Haschisch und Marihuana –
Was ist das eigentliche Problem?
Als ich jung war,
habe ich vergessen zu lachen.
Erst später, als ich meine Augen
öffnete und die Wirklichkeit erblickte,
begann ich zu lachen und habe seither
nicht mehr aufgehört.
(Sören Kierkegaard)
Um es in aller Deutlichkeit vorwegzunehmen: Die Existenz und Verfügbarkeit von Haschisch und Marihuana sind nicht das Problem. Das Problem sind vielmehr die Gebraucher von Cannabis, die mit der Droge nicht angemessen umzugehen wissen. Für viele Menschen, die mit Cannabis Umgang pflegen, scheint es allerdings kaum vorstellbar, dass Gebraucher der Pflanze überhaupt in Schwierigkeiten geraten können. Manche als Experten hoch gehandelte Vertreter eines liberalen Umgangs mit der Droge, Mitglieder von Hanfinitiativen sowie zahlreiche regelmäßige Cannabisnutzer können sich überhaupt nicht oder nur mit Mühe in die Rolle derjenigen hineinversetzen, die auf vielerlei Arten an den Folgen des Cannabiskonsums zu leiden haben. In ihrer selektiven Wahrnehmung zeigen sie sich in Gesprächen häufig skeptisch bis überrascht, dass es doch mehr und mehr Haschisch- und Marihuanagebraucher gibt, die von sich aus eine Drogenberatungsstelle aufsuchen, weil sie mit dem Stoff in keiner Weise mehr klarkommen.
Während der Vorarbeiten zur Erstausgabe dieses Buches führte ich um die Jahrtausendwende herum zahlreiche Gespräche mit Besitzern und Angestellten sogenannter »Hanfläden«. Bei allen stieß ich auf das gleiche ungläubige Staunen: »Wie, gibt es wirklich Kiffer, die zu euch in die Drogenberatung kommen?« Der absolut verpeilte Cannabiskonsument, der in seinem Leben nichts mehr auf die Reihe bekommt, schien für sie ein nicht existierendes Wesen zu sein. Nur ein einziger Besitzer eines Hanfladens zeigte sich ausgesprochen nachdenklich. Er beschäftigte sich selbst schon länger mit der für ihn konflikthaften Tatsache, dass seine Kunden immer jünger werden: »Das sind doch wirklich noch Kinder.« Die Vorstellung, dass diese Kinder bereits ganz selbstverständlich Haschisch und Marihuana benutzen, bereitete ihm wachsendes Unbehagen.
In den letzten Jahren haben sich manche vorschnellen Einstellungen dem Mythos Cannabis gegenüber verändert. Angesichts neuer Cannabisrealitäten verschließen selbst überzeugte Anhänger von Cannabis nicht länger die Augen vor den problematischen Seiten des Kiffens. In der Konsequenz führte seinerzeit das Kultorgan der Cannabisszene, das »hanfblatt«, unter dem Titel »Dem Kiffer (mit Problemen) kann geholfen werden« (06/2003) ein langes Interview mit mir, um seinen Lesern ausdrücklich mein Cannabisbuch zur Lektüre zu empfehlen. Gleiche Ehre widerfuhr später meinem Buch »Drogen & Sucht«. Als Drogenberater und Suchttherapeut so akzeptiert zu werden, dass sich darüber eine vorurteilsfreie Kommunikation mit meinungsprägenden Zeitschriftenmachern der Szene eröffnet, löst zwar in manchen Kreisen spöttelnde Untertöne aus, dient aber in jedem Falle der Erreichbarkeit einer problematischen Zielgruppe. Weil dafür erkennbarer Bedarf besteht, hat sich die Redaktion der »thcene«, eines Hanfmagazins in der Nachfolge des eingestellten »hanfblatts«, entschlossen, das von ihr als »zeitlos gut« befundene Interview wieder abzudrucken (08/2011). Für mich ist das wie eine Eintrittskarte in die ansonsten eher verschlossen gehaltene Welt von Cannabisgebrauchern, die jedweden Kontakt zu einer Drogenberatungsstelle ablehnen. Der noch schärfer gestellte Blick auf die Realität zeigt sich in einer Kleinigkeit: Hatte das »hanfblatt« den Kiffer (mit Problemen) noch verschämt in Klammern gesetzt, verzichtet die »thcene« auf dieses »Mäntelchen«.
Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, für einen liberaleren und pragmatischeren Umgang mit Cannabis einzutreten. Das macht im Gegenteil sogar ausgesprochen Sinn. Wer jedoch schönredet oder ausblendet, dass die Droge erhebliche Probleme nach sich ziehen kann, blickt nicht über den eigenen Tellerrand hinaus. Er hat sich nie die Mühe gemacht, den Arbeitsalltag von Drogen- und Suchthilfeeinrichtungen kennenzulernen, um auch die zweifelsfreien Schattenseiten der Droge seiner Wahl zur Kenntnis zu nehmen. Die Probleme mit Cannabis sind nicht wegzudiskutieren, selbst wenn sie nur in die richtige Relation gesetzt angemessen zu bewerten sind. Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen probieren und gebrauchen Cannabis. Wir dürfen es als relativ beruhigend und entlastend ansehen, dass für die weitaus meisten von ihnen der Gebrauch des Rauschmittels nie zu größeren Schwierigkeiten führt. Ihr Haschisch- und Marihuanagenuss ist eine passagere Phase in ihrem Leben, aus der sie unbeschadet oder sogar mit nützlichen Erfahrungen auf dem Weg zum Erwachsenwerden herauswachsen. Trotzdem geraten allzu viele jüngere Menschen in unserer Kultur mit der Droge in eine Sackgasse, aus der sie nur mit Mühe und Hilfe wieder herausfinden. Die Zahl derer, die mit Cannabis ernsthafte Probleme bekommen, lässt sich schwer exakt beziffern. Sie ist aber in jedem Fall zu hoch, um tatenlos zuzusehen, welchen Lebenspreis Kiffer, welche die Droge nicht beherrschen, für ihre Erfahrungen bezahlen müssen.
In diesem Buch ist folgerichtig vorwiegend von denjenigen Haschisch- und Marihuanakonsumenten die Rede, welche der Umgang mit der Rauschdroge in schwerwiegende Nöte bringt. Das sei ausdrücklich betont, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Wer die Droge wirklich genießen kann, braucht sich von den Problematisierungen nur am Rande angesprochen zu fühlen. Er darf aber ruhig weiterlesen, um in Erfahrung zu bringen, wie es kiffenden »Brüdern« und »Schwestern« ergeht, denen die Droge weniger Genuss als Verdruss beschert. Dabei sei er vor allem vor eigenen Größenfantasien und Überheblichkeit auf der Hut.
Was ist das Problem? Selbst dort, wo Cannabis seine Anhänger in arge Bedrängnis bringt, ist die Droge nicht das wirkliche Problem. Hinter ihrem Konsum des Rauschmittels verbergen sich in aller Regel soziale Gründe und innere Motive des Drogengebrauchs, die sich als das eigentliche, tiefer liegende Problem erweisen. Die Hauptverantwortung für den Suchtmittelgebrauch so vieler junger Menschen liegt jedoch bei einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten ihre Mitglieder geradezu zum maßlosen Konsumieren nötigt. Wo unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse wie Liebe, Sicherheit, Geborgenheit, Verbundenheit und Beziehung zu uns nahen Menschen sowie Selbstentfaltung in konstruktiver Abgrenzung zu anderen nicht mehr ausreichend befriedigt werden, weichen wir aus in sekundäre Konsumbedürfnisse. Die konsumierende Gesellschaft lebt von der seelischen Not ihrer Mitglieder. Sie kann nur dadurch existieren, und als Gesellschaft der Maßlosigkeit ist sie eine geborene Suchtgesellschaft. Doch die Gesellschaft als solche hat keine Adresse. Bei ihr kann man nicht klingeln. Sie ist anonym. Wir gehören ihr zwar alle an, aber der einzelne Mensch hat wenig bis gar keinen Einfluss mehr auf die vielfältigen Gesellschaftsstrukturen, deren höchstes Organisationsmerkmal die totale Abhängigkeit des »einen vom anderen« ist. Darunter leidet die Zuversicht, mit unserem Handeln etwas Sinnvolles bewegen und erreichen zu können. In meinem Theoriebuch »Der rote Faden in der Sucht« habe ich die Beschädigung unseres wichtigsten Kern- oder Selbstwertgefühls von »Urheberschaft und Wirksamkeit« als die Grundursache der süchtigen Abhängigkeit beschrieben. Wer das Gefühl bekommt: »Ich kann doch nichts mehr tun«, sucht die Rettung seines Selbstwerts an einem anderen Ort. So zwingt letztlich unsere auf grenzenlosen Konsum und dürftige Beziehungen getrimmte Lebensweise zunehmend mehr von Natur aus offene, begabte, kreative und glücksfähige Menschen zum Rückzug in die Welt der Drogen und Süchte. Das ist unser eigentliches Problem. Gesellschaftskritisch zwar weniger bewusst durchdacht, aber aus dem Bauch heraus bestätigt, finden wir das Problem in exakter Entsprechung als dominierendes Lebensgefühl bei zahllosen kiffenden jungen Menschen. So problematisiert schließlich auch Amon Barth, der über sein jahrelanges »Leben als Kiffer« ein lesenswertes Buch geschrieben hat, das sich wie eine Lebensbeichte mit Zukunftsaussichten liest, die ihn umtreibende »Frage, warum die Welt in einem Zustand ist, dass Kiffen für viele so notwendig erscheint«.