Legende
oder Wahrheit?
Das amotivationale
Syndrom
Menschen, die immer nur arbeiten,
haben keine Zeit zum Träumen,
und nur, wer Zeit zum Träumen hat,
findet Weisheit.
(Smohalla)
Ein Hauptargument, das immer wieder gegen Cannabis ins Feld geführt wird, ist die Annahme, dass sein Gebrauch bei den Konsumenten über kurz oder lang zur Entwicklung eines sogenannten »amotivationalen Syndroms« führe. Seit seiner »Entdeckung« in den 60er-Jahren ist die Existenz eines solchen Syndroms der Teilnahmslosigkeit, Lustlosigkeit und Passivität in der Auseinandersetzung um das Für und Wider von Cannabis heftig umstritten.
Der mit dem amotivationalen Syndrom einhergehenden Lebenshaltung werden folgende Kennzeichen zugeschrieben:
-
ein herabgesetztes Antriebs- und Aktivitätsniveau,
-
eine Verächtlichkeit gegenüber den Erfordernissen des Lebensalltags,
-
mangelndes Durchhaltevermögen und eine geringe Fähigkeit, Frustrationen oder Enttäuschungen zu ertragen,
-
Aufgabe längerfristiger und Beharrlichkeit erfordernder Lebenspläne,
-
wenig zielgerichtete Orientierung auf die eigene Zukunft, dafür aber Durchsetzungsfähigkeit bei der Verfolgung lustbetonter Aktivitäten im unmittelbaren Hier und Jetzt,
-
achselzuckende Gleichgültigkeit gegenüber den Anforderungen von Eltern, Schule, Beruf und inneren Bindungen an andere Menschen,
-
fehlende Leistungsorientierung und Entfremdung von den Normen der Arbeitswelt.
Die den Cannabisgebrauchern mit dem amotivationalen Syndrom unterstellte »Null-Bock«-Haltung wird von diesen ganz lässig mit dem Satz gekontert: »Haschisch macht gleichgültig. Na und? Ist doch mir egal.« Die fachliche Diskussion um ein entsprechendes Risiko ihres Cannabisgebrauchs interessiert sie wenig. Für sie kommt ihr wahrscheinlich nicht mehr Bedeutung zu als dem wenig ernst zu nehmenden »Geblubber« in den Sprechblasen billiger Comichefte oder dem trügerischen »Neusprech« so vieler Politiker.
Dass es in der Realität in stetig wachsendem Maße so etwas wie das »amotivationale Syndrom« gibt, vermag indes jeder zu sehen, der mit offenen Augen durch die Welt geht und aufmerksam die Entwicklungen rund um jedweden Cannabisgebrauch verfolgt. Mit der bloßen Existenz von Cannabis hat das allerdings nur bedingt zu tun. Es ist wie mit der bekannten Frage: »Was war zuerst? Die Henne oder das Ei?« Cannabis muss in großen Teilen als Sündenbock für etwas herhalten, dessen Ursachen ganz woanders zu finden sind.
Das Bild, das mit dem »Null-Bock«-Syndrom gezeichnet wird, ist leider nicht bloß ein Phantom, sondern in der Tat eine gewachsene Realität, aber zuvörderst eine ungeheure Anmaßung desjenigen Teils der Erwachsenenwelt, welcher die gesellschaftlichen Normen der Leistungsgesellschaft zur Allgemeingültigkeit erhoben und sich den »Märkten« ergeben hat. Unerwünschte Abweichungen von der Norm werden mithilfe eines wissenschaftlich verbrämten Mäntelchens und entsprechender Definitionsgewalt psychiatrisiert und als krankhaft eingestuft.
Menschen, die uns unliebsame Probleme bereiten, mit der Waffe psychiatrischer Diagnostik auszugrenzen, ist ein bequemes Vorgehen. Es enthebt der Verantwortung, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, ob sich durch ihr Verhalten etwas mitteilt. Viele junge Menschen, denen ein Fehlen jeglicher Leistungsmotivation vorgehalten wird, vermitteln eine klare Botschaft: »Auf ein Leben, wie ihr Erwachsenen es führt und wie ihr es auch von uns erwartet, haben wir keine Lust.« Das Hamsterrad des tagtäglichen Einerleis von »métro, boulot, télé, dodo« (d. h.: zur Arbeit hetzen, sich abrackern, Fernsehen glotzen und ins Bett fallen), wie die Bewohner der Metropole Paris es treffend auf den Punkt bringen, ist das Gegenteil eines erfüllten Lebens. Insofern beinhaltet die Ablehnung des einseitigen Vorrangs der wirtschaftlichen Leistungsorientierung unserer Gesellschaft erst einmal überaus gesunde Anteile. Cannabisgebraucher, die den Stempel des amotivationalen Syndroms aufgedrückt bekommen, wirken in dieser Hinsicht auf mich häufig spürbar gesünder als manche Menschen, die sich aufgrund ihrer Position dazu berufen fühlen, eine solche Diagnose zu stellen, und deren hervorstechendste Eigenschaft ansonsten ihr angepasstes Funktionieren bis hin zur Arbeitssucht ist.
Einen Nachteil bringt eine Lebenshaltung, die mit dem amotivationalen Syndrom beschrieben wird, freilich mit sich: Kiffer, die wenig geneigt sind, sich herkömmlichen Normen entsprechend anzustrengen, haben es sozial schwer. Gemessen an Lebenswegen, die in unserer Gesellschaft als erfolgreich betrachtet werden, haben sie keine vorzeigbaren Erfolge aufzuweisen. Aber viele Kiffer, für die es in ihrem Leben Wichtigeres gibt als Leistungsmotivation, verbuchen für sich anders geartete Erfolge. Sie leben den Luxus des Zeithabens, des Nichtstuns, indem sie sich so lange durchs Leben mogeln, wie sie die Chance dazu haben. Sie sind überaus zielstrebig und motiviert bei der Durchsetzung ihrer lustbetonten statt leistungsorientierten Lebenshaltung. Sie geben sich dem Müßiggang hin, genießen ihr Bekifftsein. Ihr Credo lautet: »Ich kiffe, also bin ich.« Will sagen:
»Ich bin einfach da im Leben. Hier und heute will ich was vom Leben haben. Was morgen ist, lasse ich einfach auf mich zukommen. Wenn ich Lust habe, zu arbeiten, arbeite ich, wenn nicht, dann eben nicht.«
Oder wie Amon Barth in »Mein Leben als Kiffer« schreibt:
»Wir sind einfach nur da, immer gleich und doch immer anders. Wir genießen es, jedes Mal die gleichen Dinge zu tun, Abwechslung brauchen wir keine. Wir haben das Gras und uns – das reicht.«
Diese innere Haltung ist in höherem Maß eine Reaktion auf die Krankheit unseres materialistischen Zeitgeistes als ein individuelles Verhalten mit psychiatrischem Krankheitswert. Jemand, der selbst nur am Hetzen und Rennen ist, damit er im Wettlauf um den Aufstieg auf der Karriereleiter bloß nicht hinten liegt, muss ob solcher Provokation vor Neid erblassen. Das bis heute unbegrenzte Haltbarkeitsdatum der Diagnose »amotivationales Syndrom« erfüllt eine gesellschaftlich benötigte kollektive Abwehrfunktion, damit nur ja nicht mehr Menschen auf den äußerst sinnvollen Gedanken kämen, weniger zu arbeiten, um mehr zu leben.
Diese Gedanken stelle ich an den Anfang meiner Einschätzungen des amotivationalen Syndroms. In einer differenzierteren Betrachtung müssen wir heutzutage aber zur Kenntnis nehmen, dass wir die Existenz des Syndroms nicht abtun können. In Form konkreter Lebensschwierigkeiten, in welche sich intensive Cannabisgebraucher bringen, gewinnt es zunehmend an Bedeutung. Es wäre sträflich, diese Tatsache ausblenden zu wollen. Bis etwa in die Jahre zwischen 1990 und 2000 konnten wir noch mit gutem Gewissen behaupten, dass kein nachweisbarer Zusammenhang zwischen längerfristigem Cannabisgebrauch und zwangsläufig abfallender Leistungsmotivation zu belegen war. Bei sorgfältiger Auswertung aller ernst zu nehmenden Studien zum amotivationalen Syndrom bis zu besagtem Zeitpunkt durften wir diesen Schluss noch ziehen. Doch Zeiten und Umstände haben sich in einem Maße geändert, dass sich heutzutage auch andere Einschätzungen aufdrängen.
Cannabiskonsum führt nach allem, was wir heute darüber wissen, nicht zu zwangsläufiger Demotivierung in Bezug auf Leistung und Zukunftsplanung. In der Regel unterscheiden sich gemäßigte Cannabisgebraucher in ihrer Leistungsmotivation nicht erkennbar von ihren nicht kiffenden Altersgenossen. Sehr viel anders sieht es jedoch in den Fällen aus, in welchen Jugendliche sehr frühzeitig in den Konsum von Cannabis einsteigen, ihren Gebrauch rasch steigern und sich schließlich zu denjenigen Kiffern entwickeln, die langfristig täglich intensiv konsumieren. Da braucht man kein großer Prophet zu sein, um voraussagen zu können, welches Bild sie abgeben werden: Ihr Antriebs- und Aktivitätsniveau werden sinken; mit ihrem zunehmend gegen null gehenden Durchhaltevermögen bei der Planung und Verfolgung von Lebensplänen werden sie sich eine solche Menge von Enttäuschungen einhandeln, dass ihr Selbstwertgefühl in untolerierbarem Maße leidet; die Abwärtsspirale durch die zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber Schule, Beruf, Eltern und inneren Bindungen werden sie durch Achselzucken oder grandioses Gehabe auszugleichen suchen. Kurz: Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit das Vollbild des »amotivationalen Syndroms« ausbilden, aber innerlich und heimlich martern sie sich mit der Frage: »Wer bin ich?« Dieser Frage gegenüber entwickeln sie nicht wirklich Gleichgültigkeit. Anzulasten ist die Entwicklung zur Demotivierung einer unglückseligen Mischung aus gesellschaftlichen, familiären und individuellen Umständen sowie ganz eindeutig der mächtigen Eigendynamik der Droge Cannabis und ihrer langfristigen Substanzwirkung auf junge Konsumenten, denen sowohl die allgemeinen Lebenskompetenzen als auch die drogenspezifischen Kompetenzen zu einem kontrollierten, unschädlichen Gebrauch von Haschisch und Marihuana fehlen. Diese Behauptung ist bei den Anhängern von Cannabis sicherlich nicht uneingeschränkt populär. Doch jemand, der es wissen muss, Amon Barth, fasst als Exkiffer, der jahrelang genau diesen Weg nach unten beschritt, seine Erfahrungen mit erlebter Gleichgültigkeit in den wenig spektakulär klingenden Sätzen zusammen:
»Seitdem ich regelmäßig kiffe, sind mir einige Dinge viel gleichgültiger geworden. Ich mache mir keine Sorgen mehr darum, wer nun mein Freund ist und wer nicht oder was die anderen für Probleme haben. Solange jemand da ist, mit dem ich kiffen kann, ist alles in Ordnung.«
Alles im Leben wird gleich-gültig, oder umgekehrt: gleich unbedeutend. Das Einzige, was zählt, ist das Kiffen; und ein leiser innerer Restzweifel, wie wiederum Amon Barth bestätigt:
»Manchmal denke ich, dass ich mir nichts dazukiffe, keine neue Welt, … sondern dass ich mir etwas wegkiffe: meine wirklichen Interessen.«
In aller Regel finden sich die Ursachen für die demotiviert-resignative Lebenshaltung in einer familiären oder sonstigen sozialen Vorgeschichte der Kiffenden. Nicht selten sind sie bereits depressiv herabgestimmt und gebrauchen Cannabis anfangs mit dem Ziel, das Leid ihrer gequälten Seele zu lindern. Unglücklicherweise erfahren Gewohnheitskiffer mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Verminderung der Anandamidrezeptoren im Gehirn eine zusätzliche zweite Down-Regulierung. Ihr nicht von der Hand zu weisendes Risiko besteht folglich darin, dass sie durch ihren Cannabisgebrauch in einen schwer zu durchbrechenden Teufelskreis gelangen. Haschisch ist zwar in der Regel nicht der alleinige Verursacher ihrer Schwierigkeiten, aber es beschert ihnen aufgrund seiner spezifischen Wirkungen zusätzliche Probleme. Für junge Menschen mit depressiver oder amotivationaler Vorbelastung ist Cannabis im wahrsten Sinne des Wortes ein Gift, das die Nutzung von Lebenschancen empfindlich behindert.
Wie belastend die Wesensveränderungen junger Menschen unter dem ständigen Einfluss von Cannabis für deren Angehörige sein können, beschreibt mir eine Mutter in einem Brief, der für sie ein Notruf ist:
»Mein Sohn, 20 Jahre, verhält sich seit fast 3 Jahren konstant unmotiviert, sehr antriebslos, tagsüber ständig müde, schlecht gelaunt, launisch. Zu Hause zieht er sich zurück, weicht den Gesprächen aus, findet alles blöd hier, geht jeden Abend zu Freunden, wo die meisten auch kiffen, kommt spät nach Hause, schwänzt die Berufsschule. Körperlich lässt er sich auch schon lange hängen. Morgen … sagt er, alles möchte er ›morgen‹ beginnen, verändern – aber nichts tut sich. Ich habe Angst, dass er gar nicht mehr aus dieser Antriebslosigkeit rauskommt und vielleicht noch ganz depressiv wird. Aber er weicht jedem Gespräch aus. Nichts hilft – kein Streiten, Drohen, Sprechen, Mutmachen – nichts. Es liegt eine Spannung in unserem Familienleben. Jedes Mitglied leidet auf seine Weise. Nichts hat bis jetzt geholfen.«
Es gehört leider zum Gesamtbild der downregulierten Kiffer, dass ihnen die Befindlichkeiten ihrer Eltern oder Geschwister entweder gleichgültig sind, sie nicht einmal ein Gespür dafür haben oder dass heimliche Scham- und Schuldgefühle deswegen schlichtweg wieder weggekifft werden. Trifft chronischer Cannabiskonsum mit seiner Sogwirkung nach unten auf die altersspezifischen hochsensiblen Umstände der hirnorganischen Entwicklung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, kann sich für alle Beteiligten eine wahrhaft schwierig zu ertragende Gesamtsituation ergeben. Um diese Mechanismen noch besser verstehen zu können, verweise ich auf die entsprechenden Kapitel zur Entwicklung der Hirnstrukturen Heranwachsender in meinem Buch »Drogen & Sucht. Ein Handbuch über alles, was Sie wissen müssen«.
Menschlich unzulässig wie sachlich verfehlt ist es, bei jenen Menschen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Cannabiswirkung und Demotivation herleiten zu wollen, die im Vollbesitz ihrer geistigen und seelischen Kräfte dem Leistungsgedanken in unserer Gesellschaft ein entschiedenes »Nein« entgegenhalten. Karriere ist für sie kein Lebensziel mehr. Sie reden nicht nur von notwendigen Veränderungen des Lebensstils, sondern leben sie vor. Cannabis ist ihnen dann ein gelegentlich willkommener und angenehmer Begleiter für genussvolle Stunden. Das amotivationale Syndrom existiert für sie nicht.
Als willkommener Sündenbock für die wachsenden Lebensschwierigkeiten einer Großzahl jugendlicher Kiffer ist Cannabis die falsche Adresse. Bei einer differenzierten Betrachtung der mit Cannabiskonsum einhergehenden Realitäten dürfen und müssen wir Haschisch und Marihuana aufgrund ihrer eigenmächtigen Wirkungsdynamik jedoch eine verantwortlichere Rolle beim Herunterregulieren von Motivation und aktiver Lebensteilhabe bei zahlreichen Kiffern zusprechen, als wir dies in der Vergangenheit getan haben. Die Zahl der Cannabisgebraucher, die in ihrem Leben phasenweise überhaupt nichts mehr geregelt bekommen, ist eine hohe Hypothek auf die Zukunft. Sofern jedoch jemand eine ambulante oder stationäre Therapie beginnt, ist die gute Nachricht, dass das komplette Symptombild des »amotivationalen Syndroms« in aller Regel gut behandelbar ist.
Überaus merkwürdig darf allerdings im Gesamtzusammenhang anmuten, dass die als amotivationales Syndrom bezeichnete »Krankheit« so regional begrenzt auftritt. Sie wird ausschließlich in Leistungsgesellschaften westlicher Prägung diagnostiziert. In den Regionen der Welt, in welchen Cannabis seit Jahrtausenden beheimatet ist, tritt die Krankheit überhaupt nicht auf. Die Menschen dort pflegen einen anderen Lebensstil. Sie folgen einem gemäßigteren Rhythmus. Eingedenk eines Eigenanteils, den der übermäßige Konsum von Cannabis bewirken kann, handelt es sich beim amotivationalen Syndrom in erster Linie um eine wirtschaftsideologische Zivilisationskrankheit, verräterisch ausgedrückt in dem gestrengen Satz eines christdemokratischen deutschen Politikers: »Einen Urlaub von der Gesellschaft können wir nicht gestatten.«