Die Augen öffnen
für die Einstiegsdrogen
Die beliebte Diskussion darüber, ob Cannabis als Einstiegsdroge zu bewerten ist oder nicht, nimmt leicht den Charakter einer »Gespensterdiskussion« an. Mit welchem Sinn oder Unsinn sie geführt wird, hängt davon ab, wer sich mit welcher Absicht in die Debatte einmischt. Landläufig hält sich hartnäckig die Meinung, Haschisch und Marihuana seien Einstiegsdrogen und der Anfang vom Ende einer zerstörerischen Drogenkarriere. Diese Ansicht ist ebenso falsch wie Unheil stiftend, wenn sie beispielsweise bei Eltern überzogene Ängste schürt. Cannabis kann eine Substanz unter anderen sein, die von Menschen konsumiert wird, die den Weg in eine ernsthafte Rauschmittelabhängigkeit beschreiten. Ein zwangsläufiger Umstieg von Cannabis auf härtere Drogen findet aber nicht statt.
Nichtsdestotrotz ist es ratsam, ein wachsames Auge auf Haschisch und Marihuana zu haben, wie ein 35 Jahre alter Sozialarbeiter aus eigener Betroffenheit zu bedenken gibt:
»Ganz am Anfang dachte ich auch immer, Kiffen ist halb so wild und Haschisch ist keine Einstiegsdroge. Erst als ich vor Jahren längere Zeit selbst gekifft habe und kurz davor war, aus dem Fenster zu springen, weil meine Erlebnisse mit Haschisch mich so weit gebracht hatten, habe ich angefangen, das anders zu sehen. Ich habe die Kurve noch gekriegt. Wer mit der Droge selbst nie was zu tun hatte, kann leicht reden. Aber viele von denen, die am eigenen Leib erfahren haben, wohin man damit kommen kann, sehen manches anders. Aus meiner heutigen Distanz und bei dem, was ich in meiner Arbeit mit Jugendlichen beobachte, sage ich zwar klar, dass die eigentlichen Einstiegsdrogen viel eher Zigaretten und Alkohol sind. Aber so ganz ausnehmen mag ich Haschisch davon nicht.«
In der Tat sollten wir uns ebenso davor hüten, Cannabis zu verniedlichen, wie seine unheilvolle Rolle als Einstiegsdroge zu beschwören. Befragungen von süchtig abhängigen Heroin-, Kokain- und Crackkonsumenten zeigen in der Regel, dass viele von ihnen als erste illegale Droge Cannabis konsumiert haben, aber längst nicht alle. Uneingeschränkt alle haben indes frühzeitig in ihrem Leben ganz legal zu normalen Zigaretten und zu Alkohol gegriffen. Cannabis ist zweifelsfrei das meistgebrauchte illegalisierte Rauschmittel. Doch nur ein kleiner Teil der Haschisch- und Marihuanakonsumenten probiert jemals Opiate. Selbst wenn Cannabis zusammen mit Partydrogen gebraucht wird, bleibt die Grundtendenz bestehen, dass die wenigsten dieser Mischkonsumenten auf Kokain oder Heroin umsteigen. Sogar diejenigen Drogengebraucher, die direkt mit synthetischen Drogen einsteigen, wählen als Zweitmittel eher Cannabis, das in der Substanzhierarchie unter den »Party«-Drogen rangiert. Nur etwa 6 bis 7 % aller drogenerfahrenen jungen Menschen haben überhaupt jemals Heroin probiert. Selbst das bedeutet noch nicht, dass sie an der Spritze hängen und eine Drogenkarriere bis zum bitteren Ende durchlaufen.
Halten wir fest: Perspektivisch betrachtet bedeutet der Gebrauch von Haschisch und Marihuana nicht den automatischen Einstieg in eine nachfolgende Suchtkarriere. Ein anderer Zusammenhang ist dagegen deutlich wahrscheinlicher: Jugendliche Zigarettenraucher freunden sich wesentlich häufiger mit Haschisch und Marihuana an als jugendliche Nichtraucher.
Wir können kaum genug betonen: Die Einstiegsdrogen in unserer Kultur sind ganz eindeutig Shishatabak, Zigaretten, Alkohol und legale Medikamente, die überall und uneingeschränkt verfügbar sind, selbst wenn der Erwerb für Minderjährige leicht erschwert worden ist. Es dürfte kaum einen Menschen in unserer westlichen Kultur geben, der nicht frühzeitig in irgendeiner Weise mit Nikotin und Alkohol in Kontakt kommt. Das geschieht ganz legal und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Die Verschreibung von Abhängigkeiten erzeugenden Medikamenten ist gleichfalls weitverbreitet.
Tabak und Alkohol als Genuss- wie Suchtmittel werden mit gewissen Einschränkungen völlig ungeniert und mit großem materiellem wie ideenreichem Aufwand beworben. Die Tabak- wie Alkoholindustrie verfügen über eine mächtige Lobby, von der Macht der Pharmafirmen gar nicht erst zu reden. Wie es allen jeweils gelingt, ihre wirtschaftlichen Strategien immer aufs Neue durchzusetzen, ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, wo die Macht ist und um wessen Interessen es in unserer Gesellschaft geht. Die Interessenlage der mächtigen Tabak- und Alkoholindustrie, die millionenschweres Sponsoring betreiben, wiegt gewichtiger als der Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen oder Nichtrauchern. Das politische Gezerre um einen wirksamen Nichtraucherschutz, der infolge der föderalen Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer in Deutschland durch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse, könnte entlarvender nicht sein. Gesundheitsschutz gerät so zum Trauerspiel mit Possencharakter.
Ein zweites Beispiel dafür, wie wenig der Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen das wirtschaftliche wie politische Handeln leitet, macht es noch deutlicher: Völlig ungeniert und unter weitreichender Umgehung bestehender Altersbeschränkungen werden Minderjährige an die Volksdroge »Nummer eins«, den Alkohol, herangeführt. Die Einstiegsdrogen, die alles andere in den Schatten stellen, sind in den letzten Jahren die immer wieder neu kreierten Mixgetränke bekannter Brauereien: Cola + Bier + X, Apfelsaft + Bier oder weitere fantasievolle alkoholhaltige Mixturen auf stärkerer, spirituosenhaltiger Basis. In Unkenntnis ihres für Kinder nicht unbeträchtlichen Alkoholgehaltes werden solche Getränke häufig sogar von Erwachsenen Kindern und Jugendlichen großzügig zur Verfügung gestellt. Diese Getränke sind ein präventives Ärgernis. Sie erobern massiv den Markt und erfreuen sich dort auch einer überaus großen Nachfrage. Eine zwischenzeitliche Steuererhöhung für »Alkopops« hat zwar deren Marktanteil wieder nach unten gedrückt, doch dafür boomen die spirituosenhaltigen Getränke oder gleich die puren harten Alkoholika. Alkopops haben zum Einsteigen jedenfalls ihren Zweck erfüllt. Mittlerweile halten sich die jungen Leute mit solchen halben Sachen gar nicht erst lange auf, sondern greifen direkt zu prozenthaltigeren Getränken. Komasaufen bei Jugendlichen ist echt angesagt. Der Szenespruch: »Wer nicht kotzt, trinkt nicht am Limit« ist ein beredtes Motto. Wer als Mutter oder Vater von seinen Söhnen oder Töchtern zu hören bekommt, sie gingen »Flunky-Ball« spielen, sollte nicht dem Irrtum erliegen, es handele sich dabei um eine angesagte ligataugliche Ballsportart. Hinter dem unschuldig klingenden Namen verbirgt sich eines der meistverbreiteten Mannschaftsspiele zum Wettkampftrinken.
Sofern irgendwo die berechtigte Rede davon sein kann, dass Kinder und Jugendliche mit voller Absicht zu Suchtmitteln verführt werden, dann gilt das jedenfalls am ehesten für Alkohol. Mit geschickten Marketingstrategien und massivem Aufwand werden gezielt jugendliche Zielgruppen angesprochen, um ihnen die jeweils neuen Alkoholmixgetränke schmackhaft zu machen. Bei Jugendkultur- und Sportveranstaltungen treten diverse Hersteller alkoholhaltiger Getränke regelmäßig als großzügige Sponsoren auf. Die Massensportart Fußball ist ohne den Mitspieler »Alkohol« nicht denkbar. Haben die Getränkehersteller ihre Marken erst einmal am Markt platziert, ist es keinesfalls übertrieben zu sagen, dass Biere und alkoholhaltige Mischgetränke von zahlreichen Kindern und Jugendlichen palettenweise »abgepumpt« werden, insbesondere bei Partys oder regelmäßigen Treffen an den bevorzugten Freizeitorten jugendlicher Cliquen. Mehrere 0,5-Liter-Dosen oder -Flaschen pro Tag sind für viele bereits Gewohnheit: »Das ist doch nicht schlimm«, »Das macht mir gar nichts aus« oder »Die anderen machen das doch auch alle« sind nicht selten gehörte Äußerungen 13- bis 14-jähriger Jungen und Mädchen. Bezeichnenderweise existiert wenig Bewusstsein dafür, dass sie mit ihren Trinkgewohnheiten für sie nicht verträgliche Mengen von Alkohol zu sich nehmen. Die Gewöhnung an den regelmäßigen Alkoholkonsum geschieht schleichend, und Geschmack lässt sich trainieren. Die Verantwortung für den derzeitigen Alkoholmissbrauch von Kindern und Jugendlichen liegt zu großen Teilen bei den Produzenten der Getränke. Zwar zwingt niemand die Jugendlichen dazu, kastenweise Bier und unzählige Flaschen härterer Alkoholika wie Wodka, Rum, Tequila und sonstige Favoriten zu kaufen, aber für die Kinder unter ihnen gilt der Titel des berühmten Films mit James Dean: »Denn sie wissen nicht, was sie tun«. Zu dreist und unverfroren werden ihnen die Produkte schmackhaft gemacht, so als seien sie unverzichtbar für ihren Lifestyle. Wer dazugehören will, macht beim Trinken von Alkohol mit.
In persona würden sich alle Hersteller und Händler der angesagtesten Alkoholika sicherlich heftig dagegen verwahren, wenn wir sie als legale Großdealer bezeichnen würden, die wissentlich und voller Absicht in Kauf nehmen, dass sie Kinder und Jugendliche auf unlautere Art an das Trinken von Alkohol heranführen. Fakt ist, dass sie genau das tun. Das als Einstiegsdroge so gerne diffamierte Cannabis spielt dagegen eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Geradezu lächerlich mutet es an, wenn entsprechende Unternehmen als Entgegnung auf die von Suchtpräventionsstellen geäußerte Kritik an ihrem Geschäftsgebaren durch ihre Pressesprecher versichern lassen, sie hätten für ihre Getränke immer nur Zielgruppen ab 18 Jahren im Auge gehabt. Ihr konkretes Verhalten straft sie Lügen.
Übrigens: Wenn es um Einstiegsdrogen geht, sind in erster Linie die Erwachsenen gefordert. Kinder lernen unter anderem durch Vorbildverhalten. Wie gehen die Erwachsenen als Vorbilder in unserer Gesellschaft mit den Einstiegsdrogen Nikotin, Alkohol, Koffein und Medikamente um? Beantworten Sie als Leser und Leserin diese Frage bitte einmal ehrlich für Ihre eigene Person, auch wenn die Antwort nicht bequem ist. Das Kehren vor der eigenen Haustür ist bekanntlich immer am lästigsten, aber es beinhaltet die größten präventiven Chancen in Bezug auf die uns aufmerksam beobachtende nachfolgende Generation.
Kinder beklagen sich in Präventionsveranstaltungen regelmäßig darüber, wie sehr sie sich zu Hause durch rauchende Eltern oder Geschwister belästigt fühlen. Nicht immer reagieren die Erwachsenen auf die berechtigten Bitten von Kindern um Rücksichtnahme mit Verständnis. Findigen Kindern gelingt es bei einsichtigeren rauchenden Eltern allerdings immer häufiger, sich rauchfreie Zonen zu erkämpfen. Wer als Mutter oder Vater in den eigenen vier Wänden seinem Rauchdruck nachgeht beziehungsweise als Lehrer in Schulen, Kollege in der Jugendarbeit oder als Angestellter im Betrieb die verbleibenden Raucherinseln aufsucht, verwirkt das Recht, von einer missbilligenden Warte herunter Jugendliche über Haschisch und Marihuana belehren zu wollen. Der Unterschied besteht nicht in erster Linie in Kategorien wie »legal – illegal« oder »erwachsen – nicht erwachsen«, sondern darin, wie verantwortungsvoll oder wenig pfleglich jemand für die eigene Person und Gesundheit sorgt. So einfach ist das und so unbequem.