Ursachen und Motive
für den Konsum
von Cannabis
Seinen Kummer ausatmen können,
tief ausatmen,
sodass man wieder einatmen kann.
Und vielleicht auch
seinen Kummer sagen
können in Worten,
die zusammenhängen und Sinn haben
und die man noch verstehen kann
und die vielleicht sogar irgendwer
sonst versteht oder verstehen könnte,
und weinen können.
Das wäre schon fast wieder Glück.
(Erich Fried)
Ursachen und Konsummotive für den Gebrauch von Cannabisprodukten gibt es so viele, wie es Konsumenten von Haschisch und Marihuana gibt. Aufgrund wiederkehrender Ähnlichkeiten lassen sich jedoch offene Überschriften für den Rauschmittelgebrauch junger Menschen formulieren, die geeignet sind, etwas von den persönlichen Lebensgeschichten erahnen zu lassen, mit denen der Konsum von Drogen einhergeht. Längst nicht jeder Cannabiskonsum ist ein schädlicher oder problembelasteter. Die meisten Motive, aufgrund derer Menschen zu Suchtmitteln greifen, lassen jedoch tief blicken. Sie sind ein schonungsloses Spiegelbild für unsere kranke »zivilisierte« Gesellschaft, die so völlig aus den Fugen geraten ist, was ihr Verständnis von Leben und Glück anbelangt. Täglich veranlasst sie neue Menschen, ihre Zuflucht in den trügerischen Heilsversprechungen potenter Rauschdrogen zu suchen.
Wer mit dem Finger auf »Nachbars Uwe« zeigt, der Drogen nimmt, sollte sich Gedanken über die restlichen vier Finger der Hand machen, die auf ihn selbst zurückweisen. Viele der als »problematisch« oder gar als »seelisch krank« bezeichneten Konsumenten von Rauschdrogen weisen mehr gesündere Lebensanteile auf als viele der als »normal« angesehenen Menschen, deren hervorstechendste Eigenschaft ihr angepasstes Funktionieren ist. Allzu viele Halt und Orientierung suchende Menschen geraten durch ihre Bekanntschaft mit Drogen indes zeitweilig oder dauerhaft in die Irre und ins Abseits des Lebens. Die im Folgenden beschriebenen Lebensgeschichten, in denen sich die Motive und Ursachen für den persönlichen Drogengebrauch junger Menschen entdecken lassen, werden viele Leser und Leserinnen an bestimmten Stellen an eigene vergangene oder aktuelle Situationen im Leben erinnern. Mögen sie sich aus den wiedergegebenen Erfahrungen anderer Menschen sowie aus der beratend-therapeutischen Arbeit mit ihnen die »Essenz« herausziehen, von welcher sie für ihr eigenes Leben vielleicht profitieren können.
Die Auswahl der vorgestellten »Fälle« ist nicht von einer Selbstdarstellung erfolgreicher Arbeitsprozesse getragen. Das wäre der Realität unangemessen, denn so einfach liegen die Dinge meistens nicht. Insofern habe ich nicht nur erfolgreich abgeschlossene Cannabisgeschichten gewählt, sondern mit Bedacht auch etliche Lebenswege, die in ihrem Fortgang noch völlig offen sind. Entscheidend für die Auswahl waren ausschließlich die Lebensgeschichten und Konsummotive der Klienten, die in ihrer persönlichen Vielfalt Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten für den absichtsvollen Griff zur Droge ihrer Wahl erkennen lassen. Fachlich verdeutlichen die ausgewählten »Fälle« den Unterschied zwischen klärender bzw. kurzfristiger Beratung und längerfristigen Therapieprozessen.
Ich will Spaß,
entspannen, chillen …
Cannabis zu gebrauchen, um es zu genießen und seinen Spaß damit zu haben, ist das unproblematischste Konsummotiv. In der Regel hängen daran keine belasteten Lebensgeschichten.
Viele Jugendliche und junge Erwachsene kiffen, um sich absichtsvoll kleine Auszeiten vom Stress ihres Alltags zu gönnen. Die oft gebrauchte Aussage »Ich kiffe ›just for fun‹« muss nicht beständig in argwöhnischen Zweifel gezogen werden. Der 16-jährigen Schülerin, die mir erzählt: »Ich rauche am Wochenende gerne mal Gras, wenn ich mit meiner Freundin ausgehe, um noch besser drauf zu sein«, kann ich ihre Aussage vom Gesamteindruck her ebenso fraglos abnehmen wie der 34-jährigen Berufstätigen, die hervorhebt: »Ich rauche manchmal etwas Haschisch, um mir einen besonderen Musikgenuss zu bescheren. Wenn ich bekifft bin, macht mir Musikhören deutlich mehr Spaß.«
Der Spaßfaktor von Haschisch und Marihuana ist in der Tat nicht zu unterschätzen. Sei es der beliebte Lachflash, den die Konsumenten ungehemmt genießen, die mühelose Entspannung für sich alleine, die gesteigerte Sinnlichkeit zu zweit oder das vergnüglich geteilte Herumalbern mit Freunden. Haschisch ist in der Lage, problemlose Freuden zu bescheren. Niemand braucht darüber Schlechtes zu denken, wenn Cannabis gelegentlich und ausschließlich als »gute Unterhaltung« benutzt wird. Das Entscheidende ist, den Unterschied zu bemerken, wann und wo aus Spaß Ernst wird.
Die meisten Jugendlichen trauen sich zu, die Grenze nicht zu überschreiten, so wie der 17-jährige Auszubildende, der versichert: »Ich rauche in vollem Bewusstsein aller damit verbundenen Gefahren als Abwechslung und Entspannungsmöglichkeit zum alltäglichen Alltag.« Bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die im Brustton der Überzeugung von sich behaupten, Haschisch »just for fun« zu benutzen, ergibt sich bei näherem Hinschauen dagegen ein Bild, welches ihrer Vorgabe nicht so recht entsprechen mag. Das vorgeschobene Spaß- und Entspannungsmotiv überdeckt nicht selten tiefer reichende Gründe für den Griff zu Cannabis. Maßgeblich für eine zuverlässige Einschätzung ist nicht allein der vom Konsumenten gezeichnete Vordergrund, sondern ebenso das Hintergrundbild, das man im Kontakt mit dem einzelnen Menschen gewinnt.
Da wird auch die Absicht, mit Cannabis zu »chillen«, zum gänzlich uneindeutigen Geschehen. »Chillen« ist zu einem feststehenden Begriff in der Welt von Cannabis geworden. Es bedeutet ursprünglich »abkühlen« und steht für alle Wünsche, abzuhängen, runterzukommen, zu entspannen, zu relaxen, nichts zu tun, das einen Sinn ergeben muss. In Zeiten wachsenden gesellschaftlichen Drucks im Sinne von Funktionierenmüssen und Mithaltenwollen enthält »chillen« als Gegenbewegung also sehr gesunde Anteile. Problematisch wird es ab dem Zeitpunkt, wo »abhängen« infolge chronischen Cannabisgebrauchs zum einzigen Lebensinhalt wird und die nachteiligen wie selbstzerstörerischen Folgen des Stoffgebrauchs die Lebensperspektiven zunehmend verengen.
Ich bin so zu, oder:
In mein Herz lasse ich
niemanden mehr rein …
Die Indienstnahme von Rauschdrogen und Suchtmitteln hat immer etwas mit Gefühlen zu tun. Je weniger Zugang ein Mensch zu seinen Gefühlen hat, je eingeschränkter er ihnen vertraut und je schwerer es ihm fällt, sie auszudrücken und sich mitzuteilen, desto mehr wächst sein Risiko, in seinen Gefühlshaushalt steuernd über die Wirkungen von Rauschmitteln einzugreifen.
Eine 17-jährige Gymnasiastin brachte es ohne Beschönigung auf den Punkt:
»Wir sind eine Generation, die ist gefühlsmäßig so zu, dass jeder nur noch für sich allein ist. Wenn wir gemeinsam kiffen, hilft uns das, wenigstens dann mit den anderen näher zusammen zu sein. Kiffen erleichtert mir den Kontakt. Ich mache mir dann weniger Gedanken, wie ich auf die anderen wirke, bin weniger kontrolliert und kann mehr aus mir herausgehen.«
Junge Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden müssen ihr inneres Gleichgewicht finden zwischen »Bei-sich-Sein« und »Im-Kontakt-mit-anderen-Sein«. Wer sich in sich selbst vergräbt, verliert die bereichernde zwischenmenschliche Berührung, wer sich zu viel nach anderen richtet, läuft Gefahr, die eigene Person aus den Augen zu verlieren.
Ein 23-jähriger Verkäufer sucht »das richtige Maß« mithilfe von Cannabis zu ermitteln:
»Ich bin öfter unsicher, wenn ich mit anderen Leuten zusammen bin. Ich weiß manchmal nicht so richtig, was ich mit denen reden soll oder wie ich mich verhalten soll. Dann verschwimmt mir alles oder wird mir zu eng. Wenn ich Gras rauche, ist das anders. Das Kiffen führt mich auf direktem Weg zu Gefühlen, die ich sonst nicht so zeige. Ich fühle mich dann auch mehr wie ich selbst. Gleichzeitig erleichtert mir Gras den Umgang mit den Leuten. Ich finde alles viel unkomplizierter, kann mehr und besser reden. Gras macht mich einfach lockerer.«
Viele Aussagen junger Menschen gleichen sich inhaltlich. Unbekifft strengen sie sich sehr an, sich gegenseitig an »Coolness« zu überbieten. Weder wollen sie im Beisein anderer Gefühle »rauslassen« noch sie an sich »ranlassen«. Da niemand Gefahr laufen will, als »uncool« zu gelten, ist Fassade angesagt. Rauer Umgang miteinander gehört in der Lebenswirklichkeit der jungen Leute dabei heutzutage zum guten Ton. Jede Verletzlichkeit muss angestrengt verborgen werden. Tendenziell gilt das für Jungen wie Mädchen gleichermaßen, obgleich sich männliche Jugendliche geschlechtsspezifisch meist noch einen Tick härter geben, ungeachtet des inneren Preises, den sie dafür zu bezahlen haben. So schreibt Amon Barth beispielsweise noch über die Anfänge seiner Kifferkarriere in der Clique:
»Die reden immer furchtbar roh miteinander, für sie ist das offenbar normal. Ich komme damit jedenfalls nicht wirklich klar. Wahrscheinlich hat jeder von uns ein sensibles und verletzliches Ego, und gerade deshalb geht es so rau und hart bei uns zu … Bei uns Jungs geht es zu wie in einer Affenbande. Wir halten zusammen gegen die Außenwelt, doch unsere ganze Freundschaft besteht aus Angeberei und derben Sprüchen. Solange man über die Schwächen anderer redet, fühlt man sich selbst prima. Wir finden immer jemanden, den wir niedermachen und über dessen ›Behindertheit‹ wir uns amüsieren können. In unseren Augen sind wir von Spastis und Mongos, Honks und Wichsern umgeben.«
Jeder muss seinen Weg finden, um mit solch kalten Realitäten zurechtzukommen. Lässig und »obercool« stellt mir daher ein 17-jähriger Schüler sein Lebensmotto vor, das er wie ein Schutzschild vor sich herträgt:
»Ich will meinen Spaß und machen können, was ich will, sonst eigentlich nichts. Die anderen interessieren mich nicht.«
Im bekifften Zustand verändert sich die nach außen errichtete Fassade, wie ein sich im Klassenverband ebenfalls betont unnahbar gebender Mitschüler im Einzelgespräch zugibt:
»Coolsein ist viel Show. Aber hier zieht doch jeder seine Show ab. Manchmal fühle ich mich schon ganz schön allein. Mir ist überhaupt nicht egal, sondern richtig wichtig, was mit mir und meiner Familie oder mit meinen Freunden ist. Auch wenn das für Stress sorgt und die das nicht verstehen, für mich ist Kiffen etwas, das mir hilft im Umgang mit anderen Menschen. Deshalb kiffe ich ja auch immer nur so viel, bis ich leicht angeturnt bin. Voll dicht sein will ich ja gerade nicht. Gras ist mir wie ein Freund, der mir wieder andere Leute zum Freund macht.«
Die Wirkungen von Cannabis vermögen die persönliche Wahrnehmung zu sensibilisieren oder genau umgekehrt die Unterschiede im Empfinden anderen Menschen gegenüber einzuebnen. Auf jene Tatsache hat Mitte des 19. Jahrhunderts bereits der haschisch- und opiumerfahrene Charles Baudelaire in seinem »Haschischgedicht« hingewiesen. Er vermerkt, wie er und seine Mitbeobachter im berühmt gewordenen Zirkel des Hôtel Pimodan »im Haschisch ein seltsames Wohlwollen sich kundtun sahen, das auch Unbekannte keineswegs ausschließt, eine eher dem Mitleid als der Liebe entstammende Philanthropie …, welche so weit geht, nur ja niemanden betrüben zu wollen«. Einer seiner modernen »Nachkommen« bestätigt Baudelaires Worte. Es handelt sich um einen hochintelligenten, in sich gekehrten (introvertierten) 29 Jahre alten »Geisteswissenschaftler« mit einem überdurchschnittlichen Maß an Belesenheit. Selbstverständlich waren ihm auch die zeitgenössischen Zeugnisse der französischen »Haschischesser« vertraut. Er erzählt:
»Mein Leben ist stark nach innen gerichtet, kann man sagen. Es fällt mir schwer, nach außen hin offen zu sein. Ich kann zwar gut mit mir allein sein und bin es auch gerne, aber zeitweilig fühle ich mich wie in mir eingesperrt und isoliert, wenn ich zu viel mit mir selbst und meinen Büchern beschäftigt bin. Obwohl das so nicht ganz stimmt. Richtiger wäre es, zu sagen: Wenn ich über Menschen lese, bin ich ihnen ganz zugewandt, fühle oft tief mit, wie in ihnen drin. Nur dass es eben bloß Innenfiguren sind. Ich wünsche mir dann doch mehr realen Kontakt mit den Menschen draußen. Wenn ich dann Haschisch rauche, komme ich besser aus mir raus. Ich fühle mich beglückt, und ganz wie Baudelaire in ›Die künstlichen Paradiese‹ geschrieben hat, werde ich offener für die ganze Welt. Ich mag dann alle Menschen, denen ich begegne. Selbst mir völlig Fremde würde ich manchmal am liebsten umarmen oder wenigstens ein paar freundliche, mitfühlende Worte an sie richten, wie man das im Alltag so gar nicht gewohnt ist. Mit Haschisch fühle ich mich nur friedfertig und innerlich wie geweitet. Ich finde das einfach wohltuend und will darauf in keinem Fall verzichten.«
Das Gefühl des »Zuseins« bezieht sich nicht nur auf die Mitmenschen und die Außenwelt. Viele Menschen sind gleichzeitig zu für sich selbst, haben keine oder nur wenig Berührung mit ihren Gefühlen. Wer selbst das nicht einmal mehr wahrnimmt, leidet nicht unmittelbar darunter. Andere wiederum spüren ihre »Oberflächlichkeit« sehr deutlich und suchen krampfhaft »einen Weg nach innen«. Cannabis vermag dabei eine seltsame Rolle zu spielen: zugleich hilfreich wie nichts verändernd, wie eine berufstätige Frau, Mitte 30, ihr Erleben treffend zusammenfasst:
»Haschisch aktiviert meine verdrängten Gefühle und erleichtert mir den Zugang zu meinem Unterbewusstsein. Es verhindert allerdings zugleich die bewusste Auseinandersetzung mit dem, was ich mit seiner Hilfe in mir finde und auftue. Letztlich bleibt also alles beim Alten. Weil mir das jetzt nicht mehr reicht, sitze ich hier bei Ihnen, um mir manche Sachen im Verlauf der Therapie hoffentlich richtig anschauen und sie verändern zu können.«
Ein 20-jähriger Student, der lange Jahre nichts und niemanden mehr in sein Herz hineinlassen mochte und derzeit rätselt, was er mit seinem Leben anfangen soll, bringt es auf den Punkt: »Ich will mein Herz wieder öffnen und spüren, ohne zu kiffen.« Für einen jungen Mann sind solche Worte wohl nur im geschützten Rahmen möglich.
Es ist immer wieder eine stille Freude, wenn Menschen, die »zu« sind, sich während der Beziehungsarbeit in einem therapeutischen Prozess langsam, aber beständig öffnen wie die Blüte einer Pflanze.
Ich beame mich ins Traumland
und dann weg …
Die Rauchgewohnheiten heutiger Cannabisnutzer haben sich stark verändert. Bongrauchen wirkt in der Regel viel intensiver oder härter als das Ziehen an einem Joint. Tut sich zu Anfang vielleicht noch das Traumland auf, drohen längerfristig Abhängigkeit, schwer erträgliche Gefühle von Scham und Schuld sowie innere Leere.
Vor seinem Abgleiten in die Psychose schildert Amon Barth in »Meine Leben als Kiffer« seine Erlebniswelten zwischen »Stolz und Selbstmitleid« so:
»Es frustriert mich, von der Droge abhängig zu sein und nichts dagegen tun zu können, außer weiter zu kiffen. Andererseits finde ich es schön, mich gehen zu lassen, in der Droge zu versinken und vollkommen in die breite Erlebniswelt einzutauchen. Nur durch sie gelange ich in diesen meditativen Zustand, der mir wahres Glück beschert.
Es ist so einfach, sich einen rauchbaren Joint zu drehen. Ich will dieses Hochgefühl nicht verlieren – also kiffe ich ständig. Der harte Rauch schießt mir in die Lunge, und sofort durchfährt mich dieses wunderbare Ganzkörpergefühl, das fast besser als ein Orgasmus ist.
Ich bin ein Grasjunkie und liebe die Traumzeit, die ich mir durch das Kiffen herbeizaubere. Ja, ich bin ein Grasjunkie, doch wenn ich auf meinem roten Sofa sitze und kiffe und voll breit meine grüne Lavalampe betrachte, fühle ich mich großartig. Ich bin fast wunschlos glücklich. Das Leben ist eine Sternschanze, und ich schieße mich mit meiner Bong ins Traumland … Es ist eine Lüge, zu sagen, man könne als Kiffer nicht glücklich sein. Das geht sehr gut. Trotzdem hoffe ich, dass ich nicht irgendwann mal durchdrehe. Eigentlich wäre ich prädestiniert für ein solches Ende bei meinem Kifferverhalten … Ich weiß, dass ich mit dem Kiffen übertreibe, doch habe ich das Ideal eines zugedröhnten Superchillers im Kopf.«
Kiffen wird auch für ihn zunehmend »eine Flucht aus der Realität. Ich kiffe, um mich in eine andere Welt ohne Verpflichtungen hineinzusteigern«.
Wir brauchen den jungen Leuten nur genau zuzuhören, um zu erfahren, was sie antreibt. Es ist eine schallende Ohrfeige für unsere Gesellschaft, wenn zunehmend mehr junge Menschen sich durch ihren Cannabisgebrauch schließlich nicht mehr ein »Highgefühl« zu verschaffen trachten, sondern unverblümt aus der Realität flüchten und sich wie tot stellen: »Ich beame mich weg«, »Ich mache mich völlig breit und drehe ab«, »Je mehr es mich schickt und knallt, desto lieber«, »Ich will einfach nur dicht sein«. Nichts mehr spüren zu wollen ist ein starkes Antriebsmotiv für exzessiven Bonggebrauch bei jungen Cannabisnutzern.
Einer meiner abhängigsten Cannabisklienten hat sich in seiner Therapie an einen Punkt vorgearbeitet, an dem er resümiert:
»Ich war die ganze Zeit wie tot, als ich gekifft habe. Da kann man sich natürlich fragen, was soll daran eigentlich so erstrebenswert sein? Aber ich habe es ja trotzdem auch genossen, schließlich kann man sich sogar daran gewöhnen, diese Scheißgefühle zu genießen.«
Um sein Auftauchen aus der Versenkung und die Rückkehr seiner lebendigen, wachen Gefühle hat er mit seiner Hassliebe »Cannabis« lange gerungen.
Ich kiffe, weil der andere kifft …
In vielen Cliquen von Jungen und Mädchen wird gemeinsam Bong geraucht oder der Joint kreisen gelassen, weil das Selbstverständnis in der Gruppe danach ist und weil es an alternativen Ideen wie Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung mangelt.
Als gänzlich fremdbestimmte Variante findet sich das Konsummotiv »Ich kiffe, weil du kiffst!« in geschlechtsspezifischer Form bei jungen Mädchen und Frauen. Sie probieren Marihuana oder Haschisch, weil sie sich in einen jungen Mann verlieben, der bereits Cannabiskonsument ist und das Mittel mit seiner neuen Freundin teilen möchte, ohne lange zu überlegen, ob das Sinn macht. Die tieferen Beweggründe der jungen Frauen, »Ja« zu Cannabis zu sagen, sind unterschiedlich: Sie reichen von bloßer Neugier bis hin zu schwerwiegender Selbstaufgabe und Anpassung an den neuen männlichen Partner. Davon hängt zugleich ab, ob ihr Eigengebrauch für sie zu einem lebensbestimmenden Problem wird oder nicht.
Eine 16-jährige Schülerin probierte Gras zum ersten Mal mit ihrem ein Jahr älteren Freund. Aus dem neugierigen Probieren ihm zu Gefallen wurde binnen kürzester Zeit ein tägliches Gewohnheitskiffen. Das Paar verbrachte nie Zeit miteinander, ohne zu kiffen. So ging das über ein paar Wochen, bis die aufgeweckte junge Frau durch wachsende Ernüchterung feststellte, dass das gemeinsame Kiffen die Beziehung nicht tragen konnte. Da ihr Freund keinerlei Bereitwilligkeit zeigte, an seinem Umgang mit Haschisch etwas zu verändern, verließ sie ihn kurz entschlossen. Mit der Trennung von ihm war der Spuk für sie vorbei. Sie gab von heute auf morgen ihren täglichen Konsum von Marihuana auf, ohne das Gefühl zu verspüren, auf etwas Wesentliches verzichten zu müssen. Heute nimmt sie nur noch ganz gelegentlich ein paar Züge am Wochenende. Die 16-Jährige hatte auf ihrem bisherigen Lebensweg bereits genügend Selbstbewusstsein entwickelt, um sich rasch von einer Beziehung zu verabschieden, die ihr nicht guttat. Sie wusste Besseres zu tun, als ihre kostbare Lebenszeit mit ihrem ständig bekifften Freund zu verschwenden.
Nicht allen jungen Frauen gelingt solches gleichermaßen. Sie zeigen in Beziehungen ein so hohes Maß an Unselbstständigkeit, dass sie unter Umständen über Monate oder gar Jahre an männliche Partner gebunden bleiben, mit denen zusammen sie den Konsum von Alkohol, Cannabis oder anderen Drogen teilen, ohne dass sie »es eigentlich wollten«. Für sich allein täten sie es ebenso wenig wie mit einem seinerseits keine Rauschmittel gebrauchenden Partner. An ein Pendant indes, das zu Alkohol oder Drogen greift, passen sie sich an. Die Schwierigkeiten solcher Mädchen und Frauen liegen eindeutig auf tieferen, nicht stofflichen Ebenen. Es kann passieren, dass sie über lange Zeit hinweg keinen wirklich gestaltenden Einfluss auf die Beziehung und damit auf ihr Leben nehmen, wie es eine 34 Jahre alte Angestellte für mich aufschrieb:
»Die Beziehung zu meinem Partner hat über die Kifferei angefangen. Kiffen hatte für ihn immer Priorität. Er hat sich auch damit von mir distanziert. Anfangs habe ich mit ihm zusammen gekifft, um so etwas wie Gemeinsamkeit herzustellen, später, um mich meinerseits abzugrenzen. Ich habe dann auch oft gekifft, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Beide haben wir mit dem Kiffen viel entschuldigt. Umgekehrt hat es uns das Kiffen erleichtert, den anderen zu idealisieren. Indem wir uns auf die Sucht konzentriert haben, mussten wir uns beide nicht um das eigentliche Problem kümmern. Wir konnten uns die Illusion der Beziehung aufrechterhalten, wie sie einmal sein sollte – später.«
Längere Zeit lebten die beiden ihre Beziehung nebeneinanderher, umeinander herum, aneinander vorbei, nur niemals wirklich miteinander. Erst nach Abschluss ihrer Berufsausbildung ging die Frau den ersten Schritt der Trennung von ihrem Partner, indem sie ihn nicht mehr sah. Aber »über die Trennung hinaus hielt ich mit der Kifferei an der Beziehung fest«.
Das Festhalten kostete sie ein weiteres halbes Jahr, bis sie zu mir in Therapie kam. Frühzeitig zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit vollzog sie den zweiten trennenden Schritt: Sie stellte von einem Tag auf den nächsten ihren täglichen Marihuanagebrauch ein. Symbolisch trennte sie sich damit und diesmal vollständig von ihrem Partner. Mit der Verzögerung des halben Jahres konnte sie danach das gesamte Ausmaß ihrer Trauer über »das Verlorene« zulassen, spüren und verarbeiten. An der Auflösung und Veränderung der tieferen Ursachen, welche an ihrer inneren Anpassungsbereitschaft bis hin zur Selbstaufgabe beteiligt sind, arbeitete sie noch eine geraume Zeit weiter.
In Einzelfällen läuft »das Spiel« umgekehrt. Selbst stark oder gewohnheitsmäßig Cannabis gebrauchende junge Männer geben plötzlich und ohne weitere Schwierigkeiten ihren Drogengebrauch auf, wenn sie sich neu verlieben. Deren Motiv ist allerdings nicht die Anpassung an eine neue Partnerin. Vielmehr ist die »Macht der neuen Liebe« ein mehr als vollwertiger Ersatz, der den Gebrauch von Cannabis gänzlich überflüssig macht. Liebe ist »schließlich die beste aller Drogen«.
Ich kiffe, also bin ich wer …
In Abwandlung eines der berühmtesten erkenntnistheoretischen Sätze in der Geschichte der Philosophie, in welchem der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650) durch die Schlussfolgerung »Ich denke, also bin ich« den menschlichen Existenzbeweis führte, verfahren viele heutige Cannabisgebraucher nach dem Motto: »Ich kiffe, also bin ich wer …!«
Bloß, wer oder was sind sie, wenn sie kiffen? »Haschisch macht mich viel selbstbewusster«, oder: »Mit Cannabis fühle ich mehr Leben in mir«, sind so oder ähnlich öfter geäußerte Feststellungen. In der Tat vermögen die Wirkungen von Haschisch eine innere Leere zu füllen oder zu einer illusionären Steigerung eines zerbrechlichen Selbstwertgefühls beizutragen. Solche Wirkungen des Mittels sind beinahe alltäglich.
Mehr Exklusivität nehmen diejenigen Cannabiskonsumenten für sich in Anspruch, die sich mit solch »billiger« Alltäglichkeit nicht zufriedengeben wollen. Sie fühlen sich berufen, Größeres zu leisten, und verkünden »frohe Botschaften«. Unter dem Einfluss von Cannabis wird das Gehirn so manches Konsumenten zu einer regelrechten »Denkfabrik«. Mit deren Erkenntnissen möchte er ohne Unterlass ehrerbietigen Verehrern ebenso wie von seinen Gedankengängen entnervten Mitmenschen den Lauf der Welt und des Universums erklären oder doch zumindest die Vorzüge des Mittels seiner geistigen Labsal preisen.
Ein mit seinen Gedanken derart freizügig umgehender Student der Rechtswissenschaft ließ andere deutlich spüren, dass er sich für »etwas Besseres« hielt. Für ihn war sein »gepflegter Umgang mit Haschisch« wie »eine Einweihung in eine anderen Menschen nicht offen stehende Welt«. Als der junge Mann eines Tages anlässlich einer privaten Begegnung mit mir sprach, schien er mir von maßlosem, aufgeblähtem Stolz erfüllt. Bei den sorgfältig gesetzten Worten meines Gegenübers musste ich unwillkürlich an Charles Baudelaire denken, wie genau er doch in seiner scharfsinnigen Charakterisierung manches unter Haschischeinfluss stehenden Zeitgenossen den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Eine falsche Stimme schien meinem Gesprächspartner Baudelaires Worte einzuflüstern:
»Du hast das Recht, dich allen Menschen überlegen zu fühlen; niemand kennt und könnte begreifen, was du alles denkst und empfindest; sie wären nicht einmal fähig, das Wohlwollen zu schätzen, das sie dir einflößen. Du bist ein König, den die Vorübergehenden verkennen und der in der Einsamkeit seiner Überzeugungen lebt: doch was kümmert dich das? Besitzest du nicht jene höchste Verachtung, welche die Seele so gut macht?«
Größenfantasien und heimliche bis offene Verachtung sind in der Tat ein Thema bei nicht wenigen Konsumenten von Cannabis. So, wie mein Gesprächspartner sich gab, schien er mir von seinem Thron herunter quasi huldvoll Audienz zu gewähren, um mich an seinen weltumspannenden Gedankengängen teilhaben zu lassen. Hinter der zur Schau getragenen Selbstherrlichkeit wirkte er vordringlich unsicher und angreifbar auf mich. Sein Glück »des Eingeweihten« schien eher verderblich und versprach kein langes Haltbarkeitsdatum.
Nicht immer erheben sich die nach dem Motto »Ich kiffe, also bin ich wer« verfahrenden Cannabiskonsumenten in einem Maße über ihre Mitmenschen wie der gerade erwähnte geistige »Überflieger«. In aller Regel geht es bescheidener zu. Ein 19-jähriger Auszubildender, der keinen leichten Stand in seinem Leben hat, sieht es auf dem Boden der Tatsachen weitaus nüchterner:
»Auf meiner Arbeit geht es hart her. Da herrscht ein rauer Umgangston, sowohl von meinem Chef wie unter den Kollegen. Wenn ich manchmal kiffe, gibt mir Haschisch das Gefühl, ein Mensch zu sein, der einen eigenen Wert hat.«
Ein wieder anders gelagertes Motiv, jemand sein zu wollen, offenbarte mir ein erst 13-jähriger Schüler, der mit fünf Gleichaltrigen aus freien Stücken in eine Kleingruppenberatung kam. Äußerlich war er selbst für sein noch junges Alter ein sehr kleinwüchsiger und schmächtiger Junge, der den anderen körperlich in allen Belangen unterlegen war. In seiner Aufgewecktheit und Pfiffigkeit übertraf er seine Kameraden indes bei Weitem. Nach kurzem »Abchecken« führte er in dem Gespräch das große Wort. Obgleich es aufgrund der bislang gewechselten Worte wenig Anlass dafür gegeben hätte, betete er mir nahezu das vollständige Einmaleins des Kiffens herunter. Es war eindeutig, dass er bereits über ein gerüttelt Maß an Eigenerfahrung mit dem Gebrauch von Haschisch verfügte. Seine Klassenkameraden kamen anfänglich kaum zu Wort, blickten ihn allerdings mehr mit fragender Neugier oder sogar Bewunderung denn mit kritischer Distanz an. Das mochte mir nicht gefallen. Es roch zu stark nach »Verführung«. An manchen Stellen seiner geschilderten Cannabiserfahrungen bemerkte ich eindeutige Ungereimtheiten in der Darstellung des Jungen. Es war spürbar, dass er sich dort auf unsicheres Terrain begab und noch mehr bieten wollte, als er tatsächlich an gesicherter Erfahrung besaß. Seinen Kameraden fiel das nicht auf. Sie lauschten ihm andächtig. Die Rolle des Jungen war klar ersichtlich: Er beanspruchte das Sagen und war der Boss in der Clique. Eine einleuchtende Erklärung für sein Mehr-scheinen-Wollen war unmittelbar ersichtlich: Wie musste sich der Junge in seiner Haut fühlen, so klein und schmächtig, wie er geraten war?
Mit Sicherheit war ihm die Erfahrung nicht erspart geblieben, dass die Jungen- wie Männerwelt gnadenlos brutal sein können im Herabsehen auf körperlich zu klein geratene Geschlechtsgenossen. Der Junge behalf sich in der Not. Mit körperlicher, »männlicher« Größe hatte die Natur ihn bisher nicht begünstigt. Folglich bot der 13-Jährige anderes auf. Mit seiner listigen Schläue, pfiffigen Aufgewecktheit und einer guten Portion Durchtriebenheit hatte er sich die Rolle des Wortführers in seiner Clique erkämpft. Er suchte seine Position zu festigen mit den fesselnden Reden über Drogenerfahrungen, die seine Kameraden bisher nicht aufzuweisen hatten. Ich legte die Unstimmigkeiten im Wissen des Jungen über Cannabis nicht offen, um ihn nicht bloßzustellen, gab ihm aber für ihn erkennbar zu verstehen, dass ich sein Spiel durchschaut hatte und ihm längst nicht alles als seine persönliche Erfahrung abkaufte. Wir tauschten einen langen, uns verständigenden Blick miteinander.
Dann sprach ich ihn ganz direkt an, während ich ihn weiterhin nicht aus den Augen ließ: »Was du über deine bisherigen Erfahrungen mit Haschisch erzählst, ist bestimmt wichtig für dich. Deine Freunde hören dir auch alle aufmerksam oder sogar neugierig zu. Ich kann sehen, dass du nicht sehr groß bist. Das ist für dich bestimmt nicht einfach, so klein zu sein. Aber eines ist sicher: Durch Kiffen wirst du keinen einzigen Zentimeter größer. Meiner Meinung nach brauchst du Haschisch gar nicht, um wer zu sein. So aufgeweckt und klug, wie ich dich erlebe, verfügst du über ganz andere Stärken und eine Art innerer Größe. Ich glaube, schon allein dafür mögen dich deine Freunde. Das macht dich auch mir sympathisch. Du brauchst dich wahrscheinlich gar nicht so anzustrengen, um dich größer zu machen.«
Ich habe mich selten von einem Jungen aufmerksamer und ruhiger angeschaut gefühlt. Von einem Augenblick auf den anderen veränderte sich das Verhalten des Jungen völlig. Vermutlich hatte bislang noch niemand so klar und direkt mit ihm über die vermuteten Gründe für sein Kiffen gesprochen. Er schien sich verstanden zu fühlen. Fortan war er mit großem Ernst bei der Sache. Er trennte aufrichtig die Spreu vom Weizen, erzählte, was er mit Haschisch wirklich erlebt hatte und wo er Gehörtes und Aufgeschnapptes hinzugefügt hatte, damit das Ganze noch interessanter wirken sollte. Die Ungereimtheiten wie Halbwahrheiten klärten wir sachlich auf. Durch die Veränderung des Gesprächscharakters waren mittlerweile alle seine Freunde lebhaft an der Unterhaltung beteiligt. Sie kamen jetzt zu ihren Themen und holten sich von mir, was sie aus dem Gespräch für sich mitnehmen wollten. Die entstandene Ernsthaftigkeit hatte die zeitweilige »Verführungsstimmung« verfliegen lassen. Dem Jungen erklärte ich noch einmal, dass Kiffen ihn nicht größer mache. Im Gegenteil: Es sei nicht auszuschließen, dass regelmäßiges Kiffen sein zukünftiges Längenwachstum sogar behindere, er durch Kiffen möglicherweise also noch weniger wachse, als wenn er nicht kiffe. Das ist zwar nicht erwiesen. Aber es kann niemand aufstehen, um sich über eine solche Argumentation zu erheben und mit Gewissheit auszuschließen, dass Cannabis bei einem 13-Jährigen keinerlei Einfluss auf sein Körperwachstum nimmt. Für einen so jungen, voll in der Entwicklung begriffenen Organismus ist regelmäßiges Kiffen in jedem Falle eine Belastung, die in seine normale Entwicklung über Gebühr eingreift.
Es blieb nicht bei dem einen Gespräch mit der Gruppe. Aufgrund des langfristig angelegten Konzepts des speziellen schulischen Beratungsangebots folgten weitere Termine. Innerhalb kurzer Frist gab der 13-Jährige an, sein Kiffen völlig eingestellt zu haben. Ich sah keinen Anlass, ihm nicht zu glauben.
Ich habe solche Angst vor …
Die Angst ist ein idealer Nährboden für die Entstehung von Rauschmittelgebrauch und süchtiger Abhängigkeit. Sie tritt in vielen Gewändern auf: als konkret begründete Furcht vor bestimmten Situationen und Menschen, als Angst vor Klassenarbeiten, Prüfungen und Versagen, als Lampenfieber vor öffentlichen Auftritten, als Erwartung des Liebesverlusts nahestehender Personen, als Angst vor Überfremdung, Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg, als Bangen vor Gewalt und Naturkatastrophen, als existenzielle Angst vor Krankheit, Unfall, Hilflosigkeit und Tod sowie nicht zuletzt in ihrer alle menschlichen Regungen einschränkenden Form der generalisierten Angst vor dem Leben überhaupt. Die Angst macht vor niemandem halt. Kinder, junge wie erwachsene Menschen leiden unter ihrem Zugriff. Keinem Menschen ist dieses machtvolle Gefühl fremd. In der Regel verfügen wir über Bewältigungsstrategien, um mit einem tolerierbaren Maß an Angst oder mit konkret Furcht einflößenden Situationen fertig zu werden, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wird die Angst dagegen übermächtig, versuchen Menschen, ihrer mit allen Mitteln Herr zu werden. Nicht selten kommen dabei Alkohol, dämpfende illegale Drogen oder angstlösende Medikamente (Anxyolitika) zum Einsatz. Es ist ein ebenso ernster wie trauriger Fingerzeig, dass ein Drittel aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen gelegentlich Psychopharmaka verabreicht bekommt, um dem Schulstress standzuhalten.
Von den vielen Situationen, die Kinder und Jugendliche mit Angst erfüllen, greife ich einige mir mit Hoffnung auf Hilfe erzählte Beispiele heraus. Sie zeigen einerseits die Alltäglichkeit der Angst und andererseits, wie hoffnungslos alleingelassen die Betroffenen sich oftmals lange Zeit fühlen.
Einem 13-jährigen Schüler sah ich seine Angst schon an, kaum dass er vor mir saß. Er war mit einem Freund in eine schulische Kleingruppenberatung gekommen. Ängstlich bis in die Körpersprache erzählte er, was ihn umtrieb. In seiner Klasse waren fast alle Jungen sowie einige Mädchen mit Marihuana oder Haschisch zugange. Ich kannte die Klasse. Es gab zwei sich beharkende Gruppierungen: eine Gruppe deutscher und eine Gruppe türkischstämmiger Jungen. Beide Gruppen trafen sich regelmäßig an ihren bevorzugten Aufenthaltsorten im Stadtviertel. In jeder kreiste der Joint oder der Bong. Unzufriedenheit mit der Situation vor Ort, Langweile, Lustlosigkeit und Orientierungslosigkeit prägten das Zusammensein. Das gemeinsame Kiffen war das verbindende Element in den Cliquen, milderte die unangenehmen Gefühle und hielt die schwelende Aggressionsbereitschaft in Schach. Jeder wartete indes auf den Tag des »Showdowns«, an dem die Cliquen aufeinander losgehen würden.
An beiden Gruppen musste der 13-jährige Klassenkamerad auf seinen täglichen Wegen vorbei. Die türkischen Jungen ließen ihn unbehelligt. Spürbare Angst hatte er vor seinen deutschen Mitschülern, die ihn als ruhigen, strebsamen Außenseiter fortwährend hänselten und anpöbelten. Der Junge war nicht wie sie, gehörte nicht zu ihnen, wurde ausgegrenzt und gemobbt. Er fühlte sich von der Clique bedroht. Seine größte Angst war, dass seine Altersgenossen ihn eines Tages unter Androhung körperlicher Gewalt zwingen würden, Haschisch zu rauchen: »Und dann würde ich wohl mitrauchen. Ich kann mich gegen die doch nicht wehren«, meinte er kleinlaut mit Tränen in den Augen. Der Junge verspürte wenig Zuversicht, Erwachsene könnten ihm in seiner Bedrängnis hilfreich sein. Sein Problem ließ sich jedoch innerhalb des präventiven Gesamtkonzepts der Schule regeln. Bei den Cliquen, die ihn einschüchterten, handelte es sich um ihrerseits verunsicherte Jungen auf der Suche nach Halt. Ihre »starken Arme« waren bloßer Ausdruck von Gefühlen eigener Wertlosigkeit. Alle waren froh und dankbar, mit mir als außenstehendem Dritten über ihre Kiffergewohnheiten sowie ihre sonstigen »Aktivitäten« reden zu können. Völlig unspektakulär erfuhr die Lage über Respekt und Ernsthaftigkeit Entspannung.
Das geschilderte Beispiel ist kein Einzelfall. In schöner Regelmäßigkeit erzählen mir Schüler von ihren Ängsten, in bestimmten Situationen zum unfreiwilligen Konsum von Drogen gezwungen zu werden. In aller Regel sind die Ängste irreal und von der Sache her völlig unbegründet. Zudem werden sie den Jungen und Mädchen häufig von Eltern oder Lehrern eingeimpft, die eigene Ängste und sachlich unhaltbare Fehlinformationen als Tatsachen ausgeben. In solchen Fällen sind die Verunsicherungen der Kinder und Jugendlichen durch entsprechende Richtigstellungen sowie konkrete Verhaltenshinweise auszuräumen. Sie erfahren mithin einen unmittelbaren Zuwachs an Sicherheit.
Einer Lösung harrt derweil noch die begründete Angst eines 14-jährigen Schülers, der auf seiner Suche nach Halt und Zugehörigkeit in eine rechtsradikale, gewaltbereite Gruppe geraten ist, die er als seine Freunde bezeichnet. Der Junge, dem das Gewaltpotenzial seiner Neonazifreunde zu bedrohlich wird, würde sich gern wieder von der Gruppe lösen, hat aber real berechtigte Angst, dass seine Freunde das nicht zulassen werden: »Die machen mich platt.« Seinen Angstpegel dämpft er mit Haschisch und Alkohol.
Die doppelte Panik eines 18-jährigen Schülers ist zweifach durch Cannabis hausgemacht. Nach einem ersten quälenden Entzug von Haschisch wurde er heftigst rückfällig. Er gehört zu den Typen, die Cannabis eigentlich überhaupt nicht vertragen. Es macht ihn rasend schnell so abhängig, dass er sich auf einen unumkehrbar scheinenden Trip der Selbstzerstörung begibt. Ungefähr alle zwei Stunden muss er seinem Suchtdruck nachkommen:
»Wenn ich dann nichts zu rauchen habe, drehe ich total durch. Das halte ich gar nicht aus. Am liebsten würde ich dann alles kaputt schlagen oder den Kopf gegen die Wand hauen. Gestern habe ich mit der Pinzette auf dem Boden die letzten Krümel Haschisch gesucht, um was zu rauchen zu haben. Ich entwickle auch schon wieder lauter Scheißfantasien, wie ich an Geld kommen könnte.«
Der junge Mann hat sich schon mal ein Messer in den Arm gerammt vor lauter Wut auf sich selbst. Mit seinen dunklen Augenringen sieht er aus wie »der eigene Tod auf Urlaub«. Seine schlimmste Angst ist die vor einem weiteren Entzug:
»Ich schaffe das nicht noch einmal. Ich will es auch nicht mehr. Lieber werfe ich mein Leben weg, als wieder von vorne so einen quälenden Entzug machen zu müssen. Da ist mir alles egal. Dann hab ich wenigstens meine Ruh. Von wegen Haschisch macht nicht abhängig. Wenn mir das noch mal jemand sagen würde, würde ich ihn wegen diesem Schwachsinn am liebsten in Grund und Boden rammen.«
Mit seiner Mutter liegt der 18-Jährige im Clinch, weil sie ihn auf eine Weise zu unterstützen versucht, die er bloß als unerträglichen Druck wertet. Erführe seine Mutter den Namen seines Dealers, würde sie ihn ohne Zögern anzeigen. Davor hat ihr Sohn blanke Panik: »Der würde mich kaltmachen oder umbringen lassen. Da könnte mich keiner schützen. Der käme nicht mal in den Knast, weil die Polizei sowieso nicht mehr als ein paar Gramm bei dem finden würde.« Seinen Bunker mit großen Mengen Stoff hat sein Dealer ausgelagert. Er scheint in der Tat einer der übleren Sorte zu sein, der wenig zimperlich wäre, den jungen Mann richtig unter Druck zu setzen.
Vom Kopf her ist meinem Klienten absolut einsichtig, was er tun müsste, um sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, »aber ich habe die Kraft und den Willen nicht mehr«. Im Grunde ist er ein liebenswerter Kerl, was er aber selbst nicht annehmen mag, obwohl er es tief drin in sich spürt. Und so vermeidet er derzeit noch, herauszufinden, wer er eigentlich ist, und sucht unablässig etwas zu sein, das er nicht ist. Ob ich ihm während unseres letzten Gesprächs ausreichend Mut einflößen konnte, seine Ängste vor den erforderlichen Schritten zu besiegen, werden die weiteren Termine erweisen.
Eine völlig anders gelagerte »Angstgeschichte« betrifft ein 14-jähriges Mädchen. Die Angst hatte sich in es hineingefressen und saß wie ein fester Stein in ihm. Das Mädchen fühlte sich innerlich mehr und mehr von dem unverdaulichen Brocken ausgefüllt. Der Hintergrund war eigentlich recht undramatisch. Das Mädchen litt an einer chronischen, unheilbaren, aber keineswegs lebensbedrohlichen Stoffwechselkrankheit. Unter Berücksichtigung überschaubarer Ernährungsregeln lässt sich mit der Krankheit leben. Eine unsensible Hausärztin hatte die 14-Jährige unnötigerweise mit dem Virus panischer Angst angesteckt. Sie hatte ihr mehrfach zu verstehen gegeben, wenn sie dieses und jenes nicht beherzige, bekomme sie Krebs. Seither litt das Mädchen seelische Qualen. Sie war das reinste Nervenbündel. Fahrig und beständig unter Hochspannung, fand sie keinen natürlichen Moment der Ruhe mehr. In ihrem Kopf existierte nur noch ein Wort: »Krebs, Krebs, Krebs …« Wie ein rotes Warnsignal blinkte das unheilvolle Wort vor ihrem geistigen Auge auf. Ohne Unterlass horchte sie in ihren Körper hinein. Bei jeder unvertrauten körperlichen Empfindung dachte sie an Krebs, Operationen, Schmerzen und Sterben. Ihre Ärztin hatte ihr ohne Not eine sie verfolgende fixe Idee eingepflanzt, der sie nicht mehr zu entgehen wusste. Sie fühlte sich mit ihrer Angst allein, unverstanden. Fatalerweise hatte sie in ihrer Not ein Hilfsmittel entdeckt, das ihr unmittelbare Linderung versprach. Seit mehreren Monaten gebrauchte sie regelmäßig Marihuana:
»Ich bin dann ruhiger, kann mich mal wieder entspannen. Meine Angst lässt mich für ein paar Stunden in Ruhe, und ich kann auch mal wieder lachen. Ich kann das anders nicht mehr aushalten, weil ich immer daran denken muss, dass ich Krebs bekomme.«
Kiffen war nun wirklich nicht die Lösung ihres Problems. Sie wusste das vom Kopf her wohl und wollte von mir wissen, wie gefährlich ihr Kiffen für sie sei. Doch zu einer Risikoabwägung wäre sie gar nicht in der Lage gewesen. So sprach ich weniger über das Kiffen mit ihr als über seine Ursache. Die Überflutung mit Krebsangst, die sie mithilfe der Wirkungen von Marihuana einzudämmen suchte, gestattete kein Zuwarten. Als Soforthilfe klärte ich sie erst einmal über das tatsächliche Risiko ihrer Krankheit auf. Von einer Klientin, die seit vielen Jahren unbehelligt damit lebt, war mir das Krankheitsbild bestens vertraut. Ich riet dem besorgten Mädchen dennoch, meine Aussagen zu ihrer doppelten Sicherheit von einem feinfühligeren Arzt, dessen Name und Adresse ich ihr aufschrieb, bestätigen zu lassen. Schließlich bat ich sie um ihre Einwilligung, mit ihren Eltern sprechen zu dürfen, denen ich eine Behandlung ihrer Tochter bei einem Kinder- und Jugendlichentherapeuten vorschlagen wollte. Da es nicht um ein Drogen-, sondern um ein Angstthema ging, war dieses »Clearing« naheliegend. Die Angst, Unruhe und Fahrigkeit, welche die schulischen Leistungen der 14-Jährigen in Mitleidenschaft zu ziehen drohten, waren den Eltern überzeugender Anlass genug, die nötigen Hilfestellungen einzuleiten.
Von einer sich generalisierenden Lebensangst zeugen die Schilderungen einer 41 Jahre alten Lehrerin:
»In den letzten Jahren empfinde ich mein Leben zunehmend als eine einzige große Anstrengung. Manchmal würde ich mich am liebsten ganz daraus zurückziehen. In der Schule wird es immer unerträglicher. Stundenerhöhungen, Druck von oben, Kollegen, die den Mund nicht mehr aufmachen, Schüler, die von Jahr zu Jahr problematischer werden. An manchen Tagen ist es so schlimm, dass ich mich kaum noch in die Klassen traue. Dann erlebe ich die Kinder wie Monster, von denen ich mich aufgefressen fühle. Ich bin so was von genervt und aggressiv, dass ich die Kinder am liebsten anschreien oder sogar alle nach Hause schicken würde. Dann habe ich wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, die können doch nichts für die Zustände. Die reagieren doch selbst nur darauf. An solchen Tagen rauche ich zum Abschalten schon mal Haschisch, wenn ich nach Hause komme, keine riesigen Mengen, aber doch so viel, dass ich runterkomme. Alkohol vertrage ich nicht, und ich glaube, das ist im Moment auch besser so für mich. Haschisch ist Balsam für meine Nerven, fast wie eine Seelenmassage. Ich fühle mich wie in einen weichen Kokon eingehüllt. Der Druck lässt nach, und ich funktioniere wieder eine Zeit lang, ohne dass ich gleich losschreien möchte.«
Seit wir zusammen erarbeitet haben, dass sie offiziell ihren Beschäftigungsumfang reduziert, sie sich einer Supervisionsgruppe angeschlossen und selbstfürsorgliche Strategien zum Umgang mit der eigenen Person verinnerlicht hat, fühlt sich die Lehrerin wieder genuss- und arbeitsfähiger.
Ich weiß nichts Richtiges
mit mir anzufangen, oder:
Ich zocke, ich kiffe gegen
die Langeweile total …
»Ich weiß nichts anderes mit mir anzufangen«, fasst ein 16-jähriger Schüler seine Gründe zusammen, weshalb er täglich Haschisch gebraucht. Er besucht eine wenig attraktive Schulform, bei der er sich in unserem krankenden Schulsystem auszurechnen in der Lage ist, was er sich noch an Bildungschancen zu erhoffen hat. Schulisch abgefragte Leistungen hat er derzeit nicht vorzuweisen. Geistig minderbemittelt ist der junge Mann keineswegs, doch völlig antriebslos, was sein zielgerichtetes Fortkommen anbelangt.
Erste Kontakte hatte ich zu ihm durch freiwillige innerschulische Kleingruppenberatung bekommen. Mit seinen Freunden saß er mir breitbeinig und betont lässig gegenüber. Trotz seiner »Coolness« machte er einen kläglich verlorenen Eindruck auf mich, wie ein aus dem Nest geworfener Jungvogel. Über seine Lebensumstände berichtete er knapp, dass er viel allein sei. Seine Eltern beurteilte er wenig schmeichelhaft: »Die schaffen beide an.« Er meinte damit, dass sowohl Vater wie Mutter blindlings ihrer Erfolgs- und Arbeitssucht nachgingen. Regelmäßig kämen beide Elternteile erst spätabends nach Hause. Respekt für deren berufliches Eingespanntsein vermochte der junge Mann nicht aufzubringen: »Meine Eltern könnte ich beide in der Pfeife rauchen. Die würden doch nicht mal mitkriegen, wenn ich drei Tage lang nicht zu Hause wäre.« Ihr Sohn dagegen wollte gar nicht so flügge sein. Am liebsten mied er jegliche Anforderung, die das Leben »draußen« an ihn stellen konnte. Sein bevorzugter Aufenthaltsort war sein Zimmer in der elterlichen Wohnung, vollgepfropft mit Computer- und Technikgeräten der jeweils neuesten Generation. Finanziell war es den Eltern ein Leichtes, ihren Sohn zu versorgen. Über Taschengeld verfügte er als 16-Jähriger »bis zum Abwinken«. Bevorzugt kaufte er sich davon Markenklamotten, Computerspiele und »Ecken mit Mengenrabatt«. Seine Eltern waren außerdem immer dann zur Stelle, wenn es darum ging, ihren Sohn vor unliebsamen Konsequenzen seines Verhaltens zu bewahren. Immer, wenn ihm Unbill drohte, sprangen sie plötzlich in die Bresche, um nach dem Motto »So etwas macht doch unser Sohn nicht« Probleme zu verniedlichen. Jener ging währenddessen zu Hause zwei Leidenschaften nach: »Zocken« an seinem hochgerüsteten Computer und Kiffen. Spielemäßig war er überdurchschnittlich erfolgreich. Er »knackte« alsbald jedes Spiel, was ihm folglich langweilig wurde. Beständig war er auf der Jagd nach neuen virtuellen Herausforderungen. Geld genug konnte er ja dafür ausgeben. Hatte er für den Tag genug vom Spielen, zog er sich »eine dicke Tüte rein, um mich dicht zu machen. Wenn ich gar nichts mehr mitkriegen will, rauche ich meinen Bong. Dann bin ich nur noch platt und alles interessiert mich nicht mehr.« Seinen Freunden, die seinen wachsenden Haschischbedarf aufmerksam registrierten und von ihm wissen wollten, weswegen er so viel kiffe, antwortete er, ohne zu zögern:
»Kiffen ist das Einzige, was ich noch habe. Damit komme ich von Tag zu Tag. Sonst weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Eigentlich langweile ich mich auch, wenn ich allein mit meinem Computer spiele. Aber ich weiß mit mir nichts anderes anzufangen. Und meinen Eltern ist das eh egal. Die sind sowieso nur mit sich selbst beschäftigt und meinen bloß, ich soll’s nicht übertreiben.«
Etliche ehemalige Freunde hatte der junge Mann mit seiner wachsenden Interessenlosigkeit bereits vor den Kopf gestoßen. Die noch verbliebenen, die ihn nicht fallen lassen wollten, erkundigten sich besorgt bei mir, was sie denn tun könnten, um seinen Weg nach unten zu stoppen.
Diesen Freunden hat der junge Mann viel zu verdanken. Sie verhinderten seine soziale Verwahrlosung. Als wirkliche Freunde blieben sie mit Hartnäckigkeit beharrlich am Ball und setzten die gemeinsam besprochenen Handlungsmöglichkeiten mit wachsendem Erfolg in die Tat um. Vor allem bildeten sie eine kleine Gruppe, die zusammen für die Schule arbeitete, wobei jeder von den jeweiligen Stärken des anderen profitierte. Zudem waren sie darauf bedacht, ihren Freund von seinen einsamen Gewohnheiten abzulenken. Sie spielten zwar auch gemeinsam mit ihm an dessen Computer, aber der Charakter des Spielens veränderte sich. Begünstigt wurden die Chancen, ihrem Freund hilfreich zu sein, durch die simple Tatsache, dass jener zwar viel Zeit mit Spielen totschlug, aber niemals dem Spiel mit dem höchsten Suchtpotenzial, »World of Warcraft«, erlegen war. So ließ er sich häufiger wieder in aktivere Formen der Freizeitgestaltung einbinden. Es brauchte dennoch seine Zeit, bis er wirklich »über den Berg« war. Danach war er jedoch nicht mehr der bloß passiv konsumierende Stubenhocker, der sich in seinem Leben maßlos langweilte.
Der junge Mann steht für einen beobachtbaren Trend, der in den letzten Jahren rasend um sich greift. »Zocken«, also das Spielen mit allem, was die Technik hergibt, und Kiffen oder Kiffen und Zocken gehen Hand in Hand, ergeben eine unglückselige Melange. Die durch Cannabis drogierte Welt und die virtuelle Spielewelt addieren sich zu einem doppelten Ausstieg aus der als unerträglich empfundenen realen Welt. Die Wahrnehmung der Realität wird zunehmend fluide, sie verschwimmt. Ganz abgedrehte User wirken einerseits entgrenzt, andererseits völlig eingeschlossen in ihre Scheinwelten. Wird die doppelte Suchtstruktur nicht aufgebrochen, droht die psychosoziale Verwahrlosung. Das Symptom kann nicht bloß die Betroffenen selbst an den Rand des Wahnsinns und darüber hinaus treiben, sondern entwickelt in zunehmend mehr Familien eine suchtdynamische Sprengkraft, die Eltern an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus treibt. Als akute Notfallmaßnahmen haben sich bereits vielerorts Selbsthilfegruppen zusammengefunden.
Im präventiven Vorfeld ist das Motiv des Nichts-mit-sich-anzufangen-Wissens und der daraus sich ergebenden Langeweile ein Ansatzpunkt bei der Schnittstelle zwischen Motivationsarbeit mit antriebsarmen Cannabiskonsumenten und Beratung oder Therapie. Insbesondere draußen bei der Arbeit vor Ort treffe ich regelmäßig auf sich innerlich leer und gelangweilt fühlende Kiffer. Vor dem Hintergrund der heute verbreiteten Konsummuster ist es von zentraler Bedeutung, einen Fuß in die Tür gewohnheitsmäßig Haschisch konsumierender Cliquen zu bekommen, zumal wenn es sich bei ihnen um erschreckend junge 13- oder 14-jährige männliche Jugendliche handelt. Deren Drogengebrauch ist vielfach so eng mit Langeweile und sinnentleerter Freizeit gekoppelt, dass der geringste Anflug von Langeweile umgehend wieder mit Haschischgebrauch bekämpft wird. Alkohol kann den gleichen Zweck erfüllen. Ihr Gebrauchsmuster hindert die lustlos und »stoned« herumhängenden Jungen daran, überhaupt noch eine innerlich spürbare Spannung aufzubauen, die durch eine »normale«, lustvoll »anturnende« Tätigkeit befriedigt werden könnte. Kurzfristig aufregendes Zocken turnt langfristig noch mehr ab. Die wiederholt und fortlaufend erfolgende Dämpfung jeglichen lebensfrohen Antriebs lässt das Gefühl für selbst beeinflussbare Alternativen in weite Ferne schwinden. Durch die gegenüber früheren Haschischgenerationen veränderten Konsumumstände katapultieren sich manche totalen Langeweilekiffer in geradezu komatöse Zustände. Sie sind nicht »high«, sondern handlungsunfähig »platt«. In der Arbeit mit derartigen Cliquen genießt zu Beginn die Entkoppelung von Langeweile und Cannabisgebrauch absoluten Vorrang. Es geht darum, die Fähigkeit wiederzuentdecken, genussvoll erlebten alternativen Tätigkeiten nachgehen zu können, welche sowohl eigenen Ideen entspringen wie dem eigenen Einflussbereich unterliegen. Gelingt der entscheidende Schritt, nimmt der für solche Jugendliche schädliche Cannabisgebrauch ab, und das Risiko sinkt, Zuflucht in virtuellen Scheinwelten zu suchen. In einem zweiten Schritt wird die Zuversicht gefestigt, Langweile gelegentlich auch einmal als gesundes Innehalten auszuhalten sowie »etwas Richtiges mit mir anfangen zu können«.
Ich bin hochbegabt
und voller Ressourcen …
Ein paradoxes Motiv, Haschisch oder Marihuana zu gebrauchen, entspringt eigentlich etwas überaus Positivem. Bis zu seiner Bemeisterung schlägt es sich allerdings erst einmal negativ nieder.
Ein 18 Jahre alter Abiturient geriet mit seinem regelmäßigen Haschischkonsum in heftige Turbulenzen, während derer er zeitweilig abzustürzen drohte. Sein Problem bestand in seiner unglaublichen Vielseitigkeit. Er war in mehrerer Hinsicht so hochbegabt, verfügte vom Ansatz her über so viele spezielle Stärken und Fertigkeiten, dass er ebenso rat- wie rastlos zwischen ihnen hin und her pendelte. Er wusste sich nicht zu entscheiden, seinen Begabungen eine Richtung zu geben, um sie für sein Fortkommen bestmöglich zu nutzen. Er war perfekt mehrsprachig, intellektuell voller sprühendem »Esprit«, geistig beweglich, musisch-künstlerisch kreativ und vieles mehr. »Ich bin so schillernd und habe so viele Seiten, dass ich nicht weiß, welche ich leben soll«, fasste er selbst seine Orientierungslosigkeit zusammen. Er nutzte die täglichen Wirkungen einiger Haschischzüge, »um mich innerlich zu sammeln. Haschisch glättet das kreative Chaos in meinem Kopf. Es verjagt vorübergehend die Schattenseiten meines brillanten Genies«. Letzteres äußerte er mit einer guten Portion Selbstironie und Bitterkeit, die ihm anmerken ließ, dass er sich seiner überdurchschnittlichen Begabungen zwar bewusst war, sich bisher aber nicht frei von Selbstzweifeln darin zu sonnen vermochte.
Bunt schillernde, außergewöhnlich begabte junge Menschen, die mit Cannabis ihre richtungslose Getriebenheit phasenweise zu mildern suchen, begegnen mir häufiger. Zwar nicht regelhaft, aber doch zu oft, um als zufälliges Aufeinandertreffen durchzugehen, stehen hinter solch schillernden Heranwachsenden wuselige, flinke, inkonsequente Mütter, die zwischen Gewährenlassen, Druckmachen und tiefem Sicheinlassen unvorhersehbar hin und her schwingen.
So auch bei einem jungen Mann, von dem seine Mutter mit eigenem Helfersyndrom immer wieder berichtete: »Er hat so viele Ressourcen.« Doch ihr Sohn wusste über Jahre hinweg keine seiner Stärken zu nutzen. Sein extrem entwertender Vater stand am Beginn seiner verlorenen Jahre, in denen Kiffen sein einziger Lebensinhalt war. Nach einem mittleren Bildungsabschluss gab er sich völliger Passivität hin. Seine Mutter war am Rande der Erschöpfung, als sie mit ihm zu mir in die Drogenberatung kam. Der Glaube seiner Mutter an seine zahlreichen Fähigkeiten lähmte den Jungen eher. Er fühlte sich zu sehr unter Druck. Aktiv aus sich heraus entschied er sich weder für eine Zukunftsrichtung noch gegen eine andere. Er tat schlichtweg nichts. Bereits im ersten Gespräch, in dem er sich überrascht zeigte, mit welchem Maß an Wohlwollen und Respekt ich ihm begegnete, fanden wir ein gemeinsames Bild, mit dem wir weiterarbeiteten. Er sprach von seinem »tief vergrabenen Widerwillen gegen Veränderung«. Als ich ihm in der Vorstellung versuchsweise einen Spaten zum Graben anbot, griff er das Bild auf. Er fing an zu graben und sein Feld zu beackern. Langsam wuchs sein Gefühl für seine eigene Wertigkeit, weil er über die Entwertung durch seinen Vater hinauswuchs. Seine große Leidenschaft galt dem Kochen, doch verbrachte er Jahre damit, diese »Berufung« zu umschiffen, Zum einen, weil seine Mutter ihn in Richtung Koch zu drängen suchte, zum anderen, weil er die Unbequemlichkeiten des Berufs aus Bequemlichkeit zu meiden suchte. Wir kamen aber stets darauf zurück, dass diese »Berufung« ihm eine Herzensangelegenheit war. Da wurde er lebendig. Der Wendepunkt kam, als ich eines Tages, als er wieder in seiner Unmotiviertheit, seinen Zweifeln an sich selbst und seinen Schuldgefühlen gegenüber der Mutter verloren zu gehen drohte, fragte: »Darf ich mal etwas machen?« Er nickte: »Ja, was denn?« »Darf ich mal meine Hand auf dein Herz legen, und falls du magst, die andere auf den Rücken zwischen deine Schultern?« Der junge Mann stimmte sofort zu. Seine Mutter, die mit ihm gekommen war, hielt den Atem an. Nach dieser Berührung und dem Blick, den wir schweigend tauschten, war seine Welt eine entschieden andere. Die BeHANDlung hatte sein Innerstes erreicht. Von dem Augenblick an stand er zu sich und seinen Herzensangelegenheiten. Danach ging es nicht mehr darum, ob er seiner Berufung folgen wollte, sondern bloß noch um das Wie. Kurze Zeit später hatte er eine Lehrstelle als Koch, die seinen Ansprüchen und Wünschen entsprach, und mailte mir: »Es macht einfach sauviel Spaß! Es ist alles fast noch besser, als ich’s mir gewünscht habe. Wie Sie mir begegnet sind, hat mir viel gebracht. Ich habe endlich meinen tief vergrabenen Schweinehund ausgegraben und ihn in die Flucht geschlagen.«
Die wenig selbstfürsorgliche, koabhängige Mutter eines 19-jährigen, sich nach außen brillant zeigenden jungen Mannes bescheinigt ihrem Sohn: »Er hat lauter gute Karten, er muss sie nur finden und ziehen.« Derzeit pokert ihr Sohn allerdings eher riskant mit dem Leben, als dass er sein »gutes Blatt« zu spielen wüsste.
Ich weiß mir selbst
nicht mehr zu helfen …
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Und eigentlich will ich auch gar nicht mehr. Es ist mir alles zu viel. Ich will mich am liebsten so treiben lassen, wenn ich schon nicht aus allem hier raus kann.«
Mit kaum bewegter, tonloser Stimme umriss ein 17-jähriger junger Mann seine resignierte Gemütsverfassung, als ich ihn zum zweiten Mal traf. Seine ihn bis in den tiefsten Kern prägende Lebensgeschichte hörte sich nach einer einzigen Folge von Ereignissen an, denen gegenüber er sich hilflos und unbeteiligt ausgeliefert fühlte. Seit frühester Kindheit litt er an einer heimtückischen, lebensbedrohlichen Krankheit, die wiederholt lange Klinikaufenthalte und etliche operative Eingriffe mit sich brachte. Er wusste nie, wie ihm geschah, wenn er sich wieder einmal im Krankenhaus wiederfand. Seine Eltern mussten ihn dort zwangsläufig allein zurücklassen, da die Aufenthalte sich zeitlich länger hinzogen. Er fühlte sich seelisch wie körperlich gemartert. Zu oft wurden von wechselnden Personen schmerzhafte Eingriffe an ihm vollzogen, gegen die er sich nicht zu wehren wusste. Jedes Mal erlebte er ein von außen gewaltsames Eindringen in seinen Körper. Seine frühe Leidensgeschichte erstreckte sich bis zum Alter von 9 Jahren, als seine Krankheit zum Stillstand gebracht worden war. Zu dem Zeitpunkt war er leider schulisch bereits zurückgeworfen. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, den Rückstand aufzuholen, wenn nicht das nächste für ihn fremdbestimmte Ereignis sein Leben überschattet hätte. Zu der Zeit war es sein Vater, bei dem eine unheilbare Erkrankung diagnostiziert wurde, für deren Entstehung niemand eine nachvollziehbare Erklärung wusste. Der Junge fühlte von Beginn an die Schwere und die Bedrohung, die sich fortan über die Familie legten. Sein Vater war nur noch mit sich selbst beschäftigt, wurde zudem mürrisch und depressiv. Die Mutter des Jungen war eine wenig liebevolle Frau, die aufgrund der ganzen Belastung wiederholt zu »mothers little helpers«, sprich Psychopharmaka und Alkohol, griff. Mit 10 Jahren war der Junge sich mehr oder weniger selbst überlassen. Mit Freunden begann er, Zigaretten zu rauchen. Erste Kaufhausdiebstähle folgten. Seine stummen Hilferufe »Seht her, ich bin auch noch da!« fanden keinen für ihn hilfreichen Widerhall. Er trieb sich weiter rum, ließ sich von Älteren auf kleinere Diebestouren schicken, um wenigstens etwas Anerkennung und obendrein Geld zu ernten. Mehrmals wurde er spätnachts, als er aufgrund seines jungen Alters draußen nichts mehr zu suchen gehabt hätte, von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Zunächst blieb das alles folgenlos. Seine Eltern reagierten bloß ruppig, die innere Not ihres Sohnes nicht wahrnehmend. Haltlos ließ er sich weiter treiben. Die Schule schwänzte er. Noch früher, als aufgrund seiner chronischen unheilbaren Krankheit erwartet worden war, starb bald darauf sein Vater durch einen tödlichen Autounfall. Der Junge war 12 Jahre und innerlich hoffnungslos allein. Er fing an zu kiffen. Den Stoff erhielt er von älteren Freunden. Seine überforderte Mutter setzte durch, dass er vom Jugendamt in einer ersten Wohngruppe platziert wurde. Erneut wurde gegen seinen erklärten Willen über ihn bestimmt. Der Junge startete eine mehrere Etappen umfassende Odyssee durch verschiedene Wohngruppen. In der ersten fühlte er sich von Beginn an schutzlos, von den Größeren gehänselt und gemobbt. Schmächtig, wie er zu der Zeit noch war, hatte er wenige Chancen, sich zu wehren. Immer wieder flehte er seine Mutter an, ihn dort rauszuholen. Seine Appelle verhallten ungehört. Er fuhr »stärkere Geschütze« auf, kiffte vermehrt, lief weg, sorgte unaufhörlich für Unruhe, bis er von den Betreuern der Wohngruppe für »untragbar« erklärt wurde. Er wurde verlegt, weiter weg. Bis zum Alter von 17 Jahren durchlief er zwei weitere Unterbringungsstationen. Inzwischen war er körperlich hoch aufgeschossen, innerlich aber ungefestigt und haltlos. Einen Schulabschluss hatte er nicht erreicht, weshalb er von einem weiteren »Amt« in einer jener überbetrieblichen Einrichtungen »geparkt« wurde, in denen junge Erwachsene einen Schulabschluss nachholen oder eine berufliche Orientierung erfahren können. Solche Maßnahmen sind leider nicht selten ein Sammelbecken für alle sozial Benachteiligten unserer Gesellschaft. Dementsprechend ballen sich dort die Probleme: Ziel- und Perspektivlosigkeit sowie fehlende Motivation und Antriebsarmut der Teilnehmer aufgrund bisheriger Lebenserfahrungen paaren sich mit niedriger Aggressionsschwelle, gewohnheitsmäßigem Drogengebrauch oder gar süchtiger Abhängigkeit bei zu vielen der dort Gestrandeten. Entwurzelung und Heimatlosigkeit bei Zuwanderern, die sich solchen Maßnahmen zugewiesen finden, kommen hinzu. Sexismus und Fremdenfeindlichkeit in einem die Mitarbeiter vor unlösbare Herausforderungen stellenden Ausmaß komplettieren das Problemfeld.
Für den jungen Mann, der sich genötigt sah, an einer ihm vorgeschriebenen Maßnahme in einer solchen Einrichtung teilzunehmen, war die Arbeitsstätte eine »feindliche Umgebung«. Er sah keinerlei Chance, in einem solchen Umfeld seinen Platz zu finden. Folglich produzierte er Fehlzeiten oder er kiffte in der Einrichtung. Im Übrigen verhielt er sich still und zurückgezogen. Unsympathisch war er niemandem. Die Betreuer schilderten ihn gar als im Grunde »liebenswürdig«, aber sie waren ratlos, was sie mit ihm anfangen sollten. Als ich ihn vor Ort zum ersten Mal traf, saß mir genau betrachtet ein innerlich verschrecktes Kind gegenüber, das nur eine nebulöse Vorstellung davon hatte, was als Nächstes auf es zukommen würde. Ich führte mit dem inzwischen 18-Jährigen mehrere Gespräche. Er rauche so oft Haschisch, »weil ich mich dann angenehm leicht fühle. Ich kann mich dann mit meinen Gefühlen so treiben lassen. Es tut mir nichts mehr weh. Außerdem kann ich doch sowieso nichts mehr machen. Die Sache ist für mich gelaufen«. Der junge Mann schien sich aufgegeben zu haben, hatte dem, was er immerfort über sich hereinbrechen fühlte, nichts entgegenzusetzen:
»Das Leben hat mir nichts mehr zu bieten. Ich habe eigentlich nie das Gefühl, dass ich selbst auf irgendwas Einfluss hätte. Immer nur wurde was mit mir gemacht. Seit ich so von einem Ort zum anderen geschoben wurde, haben mich alle zugelabert mit Schule, Beruf und Zielen, die ich haben sollte. Aber ich glaub’ nicht mehr dran, dass ich noch eine Zukunft habe. Ich pack das nicht.«
Zum einen war seine tief verinnerlichte Sichtweise wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, weil der junge Mann keinerlei Motivation und Antrieb aufzubringen vermochte, um aktiv etwas zur Veränderung seiner misslichen Situation beizutragen. Andererseits sah seine Zukunft aufgrund seiner bisherigen Geschichte wahrlich nicht sehr rosig aus. Mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten schien er tatsächlich nur noch wenige Chancen zu haben, so etwas wie eine verlockende Perspektive für sein Leben zu entwickeln. In unseren Gesprächen kamen wir folglich schnell an Grenzen. Was hätte ich ihm konkret bieten können? Die Realität der gnadenlosen Auslese in unserer Gesellschaft lässt sich nicht wegtherapieren. Wo hätte er in für ihn absehbarer Zeit eine Alternative finden sollen, für die er innerlich bereit gewesen wäre, sein ihn zusätzlich lähmendes tägliches Kiffen aufzugeben? In den Wirkungen des Haschischs fand er doch nach seinen Aussagen die einzigen angenehmen Gefühle. Folglich konnte er sich das nicht auch noch von außen wegnehmen lassen.
Immerhin erreichten wir unter Hinzuziehung Dritter eine gemeinsame Planung seines nächsten Jahres, in die er nach Abwägung der ihm ersichtlichen Vor- und Nachteile aus freien Stücken einwilligte. Weitab von allen bedrückenden Orten und Misserfolgen seines bisherigen Lebensweges nahm er in einem von der Sonne verwöhnten Land an einer jener oftmals so infrage gestellten Langzeitmaßnahmen der Jugendhilfe teil. Er sah sich dort in einen sehr haltgebenden Rahmen eingebunden, in dem er ohne Druck Zutrauen in eigene Fähigkeiten und Leistungen aufzubauen vermochte. Daran gekoppelt war eine Berufsausbildung, die seine Startchancen nach der Rückkehr in die raue Wirklichkeit erleichterte. Sein Veränderungswille war angestachelt. Heute lebt er zwar von Hartz IV und kleineren Jobs, wohnt aber mit seiner Freundin zusammen. Deren Herkunftsfamilie hat ihn ins Herz geschlossen, sodass er für sich ein Stück des lange Zeit so schmerzlich entbehrten Gefühls genießt: »Ich bin irgendwo angekommen, wo ich gerne bin.«
Ich philosophiere,
um zu überleben …
Ein 18-jähriger junger Mann, der mich anlässlich einer Gelegenheit außerhalb der Beratungsstelle kennengelernt hatte, kam ein paar Tage später ohne tieferes Anliegen zu einem ersten Gesprächstermin. Anfänglich ging es ihm nur um eine Fremdeinschätzung seines Haschischkonsums. Er kiffte täglich nach der Arbeit, zum Teil so heftig, dass er »völlig zu« war. Unsere Gespräche drehten sich allerdings weniger um sein Kiffen als um sein Erleben der »Innenwelt«.
Der Klient wirkte auf mich innerlich durchlässig und weich, zerbrechlich wie ein rohes Ei. Seine Geschichte klang nicht dramatisch, eher von »leisen Tönen« geprägt. Doch hatte gerade das Leise, Subtile und Unausgesprochen-in-der-Luft-Liegende zu seiner Verwirrung beigetragen. Nach der frühen Scheidung seiner Eltern pendelte er über Jahre hinweg wöchentlich zwischen seiner Mutter und seinem Vater hin und her. Seine Eltern versorgten ihn zwar, sprachen aber beide wenig mit ihm und waren nicht in der Lage, ihm Warmherzigkeit entgegenzubringen. Bei beiden Elternteilen traf er zudem auf kommende und wieder gehende neue Partnerschaften.
Gleichgültig, bei wem er gerade war, der Junge lief eigentlich immer nur »so nebenbei mit«. Am willkommensten fühlte er sich, wenn er möglichst wenig störte, tat, was die anderen von ihm erwarteten. So machte er sich früh unauffällig. Seine Sicherheit bestand darin, frühzeitig »zu riechen, was in der Luft lag«. Er verhielt sich dann kindlich »zuvorkommend« und machte allen alles recht. Seine Fähigkeit, sich wie ein Chamäleon an jede wechselnde Person und Situation anzupassen, entwickelte er bis zur Perfektion. Dass er selbst darüber verloren ging, wurde von niemandem wahrgenommen, ebenso wenig seine wachsende innere Einsamkeit. Er war gezwungen, sich an sich selbst festzuhalten. Er fing an, mit sich selbst zu sprechen, um sich zu erklären, was um ihn herum vor sich ging, und um seine eigene Stimme zu hören. Dann »wusste ich, dass ich noch da war«. Er entwickelte eine völlig eigene »Innen- und Gedankenwelt«, die er mit niemandem teilen konnte. Mit 15 Jahren begann er, Haschisch zu rauchen. Die Erfahrungen mit der Droge fügten seiner Innenwelt weitere »Gedankengebäude« hinzu: »Wenn ich zugekifft in ihnen umherstreifte, fühlte ich mich wohl.«
Als ich ihn mit 18 Jahren zum ersten Mal sah, wirkte er liebenswürdig und freundlich. Eine für männliche Jugendliche seines Alters gänzlich untypische »Zuvorkommenheit« ließ ihn allerdings linkisch und unbeholfen erscheinen. Einerseits war er beständig um ein hohes Maß an Zuwendung bemüht, fast als wolle er in sein Gegenüber hineinkriechen. Andererseits wirkten seine Kontaktversuche leer.
In unseren gemeinsamen Gesprächen erwies er sich als »schwer denkender Philosoph«. Er wollte mir Gott und die Welt erklären. Es fiel mir zeitweise unglaublich schwer, seiner sich endlos entwickelnden Gedankenflut zu folgen, die Zusammenhänge der Gedankenstränge zu erkennen, wirklich Bedeutsames von weniger Wichtigem zu trennen. Sein Rededrang ohne Punkt und Komma war kaum zu unterbrechen. Es dauerte lange, bis er ein Angesprochenwerden überhaupt registrierte und darauf mit Blickkontakt reagierte. Es war, als spreche er weniger zu mir denn zu sich selbst.
Der Klient hielt philosophierende Monologe. Zeitweilig waren jene für mich so ermüdend, dass sich enorme Frustration in mir ausbreitete. Ich spürte förmlich, wie sie langsam, vom Zentrum meines Fühlens ausgehend, Schicht für Schicht bis in die äußerste Hülle meiner Haut kroch. Dort blieb sie und bildete eine zweite Haut. Spätestens, wenn ich mich so fühlte, brach regelmäßig der innere Kontakt zu meinem Klienten ab. Seine innere Isolierung war in mir wiedererstanden. Ich ahnte, wie es um sein Gefühlsleben bestellt war. Wiederholt beschrieb ich ihm den Gemütszustand, in den ich geraten war. Er nickte dann stumm und hielt lange Blickkontakt. Seine Augen und sein Gesichtsausdruck signalisierten mir, dass er sich verstanden fühlte. Die Momente des Kontakts wurden zwar zunehmend länger, aber irgendwann verdunkelte sich sein Blick und er ging wieder in sein eigenes, von Philosophieren getragenes Universum. Dabei machte er allerdings einen gesteigert gequälten Eindruck. Dienten seine Selbstgespräche und sein Sich-die-Welt-Erklären früher seinem psychischen Überleben, empfand er sie mittlerweile als nervige Belastung. Seine Gedanken standen selten still. Er irrte im Denken wie gehetzt hin und her, türmte Gedankengebäude auf Gedankengebäude, unfähig, »die Wirbel im Kopf« zu stoppen. Erleichterung verschaffte ihm das tägliche Kiffen. Während seiner Arbeit, der er in einer für ihn notwendigen Selbstdisziplin nachging, gebrauchte er nie Haschisch, immer erst am Abend. Die beruhigenden Wirkungen des Mittels waren sein Zufluchtsort,
»… wo ich bei mir selbst ankomme. Da finde ich endlich mich. Ich muss kiffen, weil es dann in meinem Kopf viel ruhiger wird. Meine Gedanken kommen langsamer. Ich kann sie dann viel besser ordnen. Ich denke zwar auch dann noch über Gott und die Welt und mich nach, aber ich finde mehr Sinn darin, es geht nicht alles so wirr durcheinander. Damit kann ich viel mehr was anfangen«.
Ohne Kiffen hielt der Klient die Realität lange Zeit nur schwer aus. Haschisch wirkte wie ein Puffer, legte einen besänftigenden Schleier über seine Gedanken und Gefühle. Wenn er mit Absicht mal nicht Haschisch rauchte, lief er ebenso unruhig kreuz und quer durch die Straßen, wie er in seinem Denken umherirrte. Dabei führte er häufig die gewohnten murmelnden Selbstgespräche.
Gelegentlich kreuzten sich früher unsere Wege in der Stadt, während er »so drauf« war. Beunruhigt wurde ich dadurch nicht. Der junge Mann war in keiner Weise psychotisch, schizophren oder geistig verwirrt. Er lebte nur in einer sehr eigenen Welt, wirkte wie ein etwas verschrobener Sonderling. Das Positive daran ist bis in die Gegenwart seine fantastische Kreativität, die er zudem in seinem Beruf trefflich zu nutzen vermag.
Die Arbeit mit dem Klienten war über Jahre hinweg eine Mischung aus vereinzelten Therapiestunden und Lebensbegleitung. Insgesamt hat der inzwischen erwachsene Mann seinen Haschischgebrauch völlig heruntergefahren. Nur »seltenst ziehe ich mir noch einen Joint rein, vor allem, weil mir dann das Lachen leichterfällt. Das brauche ich vielleicht noch so. Jedenfalls will ich das nicht ganz missen«.
Von dem Zeitpunkt ab, als wir nicht mehr nur mit Sprache arbeiteten, sondern altersgemäße Elemente aus der Körpertherapie in die Arbeit integrierten, wurde der Kontakt stabiler. Den Klienten nur mit Ansprechen zu erreichen war nicht ausreichend wirksam. Darin fand er nicht genügend Halt. Fügten wir vorsichtig dosierten Körperkontakt hinzu, veränderte das vieles. Hielt er sich beispielsweise mit einer Hand an meinem Unterarm fest oder stellte er seine Fußsohlen im Sitzen gegen meine Knie, reichte das aus, um heilsam verändernden Kontakt zu stiften. Der Klient wurde wesentlich ruhiger, seine Gedankenflut ebbte ab, sein unsteter Blick ging über in einen Ruhe vermittelnden Austausch von Blicken. Er schloss gar öfter die Augen und fing an, vertieft zu atmen. Die Atmung führte ihn sicher zu sich selbst. So kam er am zuverlässigsten bei sich an. Wenn er nach solchen Stunden wegging, war sein Gesicht gelöster, der Gang fester, aufrechter, sicherer. Andere Übungen dienten verstärkt dazu, Türen aus der philosophierenden Kopflastigkeit des jungen Mannes zu seinen verhuschten Gefühlen zu öffnen. Die Verbindung seiner unbezogenen Innenwelt mit der belebten Außenwelt vollzog sich zwar in seinem ganz individuellen, eher langsamen Rhythmus, aber sie zeigte Wirkungen. Der mittlerweile im guten Sinn erwachsen gewordene Mann bewegt sich sicher und realitätsangemessen in seinen Lebensbezügen. Er fühlt sich »zentriert«. Sein früheres Philosophieren hat den Charakter echter Belesenheit angenommen und ist mit Teilhabe am Leben verbunden. Eine innere Bereicherung sind neu gewonnene Freunde, die viel und gern mit ihm sprechen und ihn in früher gescheute Freizeitaktivitäten einbinden.
Ich fühle mich so hin-
und hergerissen …
Ein Klient, der, als er zu mir in die Beratung kam, den Eindruck machte, mit einem nur unzureichend gekitteten Riss in der Seele durchs Leben zu gehen, ist mir in besonderer Erinnerung geblieben.
Bereits als er zum ersten Gespräch die Treppe zum Beratungszimmer hinaufstieg und noch bevor wir außer unserer telefonischen Verabredung überhaupt ein weiteres Wort miteinander gewechselt hatten, fiel mir ein merkwürdiger Widerspruch an ihm auf. Nachdem er mir gegenübersaß und mich zum Ankommen erst einmal abtastend und mit durchdringendem Blick beäugte, sprang mir besagter Widerspruch richtiggehend in die Augen. Gemäß allen nonverbalen Signalen, die mir vom Klienten zuflossen, schätzte ich ihn ohne Zögern auf exakt 18 Jahre. Gleichzeitig war ich mir absolut gewiss, dass das unmöglich sein wahres Alter sein konnte. Sein Aussehen, seine Statur und besonders seine bereits leicht ergrauten Haare entsprachen so ganz und gar nicht einem 18-jährigen jungen Mann. Tatsächlich betrug sein biologisches Alter 29 Jahre. In den Kernbereichen der Persönlichkeitsentwicklung war indes seine Reifung blockiert. Mit 18 Jahren hatte er es aufgegeben, innerlich weiterzuwachsen.
Seine Geschichte ergab ein wohl vertrautes Bild: Seine Eltern hatten sich sehr früh scheiden lassen. Weder von seinem leiblichen Vater noch von sonst einer männlichen Identifikationsfigur erfuhr er je männliche Unterstützung. Seine Mutter zog ihn zwar groß, vermittelte ihm aber nie das Gefühl, willkommen zu sein. Um ungestörter ihrem eigenen Leben nachgehen zu können, schob sie ihn mal hierhin, mal dorthin. Stabiler, emotional zuverlässiger Halt war für den Klienten ein unbekanntes Gefühl. Als Folge davon verspürte er leidvoll, wie sehr es ihm an Selbstbewusstsein mangelte. In seiner Männlichkeit war er gar derart verunsichert, dass er bis in die Gegenwart noch nie eine sexuelle Begegnung mit einer Frau hatte. Er war eindeutig nicht homosexuell, wie ich es für einen kurzen Moment in Erwägung gezogen hatte. Es war ihm sichtbar unbehaglich zumute, über seine »Jungfräulichkeit« zu sprechen. Gleichzeitig entlastete es ihn deutlich von seinen drückenden Gefühlen, mit diesem Geheimnis, das er bis dahin noch niemandem anvertraut hatte, ratlos allein zu sein. Wir kamen deshalb so frühzeitig darauf zu sprechen, weil ich ihn sehr konsequent und direkt, aber voller Taktgefühl mit meinen Wahrnehmungen seiner Person konfrontierte. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, dass wir nicht allzu viel Zeit miteinander verbringen würden.
Der Klient war nicht aus eigenem Antrieb zur Drogenberatung gekommen. Seine Mutter, die ihn mit 18 Jahren, dem Alter, ab dem er sich seelisch nicht wirklich weiterentwickelte, allein ließ, weil sie mit einem neuen Lebensgefährten vorübergehend in eine entferntere Stadt zog, hatte ihn unter Druck gesetzt. Von ihrem eigenen, durchgehend schlechten Gewissen ihrem Sohn gegenüber geplagt, war es ihr nie gelungen, ihn loszulassen. Sie hielt ihn im Gegenteil in Unselbstständigkeit. Wenn es in der Realität für ihren Sohn eng wurde, sprang sie laufend ein, um die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen. Allzu lange Jahre versuchte sie sich zudem mit üppigen Geldzuwendungen von ihren Schuldgefühlen freizukaufen. Nun endlich hatte sie sich ihrerseits auf Anraten dazu durchgerungen, ihrem Sohn den Geldhahn zuzudrehen, wenn er nicht darin einwilligte, wegen seines ausufernden Drogengebrauchs eine Beratungsstelle aufzusuchen.
In der Tat hatte sein verquerer Lebensweg den Klienten bereits in jungen Jahren dazu geführt, in den Wirkungen von Drogen eine Linderung seines inneren Gequältseins zu suchen. Im Alter von 13 Jahren beginnend, hatte er seither alles ausprobiert, was berauschende Verlockungen verhieß: Marihuana und Haschisch, magische Pilze, LSD, Ecstasy, Ketamin, Kokain, Engelstrompete und Wahrsagesalbei. Nur vor Heroin war er zurückgeschreckt. Seine eindeutige Lieblingsdroge war ohne Wenn und Aber Cannabis. Sofern er über genügend Geld verfügte, deckte er sich reichlich damit ein und konsumierte täglich.
Die Ursachen seines Drogengebrauchs sah mein Klient selbst sehr klar. Er fühlte sich über Gebühr lebensängstlich und litt unter seiner sich immer aufs Neue bestätigenden Wahrnehmung, wie kindlich und unreif er in vielen Belangen wirkte. Obgleich äußerlich ein sehr ansehnlicher Mann, wich jede Frau, die er kennenlernte, vor ihm zurück, weil er sie nicht mit einer altersgemäßen männlichen Ausstrahlung anzuziehen vermochte. Wenn er kiffte, fühlte er sich spürbar weniger ängstlich. Obendrein bändigte er mit den besänftigenden Wirkungen des Haschischs seine wachsende Wut auf Gott und die Welt. Sein Grundgefühl des Sich-hin-und-her-gerissen-Fühlens zog sich nämlich mittlerweile durch alle Lebensbereiche. Er war zwar in der Lage gewesen, einen Berufsabschluss zu erwerben, mit dem er grundsätzlich überall auf der Welt eine gefragte Arbeitskraft hätte sein können, doch fühlte er sich nirgends hingehörig. Nie heimisch werdend, wechselte er beständig die Arbeitsstellen wie die Wohnorte. Sein Hin und Her fand eine programmatische Entsprechung in seinen beiden Staatsangehörigkeiten und in seinem fortwährenden Wandern zwischen den Welten. Das dadurch hergestellte Chaos zog nach sich, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt seiner Arbeitslosigkeit keine Behörde sich mehr für seine Belange zuständig erklärte. Er fühlte sich zwischen den wechselnden Ämtern, die er aufsuchte, förmlich zerrieben. Die Frage, wer eigentlich für ihn zuständig sei, passte als die Lebensfrage schlechthin zu seiner Geschichte. Niemand wollte je wirklich für ihn der verantwortlich zeichnende Ansprechpartner sein. Niemand hatte ihm vorgelebt, »wie das geht mit dem Leben«. Folglich hatte er auch nie gelernt, die Zuständigkeit für seine Lebensgeschicke selbst zu übernehmen. Die eigene Verantwortung für sein Leben im Hier und Jetzt als erwachsener Mann schob er von sich. Er beharrte im Gegenteil auf der inneren Haltung: »Die Welt ist mir noch was schuldig. Mir steht noch von Rechts wegen was zu.« Seine Anspruchshaltung erstreckte sich auf alles und jeden: seine Mutter, seine Wohngefährten, mögliche Arbeitgeber, die von ihm für seine Unterstützung als zuständig erachteten Ämter und Behörden. Selbst die Sonne sollte ihm immer scheinen.
Trotz seiner lebenspraktischen Schwierigkeiten machte er den Eindruck, über allem zu schweben. Das tägliche Kiffen half ihm dabei. Der Rausch beschönigte ihm die ihn fordernde Realität. Seinen Umgang mit Cannabis beurteilte er entsprechend charakteristisch: »Es ist zwar ein Problem, aber ich mache mir keins draus.« Generell idealisierte er die Wirkungen der von ihm kennengelernten Rauschmittel: »Die wichtigsten Dinge im Leben habe ich durch Drogen gelernt.« Insbesondere schwor er darauf, dass sie ihm hilfreich seien im Umgang mit Menschen. Am liebsten nahm er eine hochgestochen-dozierende Haltung ein, mit der er sich den Niederungen des Lebens überlegen erweisen wollte: »Es tut mich peripher alles gar nicht tangieren.« Diese Formulierung liebte er ganz besonders. Sprachlich war der Klient überaus gewandt, aber mit einer solchen Äußerung verriet er sich zugleich. Ich brauchte seinen wie eine Trophäe präsentierten Satz nur mit einer besonderen Betonung auf »peripher« zu wiederholen und die verkürzte Frage anzuschließen: »Und im Kern?«, um ihn dort zu berühren, wo er sich innerlich wund fühlte. Als ich ihn obendrein noch freundlich anblickte, spürte er, dass ich mitfühlen konnte, wie es in ihm aussah. Seine Haltung änderte sich augenblicklich, und mit großer Nachdenklichkeit erzählte er mir von seinen achtsam verborgenen Gefühlen. Es war der Moment der größten Berührung zwischen uns beiden.
Innerhalb weniger Gespräche hatten wir konkrete Schritte erarbeitet, die unter anderem dazu führten, dass er vorübergehend wieder in Arbeit kam. Da damit allerdings der unmittelbare Druck der ihm eng auf die Pelle gerückten Realität gemildert war, versiegte augenblicklich seine Motivation zu weiteren Schritten. Für die nur noch möglichen frühen Morgentermine bekam er »den Hintern nicht rechtzeitig aus dem Bett«. So riss der Kontakt ab. Einer seiner Pläne war, sich im folgenden Sommer in sonnigere Gefilde abzusetzen, dort bei Freunden Unterschlupf zu suchen und sich in seinem Beruf anzubieten. Ich hoffe, dass ihm zumindest dieser Schritt gelungen ist. Die Lebensfrage, wo er eigentlich hingehört, wird ihn in jedem Falle weiter durch sein Leben begleiten. Dass er die »Heimat« in sich errichten muss, um sich weniger hin- und hergerissen zu fühlen, fand während unserer Gespräche noch keinen ausreichend motivierenden Widerhall. Vielleicht konnten wir wenigstens ein Samenkorn dazu legen.
Hin- und hergerissen, zerrissen, zutiefst lebensunwert fühlte sich auch ein 15-jähriger Schüler, der seit einem Jahr täglich intensiv kiffte. Er wurde nach seiner Geburt von seiner leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben, weil sein Vater nichts von einem Kind wissen wollte. Als das ihn adoptierende Elternpaar sich nach einigen Jahren trennte, verlor er auch seine Adoptivmutter, die bislang »für ihn zuständig war«. Da er sich als nicht so pflegeleicht erwiesen hatte, wollte sie ihr neues Leben nicht länger mit einem Adoptivkind verkomplizieren, das ihrem neuen Partner ohnehin nicht willkommen war. Folglich wohnte er weiter bei seinem Adoptivvater, der ihm gefühlsmäßig aber nie ein Vater oder eine männliche Bezugsperson war. Er versorgte seinen Sohn zwar mit materieller Sicherheit, war aber unfähig zu einer förderlichen Vater-Sohn-Beziehung. Sein inkonsequentes Laisser-faire ließ dem 15-Jährigen Freiheiten, mit denen er in keiner Weise umzugehen wusste. Der Weg zu Drogenexperimenten war nicht weit. Als der Adoptivvater seinerseits wieder mit einer neuen Frau zusammenleben wollte, wurde diese von dem Sohn aufs Heftigste abgelehnt und bekämpft. Er wollte nicht noch eine dritte Mutter, nachdem er schon zwei verloren hatte. Die Situation zu Hause eskalierte. Der Cannabisumsatz des jungen Mannes steigerte sich rapide. In seiner Not fand er den Weg zu mir in die Drogenberatung. Der 15-Jährige war ein ausgesprochen gut aussehender Junge, nach dem sich viele Mädchen umdrehten. Außerdem entdeckte ich schnell wertvolle Ressourcen und Talente in ihm, für die er in seiner empfundenen Minderwertigkeit jedoch selber blind war. Als wir die Dramen seines Lebens und das Übermaß an zu früh erlittenen Verlusten durcharbeiteten, klärte sich so manches Gefühlschaos für ihn. Ich unterstützte ihn zudem in seinem Wunsch, sich auf die Suche nach seinen Wurzeln zu machen. Über das Internet machte er in der Tat seine leibliche Mutter ausfindig, die sich bereiterklärte, ihr Kind kennenzulernen. Die Begegnungen mit ihr und einem Halbbruder nahmen ihn innerlich so in Beschlag, dass der Cannabisspuk von heute auf morgen ein Ende hatte. Ganz aktuell ist sein Problem die Ordnung seiner Beziehungen im Hier und Heute, zumal sein Adoptivvater sowie dessen Partnerin die Beziehung zur leiblichen Mutter voller Misstrauen und Ablehnung beäugen und zu boykottieren suchen, statt die Freude des Jungen zu teilen. So fühlt er sich aufs Neue und Heftigste hin- und hergerissen zwischen allen in ihm angelegten Beziehungsbanden.
Ich fühle mich so anders …
Mitten unter uns gibt es viele Menschen, Jugendliche wie Erwachsene, die sich innerlich von Empfindungen bedrängt sehen, welche es ihnen erschweren, sich »heimisch«, »zugehörig« oder »angekommen« zu fühlen. Sie fühlen sich vor allem »anders« in ihrer Haut. Manchmal als heimliche innere Bürde, bisweilen offen ersichtlich.
Was es bedeutet, sich in seinem innersten Kern zutiefst »anders« zu fühlen, verdeutlichte mir sehr anschaulich eine 16-jährige Schülerin, die seit 2 Jahren regelmäßig Haschisch und Marihuana benutzte.
Das Mädchen war indischer Herkunft und im Alter von drei Jahren von einem deutschen Paar adoptiert worden, welches noch drei weitere leibliche Kinder hatte. Sie war die Jüngste. Die Familie war recht wohlhabend. Überdurchschnittliche Konflikte gab es nicht, sodass das Mädchen »in geordneten Verhältnissen« aufwuchs. Niemand in der Familie hatte das Gefühl, es würde der Adoptivtochter an irgendetwas mangeln. Umso größer waren das Unverständnis und Entsetzen, als jene mit 14 Jahren unvermittelt anfing, Cannabis zu gebrauchen. Zwei Jahre später hatte ihr Konsum ein für sie schädliches Ausmaß angenommen. Erst zu diesem späten Zeitpunkt wandten sich die Eltern an die Drogenberatung. Sie wussten sich und ihrer indischen Tochter nicht mehr zu helfen. Eine Woche später sah ich das Mädchen zum ersten Mal.
Vor mir saß ein weibliches Geschöpf, das geradewegs einem fernöstlichen Märchen entstiegen zu sein schien. Die junge Deutsche indischer Abstammung war so makellos schön und ebenmäßig, dass sie überall, wo sie auftauchte, magisch die Blicke anderer Menschen auf sich ziehen musste. Während wir die ersten Worte miteinander wechselten, schaute auch ich sie an, um ihr Bild in mich aufzunehmen und in mir nachzuspüren, was es zum Klingen bringen würde. Etwas stimmte nicht. Ahnungsvoll wandte ich meine Augen von ihr ab, dem Eindruck nachgehend, dass ich die junge Frau als überaus schutzbedürftig erlebte. Nach kurzer Bedenkzeit, ob es nicht viel zu früh sei, zu äußern, was mir durch den Kopf ging, sagte ich ihr: »Ich glaube, das muss schwer für dich hier sein. Du fühlst dich bestimmt ganz anders unter uns.«
Sie sah mich einen Moment aus großen Augen an, lächelte bitter und dann brach es schon zornig und zugleich traurig aus ihr heraus:
»Ich fühle mich schon, seit ich denken kann, anders. Meine Eltern haben mir früh gesagt, dass ich ein Adoptivkind bin. Sie hätten es mir gar nicht sagen brauchen, denn das konnte ich doch von Anfang an sehen, dass ich nicht gleich war wie sie und meine Geschwister. Ich bin doch wirklich ganz anders. Es ist nicht nur meine Hautfarbe, die mich hier anders macht. Die finden viele ja sogar noch hinreißend schön. ›Schön‹, wenn ich das nur schon höre, könnte ich schreien. Ich fühle mich aber auch innendrin fremd hier. Meine Eltern und meine Geschwister, ich glaube, niemand weiß, wie ich mich wirklich fühle. Alle sagen zu mir, es geht dir doch gut, du hast doch alles, dir fehlt doch nichts. Sie sind böse auf mich und machen mir Vorwürfe, weil ich so viel Shit und Ganja rauche. Ohne halte ich das gar nicht mehr aus. Manchmal traue ich mich kaum noch raus. Wenn ich Haschisch oder Ganja geraucht habe, fühle ich mich sicherer. Dann bin ich wie beschützt. Es legt sich etwas um mich herum, was mich weniger durchdringbar macht. Eigentlich komisch, dass ich mich mit Haschisch nicht so fremd fühle, denn anders bleibe ich doch trotzdem.«
Die Ursachen für ihre Zuflucht zu Haschisch und Ganja legte die junge Frau sehr offen, zumindest diejenigen, die ihr selbst bewusst waren. Es ist ein wenig spekulativ, aber ich bin überzeugt davon, dass sie Cannabis noch aus gänzlich bewusstseinsfernen Gründen zum Mittel ihrer Wahl erkor. Als Inderin stammt sie aus einer der Regionen der Erde, in denen der Umgang mit »Charas«, »Bhang« und »Ganja« den Menschen seit Jahrtausenden in die Wiege gelegt wird. Die Verehrung von Cannabis ist untrennbar mit den alten indischen Gottheiten, mit Glauben, Religion und Spiritualität verbunden. Säuglinge saugen die Cannabiskultur quasi mit der Muttermilch ein. Selbst wenn der Konsum von Cannabisprodukten vorzugsweise eine männliche Domäne ist, die junge Frau brachte ihr Umgang mit der Droge näher an ihre kulturellen Wurzeln heran. Sie fühlte sich damit weniger fremd. Sicher nicht zufällig benutzte sie die Bezeichnung »Ganja«, was für hiesige Marihuanagebraucher eher untypisch ist.
Um für sich einen Weg zu finden, mit ihrem Anderssein trotzdem »heimischer« in unserer Kultur und »unter uns« zu leben, brauchte sie vor allem anderen erst einmal einen Menschen, dem sie sich mit ihrem Empfinden anzuvertrauen wagte, und der sie in Gänze zu verstehen in der Lage war. Das konnte ich für sie weder als Mann noch als Deutscher sein, der zwar über die Wurzeln und Gebräuche der hohen indischen Kultur zu lesen, sie aber nicht wirklich zu »fühlen« vermochte. Ich dachte sogleich an eine dritte Person, die ich vor Jahren bei einer interkulturellen Veranstaltung kennengelernt hatte und zu der es seither immer mal wieder beruflich veranlasste Kontakte gab. Es handelte sich um eine erwachsene Frau mit ebenfalls indischer Abstammung, die seit langen Jahren zufrieden »unter uns« lebt und sich in ihrem Beruf mit den Auswirkungen »kultureller Verpflanzungen« beschäftigt. Ich stellte den Kontakt zwischen ihr und der 17-jährigen Schülerin her. Gemeinsam arbeiteten sie daran, der jungen Frau einen für sie gangbaren Weg zu ebnen, der sie sowohl bei ihrer ureigenen Identität als auch in ihrer »hiesigen Heimat« ankommen ließ und Cannabis weitgehend entbehrlich machte.
Das Thema des »Sich-ganz-anders-Fühlens« hat zahlreiche Ausprägungen. »Unter uns« lebende Menschen fühlen sich sehr häufig anders und fremdartig. Nur zu häufig bleiben sie mit ihrem Empfinden allein oder »unter sich«, weil kein anderer ihr Erleben wirklich teilend nachzuempfinden vermag. Bei den unter uns lebenden »schwarzen« oder »farbigen« Mitmenschen sowie bei Zuwanderern aus aller Herren Länder, also Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, werden die Schwierigkeiten augenscheinlich. Nicht nur, dass sie bereits an ihrer Entwurzelung schwer genug zu tragen haben und selbst in der zweiten oder sogar dritten Generation noch gar nicht innerlich »bei uns« angekommen sind. Sie sehen sich zusätzlich den offenen oder verdeckten Anfeindungen unserer fremdenfeindlichen Mitbürger ausgesetzt. Dem doppelten psychischen Druck halten viele nicht stand. Für sie wird die Zuflucht zu den anfänglich Entlastung gewährenden Wirkungen von Rauschdrogen zur dritten und vielleicht sogar ernsthaftesten Bedrohung.
Es sind aber nicht nur Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft, Religion und Kultur, die sich »anders« fühlen können. Immer wieder treffe ich auf Kinder und Jugendliche, die berichten: »Ich fühle mich irgendwie anders. Aber eigentlich kann ich gar nicht genauer sagen, wie.« Wiederholt hat sich bei den familiären Nachforschungen ergeben, dass es sich um adoptierte Kinder handelte, denen ihre Eltern von ihrer wahren Herkunft noch nichts erzählt hatten, weil sie diese Wahrheit immer wieder vor sich hergeschoben hatten. Darüber wurden sie im Endeffekt so unsicher, dass sie keinen Weg mehr wussten, wie sie ihrem Sohn oder ihrer Tochter die Tatsache der Adoption nach so langen Jahren des Darüberschweigens vermitteln sollten. Feinfühlig, wie Kinder sind, spürten die Söhne oder Töchter allerdings, »dass irgendetwas nicht stimmte« mit ihnen. Über ihre Herkunft und die Adoption war ihnen zwar nichts erzählt worden, aber es war ihnen »ahnungsbewusst«, dass sie anders als andere Kinder waren. Da sie keine für sie nachvollziehbare Erklärung fanden, suchten viele den Fehler bei sich: »Was ist es, was an mir nicht richtig ist? Wieso habe ich immer das Gefühl, etwas stimmt nicht mit mir?« Manchmal war es anfänglich ein Schock, wenn bei Adoptivkindern, die wegen Drogenproblemen in die Beratung gekommen waren, kein Weg daran vorbeiführte, im familientherapeutischen Prozess ihre wahre Herkunft aufzudecken. Für Kinder wie Eltern war die Aufdeckung des »Geheimnisses« zu Anfang ein Drama. In einigen wenigen Fällen konsumierten die Jugendlichen erst einmal verstärkt Rauschmittel. Sie fühlten sich von ihren »Eltern« getäuscht, jahrelang hintergangen. In aller Regel jedoch führte die Aufdeckung des Geheimnisses direkt oder nach einiger Zeit zu einer positiven Veränderung. Da die Kinder oder Jugendlichen endlich die erklärende Antwort auf die Frage gefunden hatten, was an ihnen »so anders« war, konnten sie innere Umwertungen in sich vollziehen. Sie fanden im Nachhinein die Bestätigung dafür, dass sie von jeher richtig gefühlt hatten. Sie durften sich auf ihr Gefühl verlassen, dass »etwas nicht stimmte«. Das »Etwas« lag indes nicht in ihrem persönlichen Wesen begründet. Nicht sie als Kinder waren »falsch«. Falsch war das jahrelange Schweigen der Eltern, selbst wenn jene mit bester Absicht gehandelt hatten, weil sie glaubten, ihre Kinder vor der Wahrheit ihrer Herkunft verschonen zu können.
Nahezu regelmäßig begegnet mir das Thema des »Andersseins« bei Söhnen und Töchtern von psychotischen oder schizophrenen bzw. von alkohol- oder drogenabhängigen Eltern.
Ein süchtig abhängiger Elternteil bringt für viele Kinder ein dramatisches Erleben mit sich. Doch das ist noch irgendwie »sichtbar« oder »fassbar«. Die Kinder wissen zumeist, »was Sache ist«, und entwickeln bestimmte Lebensstrategien, die ihnen helfen, mit der familiären Belastung zu überleben.
Weit weniger greifbar ist das Zusammenleben mit einem psychotischen oder schizophrenen Elternteil. Deren Kinder sehen und spüren, dass die Eltern »anders« sind, dass sie »nicht stimmen«, nicht »normal« sind. Auch sie entwickeln Strategien, mit der »Störung« ihrer Eltern zu leben. Doch es hinterlässt tiefer reichende Spuren in ihrem innersten Kern. Diese wirken sich umso gravierender aus, je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der Erkrankung des jeweiligen Elternteils sind. Manche solcher Kinder beginnen als Jugendliche, Cannabis oder andere Drogen zu gebrauchen. Sie benutzen das Mittel, um die ihnen innewohnenden Sorgen und Ängste zu dämpfen und unter Kontrolle zu halten. Die Söhne oder Töchter machen sich fortwährend Gedanken darüber, ob sie ebenfalls so »verrückt« werden könnten wie ihre Mutter oder ihr Vater.
Eine meiner Klientinnen befürchtet so bei jeder länger dauernden gefühlsmäßigen Verwirrung, für die sie keine unmittelbare Erklärung findet, »dass es jetzt so weit ist« und sie ihrer schizophrenen Mutter ähnlich wird. Ihre Angst ist förmlich mit den Händen greifbar. Ich biete ihr in solchen Momenten vorsichtig dosierten Berührungskontakt an. Der darüber vermittelte Halt reicht aus, um nicht in der Angst verloren zu gehen. Ihre Befürchtungen, der Mutter nachzuschlagen, sind gewachsen oder vielmehr spürbarer für sie geworden, seit sie ihren früheren täglichen Haschischkonsum drastisch reduziert hat. Der Stoff hilft ihr nicht mehr, die innere Unruhe in Schach zu halten. Sie ist dabei, andere Strategien zu entwickeln, um mit ihrer Angst vor dem »Anderssein« fertig zu werden. Die 19-Jährige ist sehr feinfühlig, aber vielfach noch unsicher, ob sie ihren Gefühlen trauen darf. Immer wieder ist Thema, ob ihre Wahrnehmung »richtig« ist oder vielleicht doch »falsch« sein könnte.
Es ist eine Leistung, wenn ein junger Mensch, der neben einem »meist in einer anderen Welt weilenden« Elternteil groß geworden ist, die Sicherheit in sich findet: »Ich brauche nicht so zu werden wie meine Mutter (oder mein Vater)«, oder wenn er zumindest mit der Restunsicherheit so zu leben vermag, dass sie seine Lebenszufriedenheit nicht in untolerierbarer Weise einschränkt.
In absolut verunsichernder, beängstigender Weise »anders« fühlen sich junge Männer, die den Verdacht oder bereits die Gewissheit haben, dass sie »schwul« sind. Sofern das ruchbar wird, kann ihnen in der Welt der jungen männlichen Erwachsenen ein solches Maß an Verachtung, Ablehnung, Hassbekundungen und Pöbeleien entgegenschlagen, dass es schlichtweg nicht zu ertragen ist. In ihrer Not greifen sie nicht selten zu Cannabis oder Alkohol, um mal einen Moment der inneren Ruhe zu erleben.
Ganz aktuell kommt ein derart um Orientierung ringender 15-Jähriger mit etlichen seiner Freunde regelmäßig in einem schulischen Beratungsprojekt zu Gesprächen. Seine Freunde ekelt es an, wenn sie sich von ihm angemacht fühlen. Sie schreien ihm fast entgegen: »Hör auf, mich anzumachen. Ich mag das nicht. Versuch nie wieder, deinen Kopf an meine Schulter zu legen, sonst schlage ich.« Für seine Freunde spricht, dass sie versuchen wollen, den freundschaftlichen Kontakt zu ihrem 15-jährigen Kameraden nicht abreißen zu lassen. Aber sie wollen auf keinen Fall in den Geruch kommen, einem Schwulen zu nahe zu kommen. Das erlauben die unbarmherzigen Gesetze ihrer Jungenwelt nicht. Sie würden sich im Endeffekt selbst gemobbt sehen. Der Junge selbst hat noch panische Angst vor seiner Homosexualität, weswegen er im Moment mit einem Mädchen »rummacht«. Außerdem kifft er nicht zu knapp, weil er sich damit phasenweise leichter fühlt und sich »männlicher« zu geben glaubt. In den Gesprächen mit der Gruppe ist das Thema aber weniger der Cannabisgebrauch als vielmehr die überhöhte Angst vor der Homoerotik. Ich spreche mit dem Jungen und seinen Freunden so klar über »Schwul-« oder »Bi-Sein«, dass erst gar keine falsche Verschämtheit aufkommt. Für den Jungen ist es wichtig, von einem männlichen Gegenüber Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren, damit eine Überzeugung in ihm wachsen kann, dass sein nicht zu verdrängendes »Anderssein« nichts »Aussätziges« hat. Sein Schwulsein mindert in keiner Weise seinen Wert und seine Würde als Mensch.
Nicht in jedem Fall wird das Gefühl des »Ich bin anders« zu einer Hypothek auf das Leben. Viele Menschen genießen gar eine bestimmte Form des »Nicht-wie-die-anderen-Seins«. Sie sind möglicherweise schöner oder erfolgreicher, klüger oder fantasievoller, künstlerisch begabter oder zeichnen sich durch sonst ein besonderes Merkmal aus. Ihre »Besonderheit«, die ungemein zur Stabilität ihres Selbstwertgefühls beizutragen vermag, ist indes verschieden von dem Gefühl, welches Menschen verspüren, die sich »so ganz anders« inmitten ihrer Mitmenschen erleben. Wer allerdings unter allen Umständen etwas »Besonderes« sein möchte, hat daran eine schwere Bürde zu tragen. »Grandios« sein zu wollen oder gar sein zu müssen ist darüber hinaus ein besonders hohes Risiko für Suchtmittelgebrauch.
Zufrieden lebt in aller Regel, wer die angenehmen Seiten des »Normalseins« schätzen gelernt hat. »Normal« zu sein bedeutet nicht, »langweilig« zu sein oder über keine besonderen Fähigkeiten und Stärken zu verfügen. Was für ihn »Normalsein« im positiv verstandenen Sinne heißt, schilderte mir ein therapieerfahrener Kollege und Freund, der in jungen Jahren einige Erfahrungen mit Drogen gesammelt, sich anschließend allerdings wesentlicheren Erfahrungen im Leben zugewandt hatte:
»Ich fühle mich heute eigentlich ›ganz normal‹. Früher hatte ich ein Problem mit der Vorstellung, ›normal‹ zu sein. Ich dachte immer, ich müsste mich irgendwie von anderen sichtbar unterscheiden oder was ganz Besonderes sein. Heute weiß ich, ich fühle mich so normal, weil ich mir erarbeitet habe, mich mit all meinen Stärken und Schwächen anzunehmen. Bestimmte Seiten an mir mag ich besonders. Diejenigen, die ich nicht so gern mag, bekämpfe ich nicht mehr. Ich lächle ihnen sozusagen freundlich zu. Eigentlich bin ich froh, dass sie ebenfalls ein Teil von mir sind. Ich möchte niemand anderes mehr sein. Meistens fühle ich mich mit mir im Reinen. Und wenn ich mal mit mir unzufrieden bin, finde ich heute Mittel und Wege, wie ich wieder ausgeglichen werde. Ich bin im Großen und Ganzen mit mir zufrieden. Und deswegen kann ich mich so normal fühlen. Das ist doch nichts Schlechtes.«
Ich habe kein Gesicht
und bin nur Scheiße …
Einer der niederschmetterndsten Gründe, Rauschmittel zu benutzen, gründet in der eigenen seelischen Vernichtung. Das Vernichtungsgefühl mag durch vereinzelte traumatische Erlebnisse wie durch chronisch anhaltende Missachtung bewirkt worden sein. Nicht selten nimmt es seinen Anfang bereits vor der biologischen Geburt, dann nämlich, wenn ein Kind gänzlich unerwünscht ist. Neueste Ergebnisse der vorgeburtlichen (pränatalen) Forschung belegen eindrücklich, dass ein Fetus im Mutterleib bereits über eine erstaunlich differenzierte Wahrnehmung verfügt. Sein Empfindungsvermögen lässt keine weiteren Zweifel an der Tatsache zu, dass ein Kind zuverlässig spürt, ob es bei den Eltern willkommen ist oder nicht. Säuglinge, die sich unerwünscht fühlen oder gar abgetrieben werden sollten, werden als Kinder und Jugendliche häufig von dem tief eingegrabenen Lebensgefühl begleitet, kein »wirkliches Gesicht« zu besitzen oder nicht lebenswert zu sein. Doch selbst ausgesprochene Wunschkinder können noch ihr »Gesicht verlieren«, wenn sie in ihrer seelischen Existenz Vernichtung erfahren.
In einem Qualifizierungskurs »Jugendliche und Drogen«, der für bereits berufserfahrene Sozialpädagoginnen angeboten wurde, beschrieb eine Teilnehmerin als Abschlussarbeit die bisherige Lebensgeschichte ihres Mannes sowie ihre eigene koabhängige Verstrickung mit ihm. Teile davon gebe ich hier wieder. Sie lassen nachvollziehbar werden, wie das Identitätsgefühl »Ich habe kein Gesicht« auf direktem Weg in fortschreitenden selbstschädigenden Drogengebrauch führt.
Der Mann der Kursteilnehmerin stammt aus einer gutbürgerlichen Familie. Sein Vater war von Beruf Arzt. »Mein Mann war ein Wunschkind und wurde von der Mutter über alles geliebt. Sie war die Bezugsperson. Der Vater spielte in den ersten Lebensjahren keine große Rolle. Die 9 Jahre ältere Schwester betrachtete den Bruder anfangs als Rivalen. Als mein Mann 4 Jahre alt war, starb seine Mutter an den Folgen eines Autounfalls.«
Der Unglücksfahrer war der Vater des 4-jährigen Jungen. Mit schweren Verletzungen lag er selbst mehrere Monate im Krankenhaus. Der Junge wurde während dieser Zeit zunächst von einer Tante und später von wechselnden Kindermädchen betreut. Er verstand nicht, wo seine Mutter abgeblieben war, »denn niemand erwähnte den Tod der Mutter. Erst Monate später teilte seine Schwester ihm mit, dass die Mutter tot sei. Man wollte ihn schonen, sagte man ihm«. Ohne innere Unterstützung und erklärende Gespräche war der Junge mit dem plötzlichen Verlust seiner wichtigsten Bezugsperson völlig alleingelassen worden. Seine Schwester übernahm jetzt teilweise die Mutterrolle. Als er 6 Jahre alt war, heiratete sein Vater eine 23 Jahre jüngere Frau, und man begann, »das mutterlose Kind zu verwöhnen. Er wurde zum Musterschüler und ein jeder liebte und verhätschelte ihn. Mit 9 Jahren bekam er noch eine Halbschwester«. Von diesem Zeitpunkt an und insbesondere in der Pubertät verschlechterte sich die Beziehung zur Stiefmutter drastisch. »Der Vater stellte sich auf die Seite seiner Frau. Es begann der Lebensabschnitt, wo man autoritärer auf meinen Mann einwirken wollte. Mit massivem Druck reagierte man auf Konflikte. Mein Mann begann zuerst Alkohol zu trinken und dann zu kiffen. Er zog sich immer mehr zurück. Seine Schulleistungen wurden zusehends schlechter. Systematisch entmutigte man ihn, keiner hatte Vertrauen, außer die große Schwester. Mit ihr hatte er eine solidarische Beziehung. Es wurde auf seinem Selbstwertgefühl herumgetrampelt. Man hielt ihn für einen Versager, einen Drogierten, einen Homosexuellen, einen, der sich an der jüngsten Schwester vergreifen könnte.« Die ältere Schwester verließ fluchtartig das Elternhaus und der junge Mann fühlte sich erneut verlassen. Die Situation eskalierte, als der Vater ihm vernichtende Schläge versetzte: »Du bist nicht wert, meinen Namen zu tragen«, schrie er ihn wiederholt an. Auch in Details machte er seinem Sohn klar, dass er gar keine Existenzberechtigung mehr für ihn hatte: Der Vater fuhr mit seiner jüngeren Frau bevorzugt doppelsitzige Sportwagen. Dass sein Sohn darin keinen Platz mehr fand, war bezeichnend dafür, dass ihm der Vater in seinem Leben überhaupt keinen Raum mehr gewährte. Der junge Mann zog in »eine kleine, vergitterte Kellerwohnung, ging nicht mehr zur Schule, hatte keinen Kontakt mehr zur Familie. Sein Alltag wurde immer chaotischer. Er begann, regelmäßig zu trinken und zu kiffen, schloss sich einer Drogenclique an, wo er endlich das Gefühl von Dazugehörigkeit und Anerkennung fand, zumal seine Freunde ihn brauchten, weil er durch sein mütterliches Erbteil über Geld verfügte.«
Seine spätere Frau wuchs in einer bäuerlichen Großfamilie auf:
»Meine Großmutter war eine geizige, gefühlskalte Person, die ständig an mir herumnörgelte. Nach dem Tod des Großvaters übernahm mein Vater die Rolle des Oberhaupts in der Familie. Er entschied. Jedoch über Gefühle oder Probleme wollte und konnte er nicht sprechen. Er flüchtete in die Arbeit oder reagierte besserwissend, abschätzig und autoritär. Nie bekam ich Anerkennung von ihm, was ich auch tat. Meine Mutter lebte zurückhaltend und angepasst. Das Verständnis und die Liebe, welche sie nicht bei ihrem Mann fand, suchte sie bei uns Kindern. Ein besonders gutes Verhältnis hatte sie zu meinem jüngsten Bruder. Oft war ich gekränkt und fühlte mich selbst nicht geliebt. Rebellierte ich, wollte ich über meine Probleme und Wünsche reden, sagte mir meine Mutter nur: ›Sei nicht so, das macht mich krank.‹ Ich musste eine pflegebedürftige Großtante pflegen, mit der ich während der ganzen Kindheit ein Zimmer teilte. Nicht einmal ein Kinderbuch befand sich in diesem Zimmer. Eigentlich wollte ich immer einen kreativen Beruf erlernen. Hierbei wurde ich jedoch total entmutigt. Mit 15 Jahren fand ich eine Arbeitsstelle. Mit 15 wurde ich auch sexuell missbraucht. Ich blieb damit allein, fühlte mich einsam, klebte dauernd an meiner Mutter.«
Im Alter von 20 Jahren kündigte die junge Frau ihre Arbeitsstelle und beschloss, Sozialarbeiterin zu werden:
»Ich wollte anders auf die Probleme und Konflikte von Jugendlichen eingehen, anders als dies der Fall bei mir selbst war. Ich suchte einen neuen Freundeskreis, begann Haschisch zu rauchen und holte irgendwie meine Pubertät nach. Ich zog in eine Wohngemeinschaft, hatte aber immer Kontakt zu meiner Mutter. Ihr gegenüber fühlte ich mich in der Zwischenzeit für ihr Wohlergehen verantwortlich. Ich glaube, ich nahm nun die Rolle des Vaters ein und begann sie zu verwöhnen.«
Zur gleichen Zeit lernte die junge Frau ihren späteren Mann kennen. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, obwohl sie schnell erkannte, dass in seiner Wohngemeinschaft Alkohol, Haschisch und härtere Drogen »in unerhörten Massen« konsumiert wurden. Mit dem neuen Partner »lernte ich zum ersten Mal, mich zu entspannen«. Doch in die Phase der Entspannung platzt eine Hiobsbotschaft für die junge Frau: Der ihr vom Arzt eröffnete Gesundheitszustand der Mutter »war ein grausamer Schock für mich. Dieser angekündigte Verlust durch Krebs machte mir panische Angst. Bisher hatte mir jeder in der Familie die Krankheit verschwiegen. Nun logen wir die Mutter über Monate an und ließen sie alleine. Kurz bevor sie starb, bat sie mich: ›Sorge für den Vater, wenn ich tot bin.‹ Dieses Versprechen konnte ich ihr nicht geben. Ich habe ihr gesagt, dass es für mich unmöglich sei«.
Die Mutter wollte von ihrer Tochter ein unmögliches Versprechen. Sie gab ihr damit eine Hypothek auf deren zukünftiges Leben mit, denn seither fühlte sich die Tochter in Schuld gebunden. Nach dem Tod der Mutter lebte sie mit ihrem Partner, der zwischen ihr und seiner Clique hin- und herpendelte.
»Ich glaubte immer, dass die Liebe die Rettung sei bei einer Sucht. Eigentlich war ich so unwissend und hatte keine Ahnung, was Sucht bedeutet. Ich glaubte, es sei ein Suchen nach Geborgenheit, Suchen nach einem verlorenen Glück, ein Suchen nach einer unbekümmerten Kindheitserinnerung. Aber Sucht war: heftige Streitereien, Unfälle, Schlägereien, Selbstmordversuche, neue Arbeitsplätze. Sucht war Angst, Depressionen, Aggressionen, Vorwürfe, Schuldgefühle, Verzweiflung. Zu Alkohol und Haschisch kamen noch andere neue Drogen hinzu. Oft fühlte ich mich alleingelassen, EINSAM …! Ich glaube, aus diesem Gefühl heraus verstrickte ich mich immer tiefer in eine symbiotische Beziehung zu meinem Partner. Ich konnte mich nicht lösen. Immer wieder versuchte ich, ihn zu ermutigen, zu unterstützen, zu verstehen. Jahrelang glaubte ich, schuld an seinem krankhaften Suchtverhalten zu sein. Ich empfand die Krankheit als ein emotionales Chaos auf der ganzen Ebene, mir war es, als würde ich eine Karussellfahrt mit dem Teufel ›Sucht‹ machen. Ein zwanghafter, sich immer wiederholender Schmerz. Irgendwann in diesen Jahren brach mein Partner total zusammen und war endlich bereit, einen körperlichen Entzug und eine Therapie zu machen. Beide waren wir befreit und glücklich.«
Nach der Therapie war ihr Partner gestärkt mit Selbstvertrauen. Es folgte eine Zeit jahrelanger Abstinenz von Drogen und Alkohol, während derer er Erfolgserlebnisse in der Arbeit verbuchte und seinen Humor wiederfand. Das Paar pflegte regelmäßig soziale Kontakte. Der Mann »fand Freude am Motorradfahren, am Schachbrett, an der Musik«. Leider folgte dann »eine Phase, wo es für meinen Partner von Bedeutung war, zu testen, ob er ein normales Verhalten zum Alkoholtrinken haben könnte. In verträglichen Maßen nahm er nun Alkohol zu sich. Anfangs klappte es wunderbar«.
Während der stabilen Jahre heiratete das Paar. Die aktuelle Lebenssituation bereitet beiden jedoch große Sorge. Seit mehreren Jahren arbeitet der Mann in einer gesicherten Position in der öffentlichen Verwaltung. Die Institution verschafft ihm viel inneren Halt. Doch »das, was bleibt, ist dieses mulmige Gefühl im Bauch«. Im Hinblick auf seine familiäre Geschichte spricht der Mann »vom ›Geisterschiff‹, welches sich sporadisch in seine Gefühlswelt drängt. Er hat die Familie immer noch nicht losgelassen, obwohl er immer seltener von ihnen redet. Er verdrängt und steckt vieles weg«. Die Frau nimmt für sich in Anspruch, sich das notwendige Maß an Loslösung von ihrer Familie erarbeitet zu haben. Sie hat eine berufliche Pause eingelegt, lebt vom Geld ihres Mannes. Mit berechtigtem Argwohn nimmt sie zur Kenntnis, dass jener in immer kürzeren Abständen wieder größer werdende Mengen Alkohol zu sich nimmt. Beide spüren die Krise.
»Wir meiden den Kontakt zur Außenwelt mit ihren Genussmitteln. Auf der einen Seite ist unser Zuhause wie eine Insel der Geborgenheit, auf der anderen Seite ist die Insel auch einengend. Aus diesem Grund hat mein Mann zeitweilig das Bedürfnis, das Haus zu verlassen. Wenn er dies tut, dann mit schlechtem Gewissen, da er mich alleingelassen hat. Um seine Schuldgefühle zu unterdrücken und um sich überhaupt zu entspannen, sucht er Entlastung im Rausch, um somit wieder ein seelisches Gleichgewicht herzustellen.
Am nächsten Tag: Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Mangel an Selbstvertrauen – Angst vor Kontrollverlust. Sein Wunsch nach Genesung ist aktuell ganz akut. Jedoch aktive Änderungen kann ich keine direkt sehen. Seit Längerem ist mir klar, dass ich nicht schuld bin an der kranken Seele meines Mannes. Seither kann ich ihn mehr loslassen. Ich mache ihn nicht mehr verantwortlich für mein eigenes Unglücklichsein, lasse ihn gehen, ohne ihn mit Schuldgefühlen zu beladen. Es ist mir bewusst, dass ich sein Problem nicht lösen kann, sondern dass er den Mut aufbringen muss, wieder verantwortlich für sich zu agieren und sich Hilfe zu suchen. Ich versuche für meinen Teil, mehr auf meine Wünsche einzugehen, nicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung krank zu werden. Dies ist jedoch ein schwieriges Unternehmen, da man unerhört konsequent reagieren muss. Es erfordert viel Ausdauer und Geduld. Die Gefahr ist, dass man sich schnell wieder in den alten Verhaltensmustern wiederfindet. Drückt der Partner eine bestimmte Taste, dann läuft ein bestimmtes Programm. Immer wieder das alte Programm löschen und sich das Neue bei sich vor Augen halten.
Eigentlich müsste ich diese neue Krise als Chance betrachten, die mir und meinem Mann den Weg in die Erwachsenenwelt zeigt, wo wir beide in Würde unser Gesicht tragen können und unabhängig, eigenständig, ein jeder für sich und trotzdem zusammen leben können.«
Als unmittelbar sichtbare Konsequenz für sich selbst sowie als kleines Signal an ihren Mann hat seine Frau eine ihrer eigenen selbstschädigenden Verhaltensweisen aufgegeben: Sie ist entschlossen, ihre Abhängigkeit von Nikotin zu besiegen. Das Paar hat eine realistische Chance. Zum einen haben sie zusammen schon manche Krise gemeinsam durchgestanden, zum anderen ist dem Mann seine Gefährdung mehr als bewusst und er sucht nach Auswegen aus dem drohenden Absturz. Beide wissen, dass sie jederzeit auf ein Hilfsangebot zurückgreifen können, falls sie es allein nicht schaffen.
Fast an der Tagesordnung in unserer Gesellschaft, in der viele Menschen einem Klischee von Männlichkeit oder Weiblichkeit aufsitzen, ohne sich mit gefestigter Geschlechtsidentität wohlzufühlen in ihrer Haut, ist die Tatsache, dass vorwiegend junge Frauen ein Selbstempfinden äußern, das erschrecken mag: »Ich bin total hässlich. Ich bin scheiße, mein Gesicht ist total scheiße.« Erst jüngst hörte ich genau diese Worte aus dem Mund einer 15-jährigen Schülerin, die mit ihrer besten Freundin zu mir in die offene Sprechstunde kam. Die Freundin ist ernsthaft besorgt, dass sich die 15-Jährige etwas antut, weil sie sich selbst so überhaupt nicht leiden mag. Diese schildert eine noch diffuse Erinnerung an ein traumatisierendes Erlebnis im Alter von 8 Jahren, mit dem sie völlig allein blieb. Ihr gesamtes Körperempfinden ist verändert. Sie empfindet sich als fett und abstoßend. In der Realität ist sie allerdings eine junge Frau mit völlig normaler Figur und einem ausgesprochen schönen Gesicht. Ihre Selbstwahrnehmung »Mein Gesicht ist scheiße« ist ihr aber nicht einfach auszureden. In ihrem Inneren sieht es düster aus. Sie fühlt sich in keiner Weise liebenswert. Um ihre Nöte besser zu ertragen, raucht sie Haschisch und Gras. Mit der Brechung ihres jahrelangen Schweigens hat sie den ersten Schritt zu einer persönlichen Veränderung eingeleitet.
Die junge Frau ist mit ihrem negativen Selbstempfinden und dem sekundären Cannabisgebrauch beileibe kein Einzelfall. Die Anzahl der jungen Mädchen und Frauen, die sich selbst runtermachen: »Ich bin voll hässlich«, »Meine Oberschenkel sind viel zu fett«, »Ich sehe zum Kotzen aus«, oder: »Mein Gesicht ist scheiße«, gehen in die Legionen. Alle, welche mit solchen Symptomen eines verschobenen, aus den Fugen geratenen Selbstempfindens vertraut sind, wissen, wie hartnäckig es sich lange Zeit einer Veränderung zum Positiven widersetzen mag. Da braucht es Einfühlungsvermögen, Wertschätzung, Bestätigung, Wohlwollen, Geduld und Beharrlichkeit.
Ich darf nicht lebendig sein …
Viel zu viele Menschen zahlen mit ihrer eingeschränkten Lebendigkeit einen hohen inneren Preis für Beziehungserfahrungen, die sie zu übergroßen Anpassungsleistungen veranlasst haben:
Eine 34 Jahre alte Frau wandte sich wegen eines Therapieplatzes an mich. Es handelte sich um eine jener selteneren Klientinnen, die sowohl nach objektiver wie subjektiver Einschätzung von Cannabis abhängig sind. Die Klientin hatte in der Vergangenheit bereits mehrere Therapien absolviert, kam aber trotz Fortschritten nicht über den entscheidenden Berg. Sie fraß regelrecht Bücher über Drogen, Sucht und Therapiemöglichkeiten in sich hinein. Nach der Lektüre meines Buches »Der rote Faden in der Sucht«, das ihr »vernünftig und klug« erschien, entschloss sie sich mit erheblichem innerem Aufruhr zu einem weiteren Therapieversuch. Ihre Geschichte liest sich wie ein leidvoller Entwicklungsroman.
Ihr Stillhalten im Leben begann bereits vor der Geburt. Ihre Mutter litt während der ersten drei Monate der Schwangerschaft unter schweren Depressionen und Schuldgefühlen. Unwillkürliche Blutungen im 3. Monat waren womöglich der unbewusste Versuch, ihr Kind auszutreiben. Nach der Geburt der Tochter verfiel sie in eine Wochenbettdepression. Sie stillte ihr Kind nicht. Obendrein hatte die Mutter vom Jahr der Geburt ihrer Tochter an über 15 Jahre hinweg schwere Alkoholprobleme.
Ihre Tochter beeilte sich mit dem Großwerden, indem sie die gespürten Erwartungen ihrer Eltern an sie vorwegnahm. Die Beziehung zur Mutter war von unvorhersehbarer Inkonsequenz geprägt. Einerseits bemühte sich die Mutter um ihre Tochter, sodass es Zeiten einer sehr engen Bindung mit viel körperlicher Nähe gab. Dann wiederum war die Mutter für ihre Tochter überhaupt nicht zu erreichen, weshalb sich das Mädchen sehr intensiv auf sich selbst konzentrierte. Seine frühe Überforderung zeigte sich in gelegentlichem nächtlichem »Weinen von unten«, also in Einnässen. Anfangs war das kleine Mädchen noch ein sehr aktives, neugieriges Kind. Zu lebhaft für seine Eltern, die ihre Tochter des Öfteren in einem Babyschlafsack im Bett festbanden, damit sie ruhig gestellt war. In dieser frühen Körpererinnerung gründet vermutlich die zwar aufrechte, aber sehr versteift und ruhig gestellt wirkende Körperhaltung der 34-Jährigen.
Über ihre Beziehung zum Vater schreibt die Klientin:
»Welche Beziehung? Der Vater war abwesend, selbst wenn er zu Hause war. Jemand, den man nicht stören durfte und mit dem man über die Mutter kommunizierte. Mischte sich nur in die Erziehung ein, wenn es ›wichtige‹ Entscheidungen zu treffen oder ein Machtwort zu sprechen galt. War für mich lange ein völlig fremder Mensch und eine ideale Projektionsfläche. In meiner Fantasie ein Verbündeter, der nur gerade keine Zeit hatte, sich mit mir zu beschäftigen. Falls er sich tatsächlich mal mit uns beschäftigte, war er sehr ungeduldig.«
Die Tochter fühlte sich von ihrem Vater nicht wahrgenommen. Sehr lebhaft führen detaillierte Erinnerungen in ihrem Gedächtnis ein Eigenleben. Mit 9 Jahren schenkte sie dem Vater zu dessen Geburtstag einen Gutschein für einen langen Spaziergang mit seiner Tochter, womit sie ihren sehnsuchtsvollen Wunsch nach innigerer Verbindung zu ihm ausdrückte. Der Vater hat den Gutschein nie eingelöst. Er hat vermutlich bis heute nicht die leiseste Ahnung, was seine Missachtung für das damals 9-jährige Mädchen bedeutete und wie das lang zurückliegende Erlebnis die erwachsene Frau bis in die Gegenwart bewegt.
Das Familienklima schildert die Klientin als »immer sehr gespannt und bedrückend«.
»Offiziell gab es keine Konflikte. Es konnte – theoretisch – über alles geredet werden und es wurde – theoretisch – für alles Verständnis aufgebracht. Meine Mutter war – theoretisch – immer für mich da. Die Praxis sah anders aus. Konflikte wurden nicht ausgetragen. Sie haben sich in subtilen Spannungen manifestiert, denen man nur durch Flucht entkommen konnte (meine Mutter durch Trinken, mein Vater durch Weggehen, meine Schwester durch Essen und später gewohnheitsmäßiges Trinken, ich durch Flucht in Fantasiewelten und später in Drogenkonsum). Verständnis wurde nur für das aufgebracht, was meine Mutter für richtig hielt. Verbale und emotionale Botschaften standen oft in krassem Gegensatz. Das Angebot ›Wir können über alles reden‹ bedeutete eigentlich ›Du musst mir alles erzählen und darfst mir nichts verheimlichen‹. Anerkennung gab’s fürs Bravsein.«
Ihr braves Stillhalten hält die erwachsene Frau über lange Jahre hinweg in Bann. Es kostet sie die eigene Lebendigkeit und Lebensfreude.
Niemand in der Familie und Verwandtschaft bemerkt etwas von den inneren Nöten des heranwachsenden Mädchens. Es gilt als »braves und vernünftiges Kind«, obgleich es zahlreiche Signale aussendet, die von einer einfühlsameren Umgebung hätten verstanden werden können. Das Mädchen entwickelt wechselnde psychosomatische Beschwerden, von Migräne bis hin zu Auffälligkeiten im Essverhalten. Zwischen 6 und 11 Jahren besteht es darauf, ein Junge zu sein und mit dem männlichen Vornamen angesprochen zu werden, den die Mutter einem von ihr heiß ersehnten Sohn gegeben hätte. Als »Junge« erhofft sich das Mädchen zum einen mehr Nähe zur Mutter und zum anderen mehr Anerkennung vom Vater. Als es 13 Jahre alt ist, trinkt es zum ersten Mal Alkohol, um mit »den Großen« und der 5 Jahre älteren Schwester mithalten zu können. Als 14-Jährige raucht sie Zigaretten, mit 15 Jahren kifft sie. In der zehnten Klasse sitzt sie völlig bekifft im Unterricht, und in der Elften erzählt sie von sich aus ihren Eltern, dass sie Marihuana raucht. Mutter und Vater sprechen daraufhin sogar mit dem Drogenberatungslehrer der Schule, doch es erfolgt keine einschneidende Intervention. Das Mädchen kapselt sich in der Familie völlig ab. Im Therapiebuch fördert die Klientin ihre Erinnerungen zutage:
»Ich erlebe extreme Selbstisolation, Selbstverstümmelung, Autoaggression, Selbstmordgedanken, Einsamkeitsgefühle, Drogenkonsum, Depressionen. Manchmal rede ich tagelang nicht, weder zu Hause noch in der Schule. Es scheint keinem aufzufallen. Ich bin sehr unsicher und finde mich selbst völlig unerträglich und abgrundtief hässlich. Das Einzige, was mir an mir selbst gefällt, sind meine Augen.«
Die Augen der Klientin sind in der Tat ein für die Verständigung mit ihr bedeutsamer Kanal. Sie funktionieren wegweisend als Spiegel ihrer Seele. In unserer gemeinsamen Arbeit lasse ich mich im Zweifelsfall mehr davon leiten, was die Augen der Klientin ausdrücken, als von ihren sprachlichen Äußerungen. Die Augen der Klientin sind lebendig. In ihnen wird sichtbar, dass an gut behüteten Orten viel Eigenleben in der Klientin unzerstört überlebt hat. Dieses gilt es zu bestärken, um damit das tragende innere Gerüst zu errichten, an dem es ihr im Gegensatz zu ihrer betont aufrechten äußeren Haltung innerlich mangelt.
Als Mädchen wie junge Frau gerät die Klientin wiederholt in bedrohliche Situationen, darunter Missbrauch und versuchte Vergewaltigung. In der Folge wird sie von lang anhaltenden Angstzuständen heimgesucht. Zeitweilig reagiert sie mit Depersonalisationserscheinungen: »Bis 23 Jahre fühle ich mich oft unsichtbar.«
Bei ersten Kontakten zum anderen Geschlecht verliebt sie sich in »Jungs, die ganz sicher unerreichbar sind«, so unerreichbar wie ihr Vater. Spätere längere Beziehungen zu Partnern verlaufen alle nach dem gleichen Muster:
»Nach etwa 6 Monaten gebe ich die Verantwortung für mich selbst ab und übertrage sie dem anderen. Ich passe mich völlig an und bin nicht fähig, mich abzugrenzen und meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Drogen spielen immer eine Rolle. Ich bin immer diejenige, die sich trennt.«
Eine Woche vor Abschluss ihres ungeliebten Studiums, das sie gleichfalls in Anpassung an Dritte aufnahm, die glaubten, zu wissen, was gut für sie wäre, unternimmt die Klientin einen Selbstmordversuch. Ein Jahr später beginnt sie eine Ausbildung in einem Beruf, den sie sich selbst aussucht. Aktuell arbeitet sie in einer gesicherten Position einer besonderen Sparte des öffentlichen Dienstes, die einerseits Raum für Kreativität und Eigeninitiative lässt, andererseits große Zuverlässigkeit erfordert.
Seit 20 Jahren spielen Alkohol und vor allem Marihuana im Leben der Klientin eine übergeordnete Rolle. In wechselnden Abständen zwar, aber mit aufrüttelnder und ungebrochener Beharrlichkeit, fordern die noch aktiven Selbstheilungskräfte der Frau sie immer wieder auf, ihr Leben neu auszurichten. So geschehen auch, bevor sie den Weg zu mir in die Therapie fand.
Beim ersten Termin saß eine nahezu unbewegliche, einsame und passive Frau vor mir, die sich vom Leben bedroht fühlte. Über zwei Jahrzehnte hinweg benutzte sie Marihuana, um durch ihr Leben zu finden. Die Droge war der Puffer zwischen sich selbst und allem »Äußeren, das ich als bedrohlich empfand«. Außerdem legten sich die Wirkungen des Mittels ihrer Wahl wie ein besänftigender Film über gewaltige in ihr brodelnde Aggressionen. Bereits beim zweiten Gespräch forderte ich die Klientin auf, sich ein Datum zu setzen, an dem sie mit dem Kiffen aufhören wollte, weil abzusehen war, dass die Arbeit sonst wenig Sinn machen würde. Der Marihuanaschleier über ihrem Leben musste gelüftet werden. Ich griff zu einer mehr oder weniger »paradoxen Intervention«. Da ich wusste, wie sehr sie sich in allen wichtigen Beziehungen an ihre Partner angepasst hatte, erklärte ich ihr: »Sie haben sich bisher nach Ihren Partnern gerichtet. Haben die getrunken, haben Sie mitgetrunken. Haben die Marihuana geraucht, rauchten Sie ebenfalls Marihuana. Wenn das so gut funktioniert, dann können Sie das jetzt nutzen und sich wieder anpassen. Wir werden zwar nur eine therapeutische Beziehung haben, aber ich kiffe nicht. Sie können sich nach mir richten und aufhören zu kiffen. Setzen Sie sich ein Datum, bis zu welchem Sie das bewerkstelligt haben möchten.« Die Klientin blickte mich aufmerksam an, dann lächelte sie und versprach, darüber nachzudenken. Ich war mir sicher, dass die Intervention vorübergehende Wirkung zeigen würde, gab mich aber nicht der Illusion hin, dass sie auf Dauer den Rückfall verhindern würde.
Beim dritten Gespräch erzählte die Klientin sogleich, dass sie »in vorauseilendem Gehorsam« bereits einen Tag nach dem vorangegangenen Termin nicht nur mit dem Marihuana-, sondern gleichzeitig auch mit dem Zigarettenrauchen aufgehört habe. Sie habe ihre Vorräte an »Gras« nicht einmal mehr aufgeraucht, sondern vernichtet und eine weitere Bestellung rückgängig gemacht. Ihre Mitbewohner seien sehr stolz auf sie. Die Klientin ist der lebende Beweis für die Tatsache, dass selbst stark cannabisabhängige Personen ihr Kiffen von heute auf morgen einzustellen vermögen, wenn sie über eine ausreichende Motivation verfügen. Eigentlich brauchte ich mich mit meiner Klientin gar nicht ausdrücklich über meinen »Trick« zu verständigen. Therapieerfahren, wie sie war, hatte sie bereits verstanden, welches »Spiel wir spielten«. Dennoch sprach ich es aus: »Ich glaube, wir wissen beide, dass wir hier so etwas wie ein Spiel spielen. Wenn Sie sich mir anpassen und aufhören zu kiffen, ist das eigentlich nur mehr desselben, also eine Fortsetzung dessen, was sie gut kennen. Sie wissen außerdem gut, was Übertragung bedeutet und wie sie funktioniert. Wenn Sie in vorauseilendem Gehorsam mir zuliebe aufhören können zu kiffen, ist mir das erst einmal recht. Aber ich weiß, dass Sie wissen, dass das im Moment nur ein Grund ist, mit dem Sie selbst gut leben können. Sie haben weit bessere Gründe, die Sie allerdings im Moment noch gar nicht gelten lassen können, weil Sie es sich selbst nicht wert sind.«
Dass ihre Mitbewohner zu der Zeit auf die Klientin stolz waren, konnte sie gerade noch akzeptieren. Würdigende Bestätigung von mir nahm sie nur »verschämt« entgegen. Eigene Zufriedenheit oder so etwas wie geheimen Stolz auf den zu würdigenden Eigenanteil bei ihrer beachtlichen Leistung durfte sie sich noch nicht gönnen. Es fiel der Klientin in den folgenden Wochen häufig schwer, nicht in altes Konsumverhalten zurückzufallen, zumal der fehlende Puffer Marihuana sie mit Gefühlen in Kontakt brachte, mit denen umzugehen sie erst neu lernen musste. Sie somatisierte vorübergehend verstärkt, bekam nachts Lähmungserscheinungen, regredierte. Erste Blockaden lösten sich im wieder einsetzenden Tränenfluss. Zum ersten Mal bedauerte sie die Trennung von ihrem letzten Lebensgefährten. Das Alleinsein fiel ihr schwer. Sie geriet unter wachsenden Stress. Früher hatte sie ihre Anspannung stets mit Marihuana gemildert. Nun fehlten ihr verfügbare alternative Möglichkeiten zum Entspannen und Abschalten. Wir deckten verschüttete Eigenstrategien wieder auf und entwickelten neue Strategien für einen achtsamen, selbstfürsorglichen Umgang mit sich. Wenn sie dafür auf die vorübergehende Unterstützung Dritter zurückgreifen sollte, fiel ihr das unendlich schwer. Sie vermochte niemanden um Hilfe zu bitten, weil sie sich nichts wert fühlte. Umgekehrt war sie aber ständig für andere Personen da. Daraus bezog sie so etwas wie Daseinsberechtigung.
Die Klientin verspürte überaus deutlich den Erlebensunterschied zwischen ihrem »bekifften Vorher« und ihren unvertrauten Gefühlszuständen im »Hier und Jetzt mit klarem Kopf«. Vereinzelt entdeckte sie Glücksinseln im Alltag. Sie wirkte geklärter, offener, weniger verkniffen im Gesicht. Körperliche Symptome besserten sich oder verschwanden ganz. Schritt für Schritt ging sie mutiger in Konflikte hinein und schreckte nicht mehr ganz so vor aggressiven Empfindungen zurück. Ich verstand ihre Aggressionen zum einen als berechtigten Zorn, der wieder sein Ziel finden musste, um dorthin zu gelangen, wo er ursprünglich erzeugt wurde. Zum anderen machten sich in der Aggression vitale Lebenskräfte bemerkbar. In der Klientin schlummerte gewaltiger, ungestillter Lebenshunger.
In ihren Beziehungen veränderten sich langsam die Maßstäbe. Bisher war in ihrem Leben alles entweder »schwarz« oder »weiß«. Zwischen dem »Entweder-oder« führten die farbigen Zwischentöne nur eine verkümmerte Existenz. Die Klientin verspürte wachsende Lust, sich den Raum zwischen den extremen Polen anzueignen. Das beinhaltete, dass sie ihren Mitmenschen wie sich selbst mehr »Realität« zugestand. Menschen müssen auch mal »enttäuschend« sein dürfen, um real zu sein. Im Umkehrschluss bedeutet das zugleich Entlastung für sie, da sie selbst nicht unablässig brav und perfekt sein muss. In der Hinsicht war allerdings die »Leiter noch zu hoch« für sie. Sie vermochte nur zögerlich wenige Sprossen herunterzuklettern. Die perfektionistischen Ansprüche an sich selbst wollten behutsam gemildert werden. Zu machtvoll waren die sie bindenden inneren Elternstimmen. Traf sie zu dem Zeitpunkt real auf ihre Eltern, kam ihr der Ekel hoch und sie erstarrte. Sie hatte das Gefühl, ihre Mutter würde ihr am liebsten »die Schädeldecke abheben, um in meinen Kopf hineinsehen zu können«.
In ihrem Beruf erlebte die Klientin eine neue Art von Kompetenz. Neben viel Stress empfand sie phasenweise ungewohnten Spaß an der Arbeit, weil ihr Empfindungsvermögen nicht mehr fortwährend durch Marihuananebel eingelullt war. Brachen in unserer gemeinsamen Arbeit alte, unverheilte Wunden auf, wurde jedes Mal ein Schwall von Trauer spürbar. Dazwischen drängten sich in schnellem Wechsel Elemente von »Es geht mir gut«. Als ich der Klientin das zum ersten Mal spiegelte, bestätigte sie meinen Eindruck, vermochte ihre Empfindungen aber noch keinem bekannten inneren Ort zuzuordnen, da ihr die positiven Erlebnisräume bislang viel zu wenig vertraut waren.
Von ihrer Übertragungsmotivation, ihr Kiffen einzustellen, hatte sich die Klientin in ihrer Eigenbewegung bereits entfernt. Zum einen formulierte sie, dass es mich als Therapeuten »richtig« und nicht bloß als Übertragungsfläche gebe. Ich bot ihr mit Absicht viel Gelegenheit, mich als realen anderen zu erleben. Zum Zweiten hatte sie ein Stadium erreicht, wo sie »die guten Gründe, um mit dem Kiffen aufzuhören«, in sich selber suchen und finden mochte. Einer der Gründe, den sie mit widerstrebenden, aber nicht mehr gänzlich selbstablehnenden Gefühlen entdeckte, ist derjenige, dass es an ihr als Person »tolle Seiten« gibt. Die Arbeit an ihrem Selbstwertgefühl begann erste Früchte zu tragen, es nahm aber noch geraume Zeit in Anspruch, bis sie sich mitfühlend annehmen und zu sich selbst sagen konnte: »Ich bin ein Mensch mit eigenem Wert.«
Der Weg, den die Klientin ging, war phasenweise heftig für sie. So anstrengend, dass sie in einer Situation, als viele Belastungsfaktoren gleichzeitig auf sie einstürzten, ihren ersten »Rückfall« baute. Er musste kommen. Die als Fortschritt zu wertende Botschaft darin lautete: »Ich bin nicht länger nur das brave, angepasste Mädchen.« Der problematische Teil des Rückfalls verdeutlichte im Veränderungsprozess die Belastungsgrenzen der Klientin. In Momenten, in denen alles über ihr zusammenstürzte, erlebte sie sich nur noch ausgefüllt von überwältigender »Angst, zu sterben. Da kann niemand mich erreichen«. Und so half ihr nur der rettende Rückgriff auf das altvertraute Kiffen: »Das macht alles weich. Im Kiffen fühle ich mich sicher. Da weiß ich genau, was ich wie zu tun habe.« Die Vernichtungsängste sind gemildert, die Welt ist wieder weichgespült. Die bereits von der Klientin erreichten Veränderungen wurden durch insgesamt zwei Rückfälle jedoch nicht zunichtegemacht. Sie entfalteten weiterhin beharrlich ihre Wirkungen. Nachdem beide Rückfälle als »Vorfälle« bearbeitet waren und die Klientin sich mit dem mobilisierten kraftvollen Trotz nicht mehr selbst blockierte, konnte sie ihre inneren Antriebskräfte in produktive Wandlungsenergie ummünzen, mit der sie auch weitere Krisen überstand.
Es brauchte weitere Zeit, bis die Klientin sich ihren größten Ängsten zu stellen traute, ohne Zuflucht bei den vertrauten Wirkungen von Marihuana zu suchen. Ebenso dauerte es, ihr Gefühl für die eigenen Grenzen fest zu etablieren. Die zuverlässigen Unterscheidungen »Wo fange ich an, wo höre ich auf? Was will ich, was will ich nicht?« vermochte sie am nachhaltigsten durch stimmige körpertherapeutische Interventionen in sich aufzunehmen. Da die Klientin durch übergriffige Berührungen tiefe Verletzungen erfahren hatte, kamen lange Zeit ausschließlich Methoden zum Einsatz, die sie allein anwenden konnte. Es half der Klientin sehr, sich mit ihren eigenen Händen zu »begreifen«: »Wenn ich etwas mit meinen Händen mache, gerate ich nicht in eine so diffuse Traurigkeit. Das Gefühl taucht nicht auf, dass ich gar nicht mehr da bin.« Die Erfahrung, sich selbst sichernden Halt geben zu können und die eigenen seelischen wie körperlichen Grenzen in den inneren Empfindungsraum hineinzunehmen, bestärkte ihr Wachstum. An die Stelle von Selbstaufgabe durch grenzenlose Anpassung an andere trat die Fähigkeit zu angemessener Abgrenzung.
Mit meiner Frage, ob ihre damalige Wohnsituation tatsächlich noch ihren Bedürfnissen entspreche, setzte ich ihr »einen Floh ins Ohr«, der ihre wachsende Lust auf eigene innere wie äußere Räume und weitere Verselbstständigung traf. Sie reagierte mit zwei Schritten: Zuerst gönnte sie sich ein zusätzliches Zimmer in ihrer Wohngemeinschaft, um kurz darauf nach vielen Jahren mit wechselnden Mitbewohnern in dieser Gemeinschaft den Versuch zu wagen, alleine zu leben.
Nach diesem richtungsweisenden Schritt eroberte sich die Klientin im Lauf unserer gemeinsamen Arbeit konsequent wieder das »Geburtsrecht« auf ihre eigene Lebendigkeit zurück. Es kam der schöne Augenblick, in dem sie zum ersten Mal im Gefühl tiefster innerer Überzeugung wieder den Satz aussprechen konnte: »Es darf mir gut gehen.« Damit brach sie endgültig das machtvolle Verdikt, das ihrer Lebensgeschichte die Überschrift gab. Danach war Cannabis für sie bloß noch ein Kapitel in ihrer Erinnerung, aber keine Versuchung mehr. Es folgten als nächste Schritte eine tiefe innere Versöhnung mit ihrer Geschichte und eine äußere Versöhnung mit ihren realen Eltern, sodass sie Monate später auch den Tod ihrer Mutter gut zu bewältigen wusste.
Mit Unterbrechungen erstreckt sich mein Kontakt zu der Klientin jetzt schon über viele Jahre. Doch unsere therapeutische Beziehung ist seit vier Jahren erfolgreich abgeschlossen. Gegen deren Ende erklärte sie: »Ich habe jetzt Lust darauf, erwachsen sein zu wollen, aber in einem für mich guten Sinne.« Heute treffe ich die sich erwachsen zeigende Frau bloß noch anlässlich besonderer Fortbildungen, die sie sich gönnt.