutz wird im traumatischen Erleben durchbrochen, die anstürmende Menge von Erregungen wie Angst oder Furcht ist zu groß, um gemeistert und psychisch gebunden werden zu können.
Der innere, psychische Wiederholungszwang aktualisiert das traumatische Erlebnis und lässt es vor dem inneren Auge wieder erstehen, in der Erwartung, diese Erregung psychisch binden und damit das seelische Gleichgewicht erneut herstellen zu können. In dem Aufsatz Hemmung, Symptom und Angst betont Freud, dass eine traumatische Situation sowohl durch innere, übermäßige Triebregungen – also durch starke sexuelle oder aggressive Erregung – als auch durch äußere, reale Ereignisse entstehen kann.
Der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Sándor Ferenczi beschrieb die Wirkung von Lüge und Betrug der Erwachsenen dem Kind gegenüber als traumatisierend. Er betonte die Notwendigkeit von Aufrichtigkeit in der therapeutischen Beziehung, um den Patienten nicht einer Wiederholung alter Unehrlichkeiten auszusetzen. Diese Aufrichtigkeit schafft die Grundlage für das Vertrauen in der therapeutischen Beziehung.
Ferenczi hat viele spätere Erkenntnisse der Traumaforschung vorweggenommen. Er zeigte die zerstörerische Wirkung des Traumas auf, durch die ein „totes Ich-Stück“ und eine Agonie, also ein plötzlicher, intensiver körperlicher oder seelischer Schmerz („als ob man sterben müsse“) entsteht.
Das Trauma kann das Ich, sprich die Person spalten: in eine beobachtende Instanz und einen preisgegebenen Körper. Die angstbedingte Lähmung der Gefühle und insbesondere auch die Wirkung des Schweigens, also der Sprachlosigkeit des Täters, auf das traumatisierte Kind, verstärken den seelischen Schmerz. Daher versteht man, dass jede ärztliche und/oder psychologische Untersuchung und Behandlung immer von ruhigen, sachlichen Erklärungen des/der Untersuchenden begleitet sein muss: Jeder Handgriff muss der Patientin, dem Patienten erklärt werden. Sprachlosigkeit, stummes Agieren, verstärkt die Angst, da dadurch das erlittene Trauma für den Patienten wieder schrecklich lebendig wird.23
Zwei Meilensteine in der Entwicklung psychoanalytischer Theorie und Praxis brachten wichtige Erkenntnisse. Es sind dies die Forschungen der Wiener Kinderärztin Margaret Mahler zur „psychologischen Geburt des Menschen“ und – damit inhaltlich eng verbunden – die Erkenntnisse der Objektbeziehungstheoretiker.
Die Forschungen in den 50er Jahren über Symbiose und Individuation des Kleinkindes (auch als „psychologische Geburt des Menschen“ in der wissenschaftlichen Literatur bezeichnet) konzentrierten sich auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion und ihre mögliche traumatische Wirkung auf das Kind, und brachten so neue Erkenntnisse über das Trauma. Die Wirkung traumatischer Ereignisse in den ersten Lebensjahren kann zu Störungen der Ich-Entwicklung, zu Charakterstörungen und zu Perversionen führen. Auch das Versagen der Mutter als Reizschutz durch mangelnde Gegenwart, sowie das Kind überwältigende Trennungs- und Verlassenheitsangst, führen zu unterschwelligen Dauerbelastungen. Das Ich des Kindes kann die traumatische Wirkung nicht verarbeiten, es spaltet das wahre Selbst von sich ab und bildet ein falsches Selbst.24
Drei Bedingungen müssen zusammenkommen, um ein Ereignis oder eine Situation für das Kind als traumatisch wirken zu lassen:
• Das Kind ist vom Erwachsenen abhängig.
• Dieser tut gegen die Erwartung etwas höchst Aufregendes oder Schmerzhaftes.
• Er weist das Kind danach ab, die Tat wird geleugnet oder das Kind wird fallen gelassen.
Die Objektbeziehung selbst erhält damit einen traumatischen Charakter. Die innere, Schutz gebende Sicherheit und der Dialog zwischen dem Selbst und den inneren Bildern wichtiger nahestehender Personen (Objektrepräsentanzen) brechen zusammen. Dadurch entstehen Inseln von traumatischen Erfahrungen, die von der inneren Kommunikation abgekapselt bzw. abgespalten werden, aber weiter bestehen bleiben und das Gefühlsleben, die Fähigkeit Beziehungen aufzubauen, negativ beeinflussen.
Viele Erkenntnisse über die Auswirkung von Traumen wurden durch die Behandlung von Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager gewonnen, die in Krankenhäusern in den Vereinigten Staaten, in Israel und anderen Ländern behandelt wurden. Später, in den 60er und 70er Jahren kamen noch Erkenntnisse hinzu, die von Personen stammten, welche die Foltergefängnisse lateinamerikanischer Diktaturen (Chile, Argentinien) überlebt hatten und z.B. nach Schweden gekommen waren und dort behandelt wurden.
Oft vergingen Jahre bis Jahrzehnte zwischen der Befreiung aus dem KZ und dem Ausbruch der traumatischen Neurose, Depression oder Psychose. Diese Latenz ist ein wesentliches Charakteristikum von traumatischen Störungen.25
Eine weitere wichtige Erkenntnis ist die der indirekten Traumatisierung der nachfolgenden Generation, also der Kinder von denjenigen, die überlebt haben. Viele Überlebende haben ein starkes Bedürfnis, ein ‚normales Leben‘ zu führen, eine Beziehung zu haben, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Die erlittenen Traumatisierungen übersteigen die seelische Verarbeitungsfähigkeit der Überlebenden und dringen so in das Leben der nachfolgenden Generation ein. Das Schweigen der meisten Überlebenden über die erlittenen Qualen konnte dieses ‚Eindringen‘ nicht verhindern – zum großen Schmerz der betroffenen Eltern.26
Das ‚Stockholm-Syndrom‘ wird mittels des objektbeziehungstheoretischen Ansatzes der Traumatheorie verständlich. Unter Stockholm-Syndrom wird ein Vorgang verstanden, für den der Verlust jeglichen, eine empathische Bedeutung vermittelten Objektes verantwortlich ist – d. h., man ist von Feinden umgeben. Dieser Verlust jeglicher Vertrauensperson in der traumatisierenden Situation führt zur Projektion des Empathiebedürfnisses auf den Täter und zu dessen böser Verinnerlichung. Das böse, verfolgende Objekt tritt an die Stelle des inneren Objektes und bestimmt den inneren Dialog. Der Verlust jedes ‚guten‘ Objekts und die verzweifelte Flucht vor diesem bösen Verfolger, die Hilflosigkeit und die Vorstellungen von der Wertlosigkeit der eigenen Person sind Bausteine einer schweren Depression. Die traumatische Situation beeinträchtigt die Fähigkeit, diese zu symbolisieren und ihre Bedeutung zu erfassen.
Die Traumafragmente in ein übergeordnetes, bedeutungsvolles Narrativ einzubinden, ist ohne Hilfe von außen, also ohne die Hilfe von anderen Personen, nicht möglich. Eine befriedigende Interaktion mit anderen ist daher unbedingt erforderlich. Wenn man seine Erinnerungen mit jemandem teilen kann, wenn die Erzählung in Gegenwart eines engagierten Zuhörers verläuft, kann die Beziehung zwischen Ich und Du wieder hergestellt werden.
Die ‚man-made disasters‘ wie Holocaust, Krieg, ethnische Verfolgung oder Folter zielen auf die Auslöschung der geschichtlichen und sozialen Existenz von Menschen ab. Um eine derartige schreckliche Erfahrung individuell irgendwie verarbeiten zu können, ist die Anerkennung von Verursachung und Schuld durch die Gesellschaft von herausragender Bedeutung. Jede Leugnung dieser Schuld bedeutet für die Betroffenen eine Retraumatisierung, ein neuerliches Trauma – etwa dann, wenn eine Tageszeitung, in welcher ein ausführliches Interview mit einem Holocaust-Leugner erscheint, diese Aussagen nicht kommentiert oder relativiert. Viele Menschen, die in der Kindheit schwer traumatisiert worden sind, werden als Erwachsene von dem Leid eingeholt und benötigen dann dringend Behandlung.