Grund zur Sorge?
Eine Welt voller Zahlen,
Daten und harter Fakten
Cannabis ist fraglos die am besten erforschte illegale Droge überhaupt. Eine kaum noch zu überblickende Fülle von Studien versucht, den Anbau, die Gebraucher, die Konsumraten, die Wirkungen, Risiken und Langzeitfolgen von Haschisch und Marihuana zu erfassen. Alle Untersuchungen warten mit Informationen und Datenmengen unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft auf. Eher wenige Cannabisstudien erweisen sich als unmittelbar nützlich für die direkte beratend-therapeutische Arbeit mit abhängigen Kiffern. In einer Welt, in der Quantität vor Qualität geht, führen die Zahlen jedoch ein Eigenleben. In schöner Regelmäßigkeit und jährlich aktualisiert liefern zahlreiche statistische Erhebungen eine Flut an Datenmaterial zum Drogengebrauch junger wie erwachsener Menschen.
Weltweit ist dafür das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zuständig, das den jährlichen Weltdrogenbericht herausgibt. Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft kommentiert die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) den jeweiligen Stand der Drogenproblematik in den Mitgliedsländern im Rahmen ihrer Jahresberichte. In Deutschland werden aussagefähige Daten vorwiegend durch die in regelmäßigen Abständen durchgeführten Drogenaffinitätsstudien (DAS) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und den bundesweiten Epidemiologischen Suchtsurvey des Instituts für Therapieforschung München erhoben. Daneben gibt es immer wieder spezielle Einzelstudien mit spezifischem Erkenntnisinteresse. Aus der vergleichenden Gesamtsicht des Cannabisteils all dieser Berichte und Untersuchungen lassen sich vorsichtig einige brauchbare Daten jüngeren Datums zum Umgang junger Menschen und Erwachsener mit der Rauschdroge Cannabis herauslesen.
All over the world:
Zur weltweiten Verbreitung
von Cannabisprodukten
Starten wir global, denn der Cannabismarkt ist ein weilweiter Markt, der den Eigengesetzen der Globalisierung unterliegt. Dem Weltdrogenbericht von 2008 können wir entnehmen, dass die Pflanze in 172 Ländern und Regionen der Erde angebaut wird. Unabhängig von schwankenden Anbauflächen und Produktionsziffern finden wir nach wie vor einige traditionelle Anbauregionen, die als Weltmarktführer jedes Auf und Ab überdauern. Parallel findet jedoch aufgrund verbesserter Anbautechnologien und -methoden ein Verdrängungsprozess statt. Durch Ertragsmaximierung wie Qualitätssteigerung gewinnt der kleinflächigere lokale Anbau vor Ort immer mehr an Boden. Außerdem werden hochwachsende ursprüngliche Landrassen weltweit durch gezüchtete Indica- oder Sativa-Hybriden mit niedrigerem Wuchs verdrängt, weil sie von Helikoptern aus schwerer zu orten sind. Zoomen wir auf Westeuropa und Deutschland, boomt allerorten eine lokale Eigenproduktion von Cannabis. Dabei tritt der Außenanbau (outdoor) gegenüber dem Innenanbau (indoor) immer stärker in den Hintergrund. Dessen Produktionskurve zeigt klar nach oben.
Cannabiskonsum
und -anbau in Europa
Richten wir unser Augenmerk auf Europa, so haben nach Schätzungen des Jahresberichts 2010 der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht etwa 75,5 Millionen Europäer wenigstens einmal Cannabis konsumiert. Man spricht hier von der Lebenszeitprävalenz. Das entspricht über einem Fünftel der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Es stellt sich das gleiche Problem wie oben: Die unter 15-jährigen Jungen und Mädchen finden noch keine Berücksichtigung in den Daten.
Cannabis ist in der Statistik vorwiegend eine psychoaktive Substanz für junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Daten aus Erhebungen in der Bevölkerung belegen, dass durchschnittlich 32 % der jungen europäischen Erwachsenen in diesem Alter mindestens einmal eine Cannabiserfahrung gemacht haben. In den letzten 12 Monaten haben 13 % der 15- bis 34-Jährigen den Stoff konsumiert, und in den letzten 30 Tagen immerhin 7 %. Wird die Altersspanne auf die 15- bis 24-jährigen jungen Erwachsenen eingegrenzt, haben in den letzten 12 Monaten 16 % und in den vergangenen 30 Tagen 9 % Cannabisprodukte benutzt.
Bezüglich eines wirklich regelmäßigen Konsums von Cannabis berechnet die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht aufgrund der ihr vorliegenden Datenlage für 2010, dass schätzungsweise mehr als 1 % aller europäischen Erwachsenen, das sind etwa 4 Millionen Menschen, täglich oder fast täglich Cannabis konsumieren. Die meisten unter ihnen, nämlich 3 Millionen, sind zwischen 15 und 34 Jahre alt. Sie machen rund 2 % bis 2,5 % aller Europäer in dieser Altersgruppe aus. Eine eindeutige geschlechtsspezifische Komponente belegt, dass Männer um ein Vielfaches mehr und öfter Cannabis gebrauchen als Frauen.
Auffallend im Europäischen Drogenbericht ist: Es wird zwar mit einer Fülle unterschiedlicher Daten hantiert, aber in den statistischen Hochrechnungen wird erkennbar häufig von »Schätzungen« gesprochen. Das klingt nicht nach »harten« Fakten. Eine empfindliche Lücke in der Statistik habe ich bereits mehrfach aufgezeigt: Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren tauchen in den Zahlenspiegeln des Jahresberichts 2010 zum Stand der Drogenproblematik in Europa nicht auf. Im Vergleich aktueller Daten mit zurückliegenden Zeitspannen konstatiert der Bericht zusammenfassend eine für die meisten EU-Länder stabile bis sogar merklich rückläufige Tendenz beim Konsum von Cannabis. Da parallel auch das Bewusstsein für die langfristigen Folgen eines unkontrollierten Konsums des Stoffes gestiegen ist, will der Bericht sogar schon eine neue Phase des Cannabiskonsums in Europa ausrufen.
Die Konsumsituation
in Deutschland
Wie sieht es nun vor unserer eigenen Haustür aus? Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland wird in regelmäßigen Abständen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durch entsprechende Repräsentativbefragungen ermittelt. Der Fokus der Studien liegt auf den Jugendlichen und jungen Erwachsenen und schließt realitätsnäher endlich auch die jüngeren Altersgruppen ein.
Die 2011 veröffentlichte Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum »Cannabiskonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2010« gibt uns folgende Zahlen an die Hand: Von den Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren haben 7,4 % bislang mindestens einmal Cannabis probiert. Von den jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren gibt mehr als jeder Dritte (35 %) an, mindestens einmal in seinem Leben Cannabis konsumiert zu haben (Lebenszeitprävalenz). Differenzieren wir diese Altersspannen noch weiter, sehen wir, dass die Neugier, Cannabis auszuprobieren, mit kleinen Alterssprüngen stetig wächst: Von den 12- und 13-jährigen Kindern hat etwa jedes Hundertste (1,3 %), von den 14- bis 17-jährigen Jugendlichen jeder Zehnte (10,2 %) Erfahrungen mit Cannabis. Danach steigen die Zahlen steil an. Bei den 18- bis 21-Jährigen hat etwa jeder Dritte (29,9 %) eine Erfahrung mit Cannabis, und bei den 22- bis 25-Jährigen sind es 40,4 %.
Der Anteil derjenigen, die im letzten Jahr vor der Befragung (12-Monats-Prävalenz) Cannabisharz oder -kraut gebraucht haben, beträgt 5 % bei den 12- bis 17-Jährigen und 12,7 % bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren. Unter den 12- und 13-jährigen Kindern findet die Statistik geringe 0,3 %, die im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben. In den letzten 30 Tagen (30-Tages-Prävalenz) soll kein Kind die Substanz gebraucht haben, während 2,6 % der 14- bis 17-jährigen und über 5 % der 18- bis 25-jährigen jungen Menschen in den letzten 30 Tagen Cannabis zu sich genommen haben.
Die Studie der BZgA von 2010 beziffert den Anteil der regelmäßigen Cannabisgebraucher, die in den letzten 12 Monaten mehr als zehnmal zu dem Stoff gegriffen haben, bei den 12- bis 17-Jährigen auf 0,6 % und bei den 18- bis 25-Jährigen auf 3,3 %. Ob die zugrunde gelegte Definition von »Regelmäßigkeit« gemessen an der Cannabisrealität Sinn macht, ist allerdings eine berechtigte Frage.
Über alle Altersgruppen und Prävalenzraten verteilt, ist der Anteil der männlichen Cannabiskonsumenten deutlich höher als derjenige der weiblichen Konsumentinnen. Die 30-Tages-Prävalenz der jungen 18- bis 21-jährigen Männer ist dreimal so hoch wie die der jungen Frauen. Regelmäßig und intensiv gebrauchen sogar fünfmal so viele junge Männer Haschisch und Marihuana als ihre weiblichen Altersgenossinnen. Diese Relationen decken sich in der Tat mit den Beobachtungen der täglichen Cannabisrealität. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich noch genauer fassen: Männliche Jugendliche gebrauchen nicht bloß eindeutig häufiger und gewohnheitsmäßiger Cannabis, sondern auch höher dosiert als junge Frauen, die eher seltener, anlässlich von Gelegenheiten und sorgfältiger dosiert konsumieren.
Der Anteil der unter 14-jährigen Kinder mit Cannabiserfahrung scheint extrem gering. Ob er der Realität entspricht, ist mehr als fraglich. Zumindest ist deren Lebenszeitprävalenz von 1,3 % unvereinbar mit Angaben aus älteren Studien zur Epidemiologie des Drogenkonsums bei Schülern. So wiesen beispielsweise in Schleswig-Holstein bei einer Repräsentativbefragung der Landesstelle gegen die Suchtgefahren im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in den Jahren 1998/99 immerhin 5,1 % der 12- bis 13-Jährigen auf Eigenerfahrungen mit Cannabis hin. Das Alter der Studie ist kein Hinderungsgrund, um auf Widersprüche und Unvereinbarkeiten in den Daten und Rückschlüssen unterschiedlicher Studien zum Drogengebrauch junger Menschen aufmerksam zu machen.
Cannabis ist in jedem Falle über alle Altersstufen verteilt die am häufigsten benutzte illegale Droge in Deutschland. Die Aufschlüsselung nach Altersgruppen in den BZgA-Studien wie in den Epidemiologischen Suchtsurveys des Instituts für Therapieforschung München der Jahre 2005 und 2010 zeigen jedoch, dass die Spitzen des Konsums jeweils zwischen etwa 18 und 29 Jahren liegen. Mit zunehmendem Alter verringert sich der Konsum von Cannabisprodukten zwar stetig. Bezüglich älterer Konsumentengruppen weist der Suchtsurvey von 2005 aber immerhin noch eine Quote von 22,9 % aller aktuellen erwachsenen Cannabisgebraucher aus, die an mindestens 20 Tagen im Monat auf die Droge zugreifen. Insgesamt streuen die Konsummuster zwischen Probierkonsum, gelegentlichem Gebrauch und chronischem Missbrauch breit, bewegen sich aber auf hohem Niveau. Der von der BZgA-Studie 2010 ermittelte Wert von 3,2 % regelmäßiger Cannabiskonsumenten bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren entspricht in absoluten Zahlen einer Anzahl von rund einer viertel Million Menschen bundesweit. Dazu kommen ungemein viele jüngere Heranwachsende, die als Dauerkonsumenten von Cannabis täglich oder mehrfach täglich kiffen, häufig auch allein ohne Clique.
Wie kommt es zum Erstkontakt von Kindern und Jugendlichen mit Cannabis? Wiederholte Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestätigen, dass 97 % der Probierer Haschisch oder Marihuana beim ersten Mal von Freunden, guten Bekannten oder gar eigenen Familienmitgliedern bekommen. Die Cannabisverführung durch den »unbekannten Dritten« findet demnach nicht statt. Sie gehört definitiv ins Reich der Unsicherheit verbreitenden Sagen und Legenden.
Das durchschnittliche Einstiegsalter für die erste Bekanntschaft mit Cannabisprodukten wird in den Drogenaffinitätsstudien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit über 16 Jahren angegeben. Viele Konsumenten geben ihren Experimentiergebrauch von Haschisch und Marihuana nach wenigen Erfahrungen bereits wieder auf. Nicht wenige benutzen Cannabis indes über Monate oder Jahre hinweg. Letzteres macht auf einen eher versteckten Aspekt des Gebrauchs von Cannabis aufmerksam: Eine schwer zu beziffernde Zahl von Erwachsenen, die ich repräsentativ nicht erfasst sehe, nimmt immer mal wieder oder sogar gewohnheitsmäßig Haschisch und Marihuana zu sich. Manche bedienen sich der Mittel bereits seit 20 Jahren und länger und haben nicht die Absicht, ihren Umgang damit zu beenden. Ein Ausstieg aus dem Konsum von Cannabis ist jedoch zu jedem Zeitpunkt möglich, vorausgesetzt, die Person verfügt über die nötige Motivation.
Auf und Ab: Tendenzen
und Trends
Der Vergleich europaweiter Cannabisstudien unterstreicht die gravierend veränderte Tatsache, dass mittlerweile mindestens jeder zweite Konsument von Cannabis über parallele Erfahrungen mit zusätzlichen illegalen Drogen verfügt, vorzugsweise mit Halluzinogenen und Partydrogen wie Ecstasy oder Amphetaminen. Alkohol und Zigaretten sind bei nahezu allen Kiffern selbstverständlich, es sei denn, sie bezeichnen sich als »Protestkiffer«, die Alkohol als Gesellschaftsdroge ausdrücklich ablehnen. Deren Zahl ist allerdings eindeutig im Sinken begriffen, während sich die Tendenz zum Mischkonsum illegaler Rauschmittel in den letzten Jahren deutlich wahrnehmbar verstärkt.
Rein bezogen auf Cannabisprodukte lässt sich für die heutige Situation in Deutschland zusammenfassend festhalten, dass ein Großteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr oder weniger intensive Eigenerfahrungen mit Haschisch und Marihuana aufzuweisen hat. In manchen Altersstufen erreicht ihr Anteil mit Sicherheit über 40 %.
Der Vergleich europäischer wie nationaler Studien zum Cannabiskonsum aus den Jahren 2004 bis 2011 zeigt gegenüber älteren repräsentativen Umfragen und Erhebungen eher einen mehrdeutigen als eindeutigen Trend. Die in den Studien sowie in den darauf beruhenden Drogen- und Suchtberichten der Bundesregierung drogenpolitisch einhellig als erfreulich gewertete Nachricht ist die Tatsache, dass der Cannabiskonsum bei jungen Erwachsenen insgesamt signifikant rückläufig ist. Die Lebenszeitprävalenz, also die Anzahl der jungen Leute, die mindestens eine Probier- und Eigenerfahrung mit Cannabis aufzuweisen haben, stieg seit den ersten Datenerfassungen 1979 bis zum Jahr 2004 stetig und rasant an. In der Drogenaffinitätsstudie von 2004 hatte sie bei den Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren mit 15,1 % und bei den jungen Erwachsenen von 18 bis 25 Jahren mit 43 % jeweils Spitzenwerte erreicht. Seither ist die Tendenz über die gesamte Altersspanne fallend und erreicht 2010 für die 12- bis 17-Jährigen 7,4 % und für die jungen Männer und Frauen zwischen 18 und 25 Jahren die Quote von 35 %. Für die 12-Monats-Prävalenz gilt Gleiches: Über den gesamten Beobachtungszeitraum bis 2004 steigt die Anzahl der 12- bis 25-Jährigen, die im letzten Jahr wenigstens einmal Cannabis konsumiert haben, stetig an. Zwischen 2004 und 2008 ist sowohl bei Jungen wie Mädchen ein signifikanter Rückgang zu verzeichnen. Der Epidemiologische Suchtsurvey von 2008 bestätigt diese Tendenz auch für die Altersgruppe der 18- bis 39-jährigen Erwachsenen.
Die Studie der BZgA von 2010 weist aber plötzlich wieder umgekehrte Trends aus. Ist die Lebenszeitprävalenz über alle Altersspannen nach wie vor sinkend, finden sich in der 12-Monats- und 30-Tages-Prävalenz sowie beim regelmäßigen Cannabiskonsum mehrdeutige Tendenzen. Fallen bei manchen Altersgruppen die Konsumraten zwischen 2008 und 2010 weiter geringfügig ab, steigen sie umgekehrt bei anderen seit 2008 sogar wieder an, vor allem bei den männlichen Konsumierenden zwischen 18 und 21 Jahren sowie bei den jungen Männern wie Frauen zwischen 22 und 25 Jahren. In den Fazits der BZgA-Studie sowie im Drogenbericht der Bundesregierung von 2011 finden diese Umkehrtrends keine Erwähnung.
Wie lassen sich diese gegenläufigen Beobachtungen erklären? Auf der Positivseite dürfen wir zum einen berechtigterweise eine Wirksamkeit der cannabisspezifischen wie stoffunspezifischen Präventionsbemühungen der vergangenen Jahre vermuten. Zum anderen hat sicherlich die allgemeine Tabakprävention einen Teil zum Rückgang des Rauchens von Haschisch und Marihuana beigetragen. Das Elend der Drogen- und Suchtprävention ist schließlich nicht, dass sie keine Wirksamkeit zu entfalten vermögen, sondern dass sie mit gänzlich ungleichen finanziellen, ideellen und logistischen Mitteln gegen eine einflussreiche Genuss- und Suchtmittellobby sowie gegen eine allgemeine Dynamik in der Gesellschaft gegenhalten sollen, die Drogengebrauch und süchtige Abhängigkeit systemimmanent jeden Tag neu hervorbringt. Auf der Negativseite müssen wir infolgedessen leider auch zur Kenntnis nehmen, dass Cannabis in der Beliebtheitsskala vieler potenzieller Konsumenten schlichtweg von einer anderen psychoaktiven Droge verdrängt wurde: Die legale Droge Alkohol hat ganz einfach Konjunktur. Wenn der generelle Rückgang des Cannabisgebrauchs im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von 2011 hervorgehoben wird, dann ist das zwar verständlich, weil die Tatsache natürlich als Erfolg der aktuellen Drogenpolitik verkauft wird. Aber es ist eben nur die halbe Wahrheit. Bedenkliche Tendenzen beim Alkoholmissbrauch junger Menschen sind die Kehrseite der Medaille. Ob der rückläufige Trend beim Gebrauch von Cannabis stabil sein wird, muss sich darüber hinaus erst noch langfristig erweisen. Man braucht eigentlich kein großer Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass sich der gegenwärtige Trend irgendwann erneut drehen wird. Erste Indizien finden sich ja bereits und verderben als Wermutstropfen die Feierlaune: Beim regelmäßigen Cannabiskonsum, der per se enger mit einem Risiko für die geistig-seelische Entwicklung Heranwachsender wie die Ausbildung cannabisbezogener Lebensprobleme verknüpft ist, zeichnet sich keine Entspannung ab. Die BZgA-Studien zeigen zwar für 2010, dass der zwischen 1993 und 2008 konstante Anteil der jungen Leute, die regelmäßig Cannabis konsumieren, bei den 14- bis 17-Jährigen gesunken ist. Bei den über 22-Jährigen zeigt sich 2010 aber bereits wieder die umgekehrte Richtung. Insgesamt verfestigt sich der regelmäßige Konsum von Cannabis eher, geschlechtsspezifisch bei den jungen Männern stärker als bei den jungen Frauen, wobei auch diese leicht zulegen.
Zu den weniger positiven Nachrichten und Trends gehört auch die Tatsache, dass sich bei einem relativ gleich bleibenden Anteil jugendlicher und junger erwachsener Cannabisgebrauchern die bedenklichen Konsummuster verhärten und in der Konsequenz die Anzahl cannabisspezifischer »Störungen« merklich ansteigt. Junge Männer sind weitaus häufiger betroffen als junge Frauen.
Eine andere,
zweite Wirklichkeit: Ergänzende
subjektive Wahrnehmungen
Jeder Statistik wohnt etwas Reduziertes inne. Wir alle kennen den häufig zitierten Satz: »Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast.« Das ist sicherlich überzogen. Doch ist jedes Abbild der Wirklichkeit nie die Wirklichkeit als solche. Selbst sich noch so sehr um Objektivität bemühende repräsentative Umfragen zum Cannabisgebrauch junger Menschen vermögen nur einen begrenzten Ausschnitt aus deren komplexen Lebensrealitäten zu einem festgelegten Zeitpunkt wiederzugeben. Sogar die Urheber der BZgA-Studie von 2010 räumen ein, dass die Ergebnisse ihrer repräsentativen Cannabisumfrage aufgrund der Fehlerquelle sozial erwünschten Antwortverhaltens eher unter- als überschätzt sind. Wer zudem einen Einblick darin hat, auf welch qualitativ fragwürdige Weise manche Erhebung zustande kommt, kann nur dafür werben, sie mit der gleichen Vorsicht zu genießen wie den Stoff selbst, um den sich alles dreht.
Einigen Daten aus den bislang erwähnten Studien stelle ich aufgrund eigener langjähriger Beobachtungen deshalb ergänzende Praxiserfahrungen gegenüber. Ich tue das auf zweierlei Weise: durch meine eigene subjektive Wahrnehmung aus dem Arbeitsalltag sowie durch Beobachtungen, wie sie junge Menschen selbst aus ihrem Umfeld schildern.
In meiner über 20-jährigen präventiven, beratenden und therapeutischen Arbeit bin ich Tausenden von Jugendlichen, jungen Männern und Frauen, Eltern, Lehrern und Multiplikatorinnen begegnet. Ich habe junge Menschen an allen Orten ihres Alltags getroffen: in Schulen jeglicher Schulform, Jugendfreizeiteinrichtungen, Wohngruppen, Sportvereinen, Betrieben und überbetrieblichen Ausbildungsstätten sowie an ihren informellen Treffs. Bin ich mit ihnen im Gespräch über Rauschmittel und insbesondere Cannabis, macht sich ein breites, bezeichnendes Grinsen auf ihren Gesichtern breit, wenn sie hören, dass etwa zwischen 7 % und 35 % einer bestimmten Altersstufe Haschisch und Marihuana konsumieren sollen. Nicht selten reagieren sie sogar mit ungläubigem Staunen. Nicht etwa, weil sie die Zahl für zu hoch gegriffen halten, sondern aus ihrer eigenen Beobachtung heraus für wesentlich zu niedrig. Wenn sie selber schätzen, wie viele Jugendliche über Erfahrungen mit Cannabisprodukten verfügen, nennen sie spätestens mit 16 bis 17 Jahren in großer Einhelligkeit wesentlich höhere Zahlen, nicht selten zwischen 50 % und 80 %. Standardäußerungen wie: »Das machen doch alle«, sind zwar nicht repräsentativ, doch in der Regel wissen Jugendliche recht genau, was sich in ihrem Umfeld abspielt. In manchen Schulklassen, an bestimmten Standorten oder in Freizeitcliquen, in denen klar festgelegt ist, wer dazugehört und wer nicht, greifen phasenweise nahezu alle männlichen Jugendlichen zu Haschisch oder Marihuana. Diejenigen, die das für ihre Person ablehnen, haben es schwer, ihren Standpunkt zu behaupten. Sie müssen sich gefallen lassen, als »Loser« oder »Weichei« tituliert zu werden. 20 % cannabiserfahrene Jugendliche eines Jahrgangs ab 14 bis 17 Jahren aufwärts sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die absolute Untergrenze. Nach oben ist die Skala offen, wobei 80 % im Durchschnitt ebenso entschieden zu hoch gegriffen sein dürften. Relativ in sich abgeschlossene Cliquen und Gruppen eher männlicher Jugendlicher, bei denen diese Zahl die Realität während einer begrenzten Lebensspanne ziemlich genau trifft, lassen sich allerdings leicht finden.
Solche Aussagen stehen jedenfalls in krassem Gegensatz zu den Feststellungen der BZgA-Cannabisstudie von 2010, dass nur etwa jeder Zehnte der 14- bis 17-jährigen Jugendlichen über eine Eigenerfahrung mit Cannabis verfüge und gar nur 0,9 % der Altersgruppe regelmäßig Haschisch oder Marihuana konsumiere. Möglicherweise scheuen wir uns nur, mit aller Konsequenz der Tatsache ins Auge zu blicken, dass wir zumindest für bestimmte Gruppen weitaus höhere Raten cannabiserfahrener und regelmäßig konsumierender junger Menschen annehmen dürfen, weil wir eine andere Realität einfach zu schockierend und vor allem politisch zu wenig korrekt fänden. In der Beängstigungsskala zahlreicher nicht ausreichend informierter Eltern rangiert Haschisch schließlich unmittelbar hinter der Heroinspritze.
Als Mitarbeiter einer Sucht- und Drogenpräventionsstelle kooperiere ich mit allen nur denkbaren Schulformen und Einrichtungen der sozialen Arbeit. Gleichgültig, ob es sich um Schulsozialarbeitsprojekte, Jugendzentren, andere offene Treffs, Wohngruppen, den sozialen Dienst von Jugendämtern, Beschäftigungsförderungsprojekte oder ehrenamtlich geleitete kirchliche Jugendgruppen handelt, die dort tätigen Mitarbeiter scheuen sich nicht, in großer Einmütigkeit zwischen 40 % und 80 % cannabiserfahrene junge Menschen zu schätzen, wenn sie an die »ganz normalen« Jungen und Mädchen denken, mit denen sie arbeiten. Irgendetwas kann also nicht so ganz stimmen: Entweder sind die offiziell verbreiteten Zahlen selbst neuester Studien zur Verbreitung von Cannabis unter den Heranwachsenden nicht stimmig, selbst wenn wir derzeit einen leicht rückläufigen Trend bestätigen können. Oder die Wahrnehmungen der jungen Menschen selbst sowie vieler Mitarbeiter in der sozialen Arbeit sind falsch. Persönlich bin ich klar entschieden, worauf ich mehr vertraue.
Die Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2008 beziffert die Zahl der drogenerfahrenen Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren mit 0,4 %, die Studie von 2010 mit 1,3 %. Das als Durchschnitt ermittelte Einstiegsalter für den Erstgebrauch von Cannabis wird in den Umfragen von 2004 und 2008 mit über 16 Jahren angegeben. Keine der beiden Aussagen vermag ich so zu bestätigen. Seit Jahren ist zu Recht davon die Rede, dass das Einstiegsalter für illegale Drogen ständig im Sinken begriffen ist. Wer unter diesen Umständen weiterhin davon ausgeht, dass nur 1,3 % der unter 14-Jährigen Erfahrungen mit Cannabis hat, verfehlt die Realität. In den meisten Schulklassen, die der Altersstufe 13 entsprechen, findet sich wenigstens ein Schüler, der bereits Haschisch oder Marihuana probiert hat. Eher sind es sogar 3 bis 4 Schüler, die über entsprechende Erfahrungen zu berichten wissen. Es lässt sich leicht unterscheiden, ob ihre Erzählungen authentisch sind oder ob sie sich nur interessant machen wollen. Bei der weitverbreiteten Klassenstärke von etwa 30 Schülern entspräche das immerhin einem Anteil von 3 bis 12 % 13-jähriger Schüler mit Cannabiserfahrungen, vorwiegend im Probier- und Experimentierstadium. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um Jungen. Die geschlechtsspezifische Komponente des Kiffens ist mithin deutlich bestätigt. Als Junge oder Mädchen mit 13 oder 14 Jahren Cannabis zu benutzen ist glücklicherweise nicht die allgemeine Norm. Das durchschnittliche Alter für den Erstgebrauch der Droge muss jedoch deutlich nach unten korrigiert werden, denn mit 14 bis 15 Jahren steigen die Zahlen der haschisch- und marihuanaerfahrenen jungen Menschen sprunghaft an. Wer tagtäglich präventiv wie beratend mit Heranwachsenden beiderlei Geschlechts praktisch arbeitet und nicht bloß Daten über deren Lebensrealität erhebt, kann zu keinen anderen Schlüssen kommen. Die jüngsten Kiffer, mit denen ich in den letzten Jahren gesprochen habe und die es bereits faustdick hinter den Ohren hatten, waren gerade mal 11 und 12 Jahre alt geworden.
Es wäre wichtig, dass es gemeinsam gelänge, den eindeutigen Trend nach unten und den frühen Einstieg in den Gebrauch von Cannabis wie Alkohol zu stoppen, denn jedes gewonnene Jahr vor dem ersten Probierkonsum einer psychoaktiven Droge ist von unschätzbarem Wert für eine angemessene körperliche und seelische Entwicklung der Heranwachsenden. Das wissen wir nicht erst seit den Erkenntnissen der neueren Hirnforschung. Diese unterstreichen bloß noch einmal ausdrücklich die Dringlichkeit unseres Unterfangens aus hirnorganischer wie entwicklungspsychologischer Sicht.
Relativierende Einschätzungen:
Sorge ja, Panik nein!
Es gibt berechtigten Anlass, uns zu sorgen, jedoch keinen für Dramatisierung oder gar Panik. Alle Daten und Fakten zur Verbreitung von Cannabis lassen sich nur richtig verstehen, wenn man sie in die notwendige Relation zu einem Gesamtbild setzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen ab 13 oder 14 Jahren aufwärts zu irgendeinem Zeitpunkt während der Pubertät und Adoleszenz ausprobieren, wie es ist, bekifft zu sein, ist hoch. Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen machen diese Erfahrung. Das vermag vor allem Mütter und Väter zu beunruhigen oder gar zu ängstigen. Man darf bei der Einschätzung der Cannabisverbreitung allerdings nicht übersehen, dass der Gebrauch von Haschisch, Marihuana und weiterer illegaler Drogen für die weitaus meisten jungen Menschen ein Übergangsphänomen ist. Auf ihrem schwierigen Weg vom Kind über den Jugendlichen zum Erwachsenen spielen Cannabisprodukte phasenweise eine für ihre Persönlichkeitsentwicklung bedeutsame Rolle. Nach erfolgreicher Bewältigung der entsprechenden Lebensaufgaben durch die Heranwachsenden verlieren die Substanzen ihre Rolle wieder. Trotz der enormen Verbreitung von Cannabis kann es daher relativ entlastend sein, zu wissen, dass nur ein sehr begrenzter Teil der Haschisch und Marihuana gebrauchenden jungen Menschen in ernsthafte Schwierigkeiten mit den Drogen gerät. Selbst jene, welche durch ihren Cannabisgebrauch im Strudel des Lebens weit nach unten gesogen werden, können wieder auftauchen. Wer die innere Entscheidung trifft, sein Verhältnis mit der Rauschdroge zu beenden, kann sein Leben jederzeit neu ordnen. Es gibt bei Haschisch und Marihuana keine »Deadline« und keinen »Point of no return«. Eine Aussage ist allerdings uneingeschränkt gültig: Je früher ein Heranwachsender mit dem Gebrauch von Cannabisprodukten beginnt, je regelmäßiger, länger, öfter und höher dosiert er das Mittel seiner Wahl benutzt, desto schwieriger wird er den Ausstieg finden.